Assassin's Breed

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Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

14.

Das Essen hatte ihn in seinem Entschluss bestärkt. Während der ganzen Mahlzeit hatte seine Mutter ihn genervt, mit ständigen Vorwürfen, vermeintlich gut gemeinten Ratschlägen und blödsinnigen Appellen an seine Vernunft. Ja, früher mag es anders gewesen sein, aber da gab es die heutigen Möglichkeiten ja noch nicht. Da musste man ständig beieinander hocken oder miteinander telefonieren. Dass man heute nicht zwangsläufig vereinsamte, wenn man nicht ständig miteinander quatschte, das bekam seine Mutter nicht in ihren Schädel. Dazu fehlte es ihr an Verstand und Verständnis. Im Gegenteil, er war bereits seit langem Mitglied einer großen Gemeinschaft. Auch wenn er seine Brüder nicht persönlich kannte, ihre Namen nicht wusste, war er doch mit ihnen verbunden, enger als mit dem, was seine Mutter ständig als Familie bezeichnete. Denn was waren sie schon? Seine sich im Haushalt langweilende Mutter, die ihm ständig auf die Nerven ging. Sein meist abwesender Vater, der, wenn er nicht gerade am Steuerknüppel eines Flugzeuges saß, irgendwo in der Weltgeschichte auf seinen nächsten Flug wartete. Oder sein schwachsinniger kleiner Bruder Thomas, der ständig vor dem Fernseher hockte und sich Zeichentrickfilme reinzog und dessen größter Spaß darin bestand zuzusehen, wie ihre Mutter ihm, seinem größeren Bruder, das Leben zur Hölle machte. Aber schon bald würde er selbst zum Mitgestalter der Hölle werden.

Neugierig, der Teller war noch nicht einmal halb leer, verzog er sich, die Drohungen und Beschimpfungen seiner Mutter einfach ignorierend, in sein Zimmer. Hatte er schon eine Antwort oder sogar einen Auftrag? Schon bevor er sich überhaupt hinsetzte, hatte er stehend über die Tastatur gebeugt, den Rechner entsperrt und die Webseite, über die er seine Bereitschaft erklärt hatte, wieder aufgerufen und nach einer Antwort geschaut. Und tatsächlich. Es gab eine Antwort. Aber noch keinen Auftrag. Jedenfalls keinen Auftrag, wie er ihn sich vorgestellt, wie er ihn sich gewünscht hatte. Stattdessen forderte der Meister ihn auf, ihm Informationen über ihn zu geben. Namen, Geburtsdatum, Namen von Familienmitgliedern und Freunden bzw. Schulkameraden, Schulnoten, eine Aufzählung der Orte, an denen er bereits gewesen war. Und aktuelle Fotos, von sich und anderen Familienmitgliedern wollte er auch noch. Wozu der Meister all das brauchte? Das hatte man ihm nicht offenbart und zu fragen getraute er sich nicht. Er musste Vertrauen haben, sollte keine Fragen stellen, sondern die Anweisungen befolgen. Das hatten sie ihm schon mitgeteilt, als sie ihn instruiert hatten, sich und seinen Rechner vorzubereiten. Auf die Kommunikation mit der Gemeinschaft.

Zuerst hatte er ein UNIX-System auf einem USB-Stick installieren müssen. Dann hatte er ein VPN aufgebaut, um die initiale eigene IP-Adresse zu verschleiern. Anschließend wurde der TOR-Browser installiert und um sich besser orientieren zu können nach dem „Hidden Wiki“ gesucht. Dann war er stundenlang auf den dunklen Seiten des viralen Universums herumgeirrt, hatte sich informiert, noch ziellos, nur von Neugierde getrieben, Link für Link ausprobiert. Mit der Zeit war er sicherer geworden, die Orientierungslosigkeit nahm ab, seine Kenntnisse nahmen zu. Sogar für die Dunkelheit gab es Suchmaschinen, zum Beispiel „Not Evil“ oder „Torch“, die einem halfen zu finden, was man finden wollte. Nur schauen, nichts kaufen, keine Daten preisgeben. Das Darknet ist voller Fallen. Voller Betrüger, die Waren anbieten, aber nach der Bezahlung nie zu liefern gedenken. Auch dafür gibt es Listen, die die Betrüger benennen, doch bevor ein Name auf die Liste kommt, hat es immer mindestens schon ein Opfer gegeben. Deshalb muss man vorsichtig sein. Wo Strafverfolgung nicht möglich ist, wo sich die Kommunikationspartner nicht persönlich oder auch nur namentlich kennen, ist Vertrauen umso wichtiger.

