Lebendige Seelsorge 2/2021

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Wer Ohren hat zu hören, der höre!

Warum zwei Schwestern einen Podcast namens Unter Pfarrerstöchtern erfunden haben

Die Idee, einen Bibelpodcast ins Leben zu rufen, hatte meine Schwester Sabine Rückert, die für die ZEIT bereits seit Mai 2018 einen außerordentlich erfolgreichen Kriminalpodcast betreibt: ZEIT Verbrechen. Im Frühjahr 2019 war sie deshalb vom ZDF-Entertainer Jan Böhmermann in dessen Sendung Neo Magazin Royale eingeladen worden. Dort erzählte sie eine selbst recherchierte Kriminalgeschichte, die von einem evangelischen Pastor handelte, der sich jahrelang sexuell an seinen Konfirmanden verging, ohne dass ihn jemand stoppte. Die Überschrift ihrer Reportage lautete: Der verlorene Hirte. Darauf angesprochen, ob er den biblischen Hintersinn dieser Schlagzeile erfasse, verneinte Böhmermann dies, mit der Begründung, er sei nichtreligiös erzogen worden. Daraufhin entgegnete Sabine: „Ich sehe schon, ich werde wohl auch noch einen Bibelpodcast machen müssen.“ Johanna Haberer

Das war die Initialzündung für den Podcast Unter Pfarrerstöchtern. Die Idee dahinter ist es, die großartigen biblischen Geschichten zu erzählen – neu und mit eigenen Worten. Und zwar für alle Menschen: jene, die religiös erzogen wurden und jene, denen die Bibel vollkommen fremd ist. Die Voraussetzungen dafür hatten wir: Wir sind zwei bibelfeste Frauen in den besten Jahren, vor vielen Jahren in einem Pastorenhaushalt mit der Heiligen Schrift – und in aufgeklärtem Bewusstsein – aufgewachsen. Beide haben wir Theologie studiert, die eine ist Volltheologin und Hochschullehrerin, die andere ist ausgebildete Journalistin, hat die Theologie aber immerhin im Nebenfach gestreift. Die Materie ist uns also vertraut. Im Podcast packen wir sie aber sehr unterschiedlich an – als Hochschullehrerin und ordinierte Pfarrerin einerseits und als Anwältin der interessierten Öffentlichkeit andererseits. So entsteht die Spannung und die Breitenwirkung unseres Gesprächs. Die eine erklärt die Hintergründe der biblischen Geschichten, die historischen Umstände ihrer Entstehung und ihre spirituelle und kultische Bedeutung. Die andere liest die Bibel mit den Augen des modernen säkularen Menschen: Wie plausibel sind die Geschichten, wie könnte ihr wissenschaftliches Fundament beschaffen sein, was erzählen sie uns heute – ja haben sie uns überhaupt noch etwas zu sagen?

Johanna Haberer

Theologin und Journalistin; Prof.in für Christliche Publizistik am Fachbereich Theologie der Universität Erlangen-Nürnberg. Dieser Text ist im Gespräch mit ihrer Schwester Sabine entstanden.

Sabine Rückert

Journalistin und Autorin; stellvertretende Chefredakteurin der Wochenzeitung DIE ZEIT und Mitherausgeberin des Magazins ZEIT Verbrechen.

ZANGENANGRIFF AUF DAS FUNDAMENT UNSERER KULTUR

Sabine, die als stellvertretende Chefredakteurin der ZEIT sehr viel Zeitung liest und Zugang zu großen Medien-Archiven hat, sorgt für die modernen Assoziationen: Was sagt die alttestamentliche Josephsgeschichte über die Idee eines Gottesplans aus? Oder die eines philosophischen Weltgeistes? Warum begreifen und erzählen Menschen ihre eigene Biografie stets als Heldenepos? Was hat das Ende der Frau Lots beim Untergang Sodoms mit der Orpheus-Sage zu tun? Kümmert es den großen Schöpfergott ernsthaft zentimetergenau, wie seine Bundeslade aussieht? Und warum regt er sich auf, wenn zwei schwule Homo sapiens Spaß miteinander haben? Warum ergeht es dem Volk Israel nach seiner Befreiung aus Ägypten nicht anders als all den modernen Ländern nach einer Revolution? Auf den Jubel über die Rettung folgen Frust und Enttäuschung.