Das alles hatte man ihm bereits beigebracht. Deshalb zögerte er, als man ihn aufforderte, die Daten über sich selbst preiszugeben. Aber wenn er seinem Meister nicht vertrauen konnte, was hatte er dann im Darknet verloren.

15.

„Sie?“, fragte Hauptkommissar Strecker verdutzt nach. Ihren Anruf hatte er wahrlich nicht erwartet. „Sie werden doch keine Sehnsucht nach mir haben? Oder vielleicht doch?“

„Nicht direkt, aber sehen würde ich Sie trotzdem gerne“, war ihre Antwort. „Bitte kommen Sie umgehend nach Köln. In die Allerheiligenstraße, in die Wohnung der Familie Johann. Dort ist eingebrochen worden. Und ich dachte, das würde Sie interessieren. Auch, wenn das ja nun nicht mehr Ihr Revier ist.“

„Aber Ihres oder was?“, war seine schnippische Antwort.

„Das erkläre ich Ihnen besser hier vor Ort. Kann ich mit Ihnen rechnen?“, fragte sie nach.

„Ich bin so gut wie unterwegs. Bis gleich.“ Er beendete das Gespräch, erhob sich, griff sich seinen Mantel und verließ beinahe fluchtartig das Büro. Er war eigentlich schon an der Tür des Sekretariats vorbei, als er nochmals kehrtmachte, anklopfte und den Kopf zur Tür hindurch streckte. „Ich bin zu einem Außentermin nach Köln. In die Wohnung Johann. Ich denke nicht, dass ich heute nochmals in die Zentrale zurückkomme. Wenn was sein sollte, ich bin telefonisch erreichbar. Bitte entschuldigen Sie mich bei den Kollegen in der Nachmittagskonferenz.“

Bevor Frau Köster eine Chance zu antworten hatte, war die Tür wieder zu.

Eine knappe Stunde später kutschierte Strecker seinen Dienstwagen durch das Kunibertsviertel. Er hatte den Stadtverkehr vermieden, war rechtsrheinisch über die Flughafenautobahn nach Köln gefahren und den Rhein über die Severinsbrücke überquert. Dann war er über die Nord-Süd-Fahrt Richtung Ebertplatz gefahren und kurz vorher in das Viertel abgebogen. Hoffnung auf einen dem Ziel nahen Parkplatz hatte er nicht, aber er hatte noch nie ein Problem damit gehabt, in der zweiten Reihe zu parken. Das war in der Allerheiligenstraße aber auch wirklich kein Problem, denn es war eine Sackgasse. Und die war durch zahlreiche Einsatzfahrzeuge ohnehin schon verstopft. Der Hauptkommissar parkte seinen Wagen hinter dem Pulk, stieg aus, hielt einem ihm eifrig entgegeneilenden Schutzpolizisten seinen Dienstausweis vor das Gesicht und betrat durch die geöffnete Tür den Hausflur. Sie stand in der Wohnungstür im 1. Stock, zwar mit dem Gesicht in Richtung Wohnung, aber er erkannte sie auch von hinten. „Frau Garber. Was treibt eine Düsseldorferin nach Köln?“, fragte der Neuankömmling.

„Gehen wir kurz nach oben. Da können wir uns in Ruhe unterhalten. Ich würde Ihnen gerne einige Informationen geben, bevor wir uns mit dem Einbruch beschäftigen. Eigentlich hatte ich erwartet, dass Ihr Chef Sie informiert, aber …“

„Machen Sie es nicht so spannend“, unterbrach sie der Hauptkommissar. „Kommen Sie auf den Punkt.“

„Ich bin Ihre Nachfolgerin.“

Das kam unerwartet. Ganz genau erinnerte sie sich noch an ihre erste Begegnung, an ihren Disput, wie sie ihn vor versammelter Mannschaft, vor seinen Kollegen, zurechtgewiesen hatte. Damals in Bonn. Zwar hatte sich ihr Verhältnis danach entspannt, aber eine echte Partnerschaft hatte sich nicht entwickelt. Und nun hatte sie seinen Posten übernommen. Sie gab ihm einige Sekunden die Nachricht zu verdauen, bevor sie versuchte, ihm mit einer Erklärung zu helfen.

„Sie wissen ja, wie schwierig es für uns ist, neben dem Beruf ein privates Umfeld zu behalten. Und für Bundes- oder Landesbeamte ist das noch schwieriger, weil sie auch noch ständig unterwegs sind. Deshalb trug ich mich schon länger mit dem Gedanken, mir eine Stelle zu suchen, die mit weniger Reisetätigkeit verbunden ist. Als ich gehört habe, dass Ihre Stelle frei wird, habe ich Kriminalrat Brandt angerufen. Er kannte mich ja bereits vom Fatebug-Fall. Und jetzt bin ich hier.“

„Da hat der Kollege Brandt aber wirklich einen guten Griff getan“, returnierte Strecker. „Nein wirklich“, setzte er nach, als er ihren fragenden Blick sah. „Dass ich wegmusste, hat mir der Brandt ja klargemacht. Und im Nachhinein bin ich ihm dankbar. Ich war unzufrieden, mit der Situation und mit mir. Die Veränderung sehe ich als echte Chance. Und wenn eine …“, fuhr er mit einem Augenzwinkern fort, „die Lücke schließen kann, die ich hinterlassen habe, dann Sie. Und außerdem: Köln ist …“ Er stockte einen Moment. „Wenn es Ihnen nichts ausmacht, gehen wir jetzt an die Arbeit.“

„Ja. Köln ist gerade für mich die richtige Stadt. Jedenfalls musst Du das denken“, dachte sie sich, drehte sich um und ging die Treppe herunter in den ersten Stock. Der Strecker, den sie von früher kannte, hätte den Rest des Satzes nicht verschluckt.

Die Wohnung bot das übliche Bild der Verwüstung. Typisch für einen Einbruch, bei dem die Täter etwas suchten, aber nicht oder zumindest nicht gleich fanden. Sie hatten sich nicht damit zufriedengegeben, die Wohnung zu durchsuchen, sondern sie hatten sie völlig zerlegt. Schränke waren umgerissen, Schubladen und Wände zertrümmert, Polster aufgeschlitzt und ausgeweidet, selbst Herd und Kühlschrank hatten sie nicht verschont.

„Was haben die wohl gesucht?“, fragte Hauptkommissarin Garber.

„Etwas, was sie nicht finden konnten. Weil wir es haben“, antwortete Strecker. „Einen Laptop.“

„Wer hat den Einbruch gemeldet?“, wollte der Hauptkommissar wissen.

„Der Vater des vermissten Jungen. Werner Johann. Er ist gegen 11:00 Uhr von einer Dienstreise zurückgekommen. Er musste außerplanmäßig die Nacht in München verbringen, weil er seinen Flug verpasst hatte. Dienstreisen nach München sind nichts Außergewöhnliches, sein Arbeitgeber hat dort seine Zentrale. Herr Johann wollte eigentlich nur schnell seine Sachen wechseln, um dann in der Kölner Geschäftsstelle seines Arbeitgebers weiterzuarbeiten. Die ist ganz hier in der Nähe, in der Domstraße.

 

Als er zu seiner Wohnung kam, fand er dieses Chaos vor und hat die Polizei alarmiert.“

„Kann ich ihn sprechen?“, fragte der Hauptkommissar.

„Das ist im Moment schlecht. Er steht unter Schock. Wir mussten ihn ins Krankenhaus einliefern lassen, da er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte.“

„Dann fahre ich in das Krankenhaus. Wohin hat man ihn gebracht?“

„Ich begleite Sie gleich. Aber erst einmal muss ich mich hier kurz umsehen“, antwortete Frau Garber.

„Was wollen wir noch hier? Ist das hier nicht eher ein Platz für die Spurensicherung?“

„Schon, aber ich versuche noch Anhaltspunkte und Erklärungen für eine andere Sache zu finden. Wahrscheinlich die eigentliche Ursache für den Zusammenbruch von Herrn Johann. Seine Frau ist unauffindbar. Sie hätte zu Hause sein müssen. Er war schon den ganzen Morgen in Sorge, da seine Frau nicht auf seine Anrufe reagiert hatte. Deshalb ist er vom Flughafen auch gleich in die Wohnung gefahren. Als er das Chaos dort sah, hat er die 110 angerufen. Er hat dann die Wohnung durchsucht, aber keine Spur von seiner Frau gefunden. Die Streife war gerade eingetroffen, als er versuchte seine Frau auf ihrem Handy anzurufen. Und als es plötzlich in der Wohnung klingelte, ist er zusammengeklappt. Die Kollegen haben dann den Notarzt alarmiert, sich um den Mann gekümmert und uns alarmiert.“

„Sie vermuten, die Einbrecher haben die Frau mitgenommen?“, fragte der Hauptkommissar.

„Eine andere Erklärung habe ich im Moment nicht. Sie hätte zu Hause sein müssen und soweit wir bis dato wissen, hätte sie auch gestern Abend bzw. in der Nacht hier sein müssen. Und wenn sie bei dem Einbruch zu Hause war und jetzt unauffindbar ist, ist eine Entführung die wahrscheinlichste Erklärung“, sagte die Hauptkommissarin Garber.

„Das klingt nicht gut“, resümierte Strecker.

„Und deshalb müssen wir schleunigst ein Foto von ihr finden. Und sie zur Fahndung ausschreiben. Kommen Sie, helfen Sie mir suchen. Hier brauchen wir kaum Angst zu haben, dass wir Spuren verwischen könnten.“

Ein Foto hatten sie schnell gefunden. Aber sonst fanden sie nichts. Zumindest nichts Brauchbares.

„Fahren wir in das Krankenhaus. Vielleicht kann uns der Ehemann noch einige Hinweise geben. Oder zumindest uns die Aktualität des Fotos bestätigen“, schlug Strecker vor.

„Er liegt im Elisabethkrankenhaus. Das ist gleich …“

„Ich kenne mich hier aus“, unterbrach Strecker die Hauptkommissarin. „Wir treffen uns dort im Foyer.“ Dann war er auch schon weg.

Der Besuch war nicht ganz ergebnislos. Zumindest konnte Herr Johann bestätigen, dass das Foto seiner Frau einigermaßen aktuell war. Für diese magere Information hatten sie viel kämpfen müssen, denn die Ärzte wollten ihren Patienten völlig abschirmen, wollten absolut keinen Kontakt zulassen. Doch letztlich hatte Hauptkommissarin Garber den Stationsarzt überzeugen können, dass es für die Fahndung und wahrscheinlich das Überleben der Frau wichtig war, dass sie ihm zumindest das Foto zeigen konnten. Leider sollte der Arzt Recht behalten. Herr Johann schaffte es zwar noch, sich das Foto anzusehen, doch unmittelbar nach seinem auf die Frage der Hauptkommissarin folgenden Nicken, begannen die Monitore, mit denen sein Gesundheitszustand überwacht wurde, beinahe verrückt zu spielen. Noch während er eine Beruhigungsspritze aufzog, komplimentierte der Arzt sie aus dem Krankenzimmer.

„Ich fahre nochmals zurück zum Tatort“, sagte Frau Garber. „Vielleicht haben die Kollegen von der Spurensicherung ja noch etwas gefunden.“

„Kommen Sie doch morgen früh nach Meckenheim. Zum BKA“, schlug Strecker vor. „Dann können Sie uns gleich auf den aktuellen Stand bringen. Und wir können die Fahndungsmaßnahmen koordinieren.“

„Zum BKA?“, fragte die Hauptkommissarin unsicher zurück.

„Ja. Nach Meckenheim. Das kennen Sie doch. Bis morgen“, schloss Strecker, drehte sich um und ging, ohne zu ahnen, was er angerichtet hatte.

16.

Das hatte er sich ganz anders vorgestellt. Zwei Tage hatte er gebraucht um seinen Rechner zu konfigurieren, die ganzen Sachen über sich aufzuschreiben und an der vereinbarten Stelle im Darknet zu hinterlegen. Und jetzt das. Sein erster Auftrag. So hatte er sich seine ruhmreiche Zukunft nicht vorgestellt. Aber es könnte ja auch ein Test sein, eine Art Aufnahmeprüfung. Außerdem dürfte es kaum schwer werden, den Auftrag zu erledigen. Und eins muss man dem Meister lassen. Er hat ihn unter Beobachtung, hat unmittelbar auf seine Nachricht reagiert und ihm diesen ersten Auftrag erteilt. Ganz präzise hatte der Meister beschrieben, was er tun sollte, wo er es tun sollte, bis wann er den Job erledigen sollte und ihm zudem noch Tipps gegeben. Dass er vorher einen Fluchtweg auskundschaften sollte, dass er vorsichtig sein und die Tat nur ausführen sollte, wenn er sicher war, nicht beobachtet zu werden und natürlich, dass er sich nicht erwischen lassen sollte. Und wenn man ihn erwischen sollte, sollte er sagen, dass es eine Dummheit war, dass er sauer war, frustriert und sich irgendwie abreagieren musste. Dass er den Laden zufällig ausgewählt hatte. Dass es ihm leidtäte, er so etwas nie wieder tun würde.

Außerdem musste er noch einige Regeln lernen. Die erste bestand darin, zu beachten, dass er nie etwas aufschrieb, dass er keine Kopien oder Fotos machte, dass er alles auswendig lernte. Und dann natürlich auch noch, dass er mit niemandem, wirklich niemandem über die Bruderschaft, seine Mitgliedschaft und über seine Aufträge sprechen durfte. Aufmerksam sollte er sein, keine Fragen stellen und generell nichts infrage stellen. Gehorsam und Zuverlässigkeit waren die Säulen der Bruderschaft. Es gab keine zweite Chance. Beim leisesten Anzeichen von Ungehorsam oder Unzuverlässigkeit würde er sofort ausgeschlossen. Oder sogar ausgeschaltet. Zudem galt, dass er alles anziehen dürfte, außer einem grauen Kapuzenpulli. Denn das Recht den zu tragen, musste er sich erst verdienen.

Die Instruktionen fand er in einem Dokument, dass der Meister an einer speziellen Stelle im Darknet positioniert hatte. Er hatte ihm nur wenig Zeit gegeben, die Instruktionen zu lesen. Denn als er nach zwei Stunden nochmals nachsah, nicht weil es nötig gewesen wäre, sondern weil es ihn irgendwie stolz machte, weil er einfach den Auftrag noch einmal sehen wollte, da war schon alles weg. Die Nachricht, die er erhalten hatte, führte nun ins Nichts.

17.

Nun war es also passiert. Natürlich hätte sie dem ausweichen können. Aber das hätte die Spekulationen nur angeheizt und wäre auch nur ein Aufschieben gewesen. Dieser Fall hätte nicht passieren dürfen. Wie konnte sie auch nur so naiv gewesen sein? Wie konnte sie geglaubt haben, einer erneuten Begegnung aus dem Weg zu gehen? Um eine wirkliche Chance zu haben, hätte sie ganz woanders hingehen müssen. Nicht nach Köln. Gerade mal 20 Kilometer Luftlinie von Meckenheim entfernt. „Aber auch im hintersten Winkel der Republik“, tröstete sie sich, „wäre sie nicht sicher gewesen. Der Zuständigkeitsbereich des BKA war groß, so groß wie die Republik. Es hätte überall passieren können.“

Die Rückkehr in die Wohnung der Johanns hätte sie sich sparen können. Selbst, wenn ihre Kollegen noch eine Spur gefunden hätten. Sie wäre nicht in der Lage gewesen zuzuhören, Schlüsse zu ziehen und Anweisungen zu erteilen. Doch Gott sei Dank blieb ihr das erspart.

Das andere konnte sie sich nicht ersparen. Sie konnte auch nicht bis zum Morgen warten, durfte nicht riskieren, dass es zu einem überraschenden Wiedersehen kommen würde. Also musste sie ihn anrufen.

Die Nummer kannte sie noch auswendig. Sie musste es lange klingeln lassen. Eigentlich hatte sie sich schon mit der Mailbox abgefunden, als er sich doch noch meldete. War er beschäftigt oder nicht in der Nähe des Handys gewesen? Hatte er ihre Nummer oder gar ihren Namen im Display gesehen und sich nicht getraut das Gespräch anzunehmen? Egal, letztlich hatte er das Gespräch angenommen.

„Faber“, meldete er sich kurz.

„Ich komme morgen zur Frühbesprechung nach Meckenheim. Dienstlich. Strecker hat mich eingeladen. Ich konnte nicht absagen. Das ist alles“, antwortete sie. Dann legte sie auf. Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Sie war sich sicher, dass Faber wusste, wie er sich zu verhalten hatte.

Das hatte sie auch von sich gedacht. Aber nun war sie sich nicht mehr so sicher. Wie sie in ihrem Bett lag, seit Stunden nicht einschlafen konnte. Schon als Strecker sie eingeladen hatte, fing sie an zu zweifeln. Und der Anruf hatte alles schlimmer gemacht.

Sie hatten gewusst, worauf sie sich einließen. Hatten gewusst, was sie riskierten. Es hatte seit dem ersten Treffen, damals in Meckenheim geknistert. Trotzdem hatten sie widerstanden. Den ganzen Fall hindurch. Hatten schon gedacht, sie hätten es überstanden. Dann waren sie sich unvermutet in Karlsruhe begegnet. Die Bundesanwaltschaft wollte sie wegen der Fahndung nach Fatebug sprechen, hatte sie eingeladen. Unabhängig voneinander, am selben Tag. Ohne sie gegenseitig zu informieren. Wozu auch? Und dann waren sie sich in der Hotelhalle über den Weg gelaufen, vollkommen unvorbereitet, ungeschützt, ohne ihre emotionalen Rüstungen.

Zwei Blicke trafen sich. Die Verabredung stand. Ohne ein Wort gingen sie zum Lift. Die Tür glitt auf, beim Einsteigen streiften sich zwei Körper. Nur ganz leicht. Faber drückte auf die „Zwei“. Sie standen nebeneinander. Den Rücken zum Spiegel, der die hintere Wand des Aufzugs bildete, die Gesichter zur Tür. Zwei Hände berührten sich, Finger verschränkten sich. Hand in Hand schlüpften sie aus dem Lift, rempelten fast gegeneinander, weil sie es nicht erwarten konnten, bis die Tür sich vollständig geöffnet hatte. Er zog sie nach links, nur zwei oder drei Meter den Gang hinunter. Dann blieb er vor einer Tür stehen, nestelte mit seiner freien, rechten Hand in seiner Hosentasche, holte die Schlüsselkarte heraus und zog sie durch den Schlitz der Türschließanlage. Das Licht am Türschloss flackerte kurz auf. Zweimal. Gemeinsam drängten sie sich durch die Tür. Wieder prallten ihre zwei Körper gegeneinander. Zwei Schritte bis zum Bett, jeweils zwei Hände, die Bluse und Hemd über die Köpfe streiften. Zwei Paar Schuhe fielen auf den Boden. Zwei Gürtel wurden geöffnet, zwei Hosen abgestreift, zwei Körper fielen auf das Bett. Zwei Augenpaare, die sich anblickten, die sich schlossen, als sich zwei Lippenpaare trafen, vier Hände, die über zwei Körper glitten, gierig, zu gierig für Zärtlichkeit. Dafür hatten sie zu lange gewartet. Zwei Finger glitten zwischen zwei Schenkel. Zwei Körper rieben sich aneinander, glitten aufeinander, prallten gegeneinander. Küsse, Speichel floss. Dann, unmöglich zu sagen, wie viel Zeit verstrichen war, rollten sie auseinander. Lagen jeder auf einer Seite jeweils am Rande des Doppelbettes. Zwei nackte Körper, voneinander abgewandt. Sie wussten, dass sie zwei Beziehungen ruiniert hatten. Und ahnten, dass sie keine Zukunft hatten. Zumindest keine gemeinsame Zukunft. Mit schlechtem Gewissen, aber immer noch gierig, rollten sie aufeinander zu. Da es keine Zukunft gab, war der Augenblick umso kostbarer.

Doch sie hatten den Augenblick verlängert. Die Begierde hatte über den Verstand gesiegt. Fast drei Monate mit verstohlenen Treffen in gestohlenen Momenten. Dann war Schluss. Nicht, dass die Begierde verloren gegangen wäre, aber die Vernunft gewann an zusätzlichen Argumenten. Das Leben in der Zeit ohne den anderen wurde immer unerträglicher, weil sie selbst immer unerträglicher wurden, gegenüber Freunden, Familienmitgliedern oder Kollegen. Und irgendwann neigte sich die Waage, konnten die wenigen Momente des gemeinsamen Glücks die Unerträglichkeit des Alltags nicht mehr aufwiegen. Sie beendeten die Affäre.

Danach hatten sie sich nicht wiedergesehen. Hatten nicht einmal miteinander telefoniert, waren sich bewusst aus dem Weg gegangen. Natürlich hatte er gehofft, dass sie sich auf die Stelle in der neuen Einheit bewerben würde und hatte gewusst, dass sie es nicht tun würde. Und er wusste, dass das richtig gewesen war. Wie hätte das gehen sollen, nach der Nacht in Karlsruhe? Nach den Nächten danach.

Die Tage waren vergangen, sie versuchten einander zu vergessen. Nun wusste sie, dass das nicht gelungen war, in dieser Nacht vor dem Wiedersehen, als sie keine Ruhe, keinen Schlaf finden konnte.