Unser Podcast ist sozusagen ein Zangenangriff auf die Bibel, auf das Fundament unserer Kultur. Wir haben dabei keineswegs den Eindruck, Gott verteidigen zu müssen (das kann er – wenn es ihn gibt – sicher besser als wir). Wir müssen in der Öffentlichkeit auch kein Verständnis für ihn streuen. Unser Podcast ist kein Kirchenfunk und hat keinerlei missionarischen Impetus. Das ist die Voraussetzung für seine Glaubwürdigkeit in den Augen der Christinnen und der Atheisten.

PODCAST STATT GOTTESDIENST

Die Reaktionen sind erstaunlich. Allein im Januar 2021 haben etwa eine halbe Million Menschen den Bibelpodcast heruntergeladen. Viele geben in den oft anrührenden Mails, die uns erreichen, an, dass sie schon immer mal wissen wollten, was in diesem Buch mit den sieben Siegeln steht, aber zurückgeschreckt seien vor der Weltsicht jener uralten Völker und der fremden umständlichen Sprache.

Auf einer Zugfahrt wurde ich selbst von einer jungen Studentin angesprochen, ob ich nicht eine der beiden „Pfarrerstöchter“ sei, sie höre den Podcast immer am Sonntagmorgen beim Joggen.

Das sagen viele: am Sonntagmorgen. Man geht nicht in die Kirche, sondern hört sich lieber ein Gespräch an über jene Masterurkunde unserer Kultur, über Gott und die Welt, das eher anspruchsvoll ist – und bei dem alle Fragen offen bleiben.

Es schreiben uns auch viele: Menschen, die das Buch der Bücher noch nie in der Hand hatten und andere, denen die Bibel und das, was manche Geistliche aus ihr machen, das Leben verdorben hat. Und viele, die mit der Predigt in der Kirche nichts anfangen können und trotzdem Sehnsucht haben nach Inspiration und Lust über die großen Lebens- und Überlebensfragen nachzudenken.

Ein Geheimnis des Erfolges der Pfarrerstöchter scheint es zu sein, dass die Geschichten vom ‚Framing‘ der kirchlichen Verkündigung befreit sind, befreit aus der Fürsorglichkeit, die bestimmte Texte auswählt und andere, die das politisch korrekte Gottesbild des allmächtigen Vaters und ‚lieben‘ Gottes in Frage stellen, einfach weglässt. Befreit aus der klerikalen Fraglosigkeit, mit der die kirchliche Verkündigung Welt und Menschen gut redet. Auch befreit aus der Echokammer der geistlichen Männer und Frauen, die Texte in Watte packen, um ihre Schäfchen zu schützen vor den Abgründen, die in den biblischen Texten warten. Zum Beispiel vor jener bösen Vorstellung, dass Gott einen Menschen anfällt wie ein schwarzer Dämon und dass man mit ihm ringt bis zum Morgengrauen, wie in Genesis 32 beschrieben. Auch, dass dieser Gott von einem Menschen besiegt und zum Segen gezwungen werden kann, ist eine sehr befremdliche Vorstellung. Oder das Bild von einem Gott, der seine gegebenen Versprechen über undenkliche Zeiten nicht einlöst, wie jene Verheißung an Abraham, dass seine Kinder zahlreicher sein sollten als die Sterne. Ein Gott, der seine eigene Verheißung plötzlich wieder infrage stellt und Abraham auffordert, den eigenen einzigen Sohn zu opfern. Prüft man so die Tiefe eines menschlichen Glaubens? Und warum das alles? Ein Gottesbild, das man im Podcast – im Gegensatz zur Kanzel – zynisch und sadistisch nennen darf, ohne ihm seine menschlichen Erfahrungshorizonte zu nehmen.

DIE BIBEL: ANGEBOT ZUM DISKURS UND ZUM STREIT

Wir Pfarrerstöchter nehmen die Texte ernst und begeben uns in diesem Podcast zusammen mit dem Publikum selbst auf Entdeckungsreise – wohin sie uns auch führen mag. Ich, die Theologin und Predigerin, die seit 40 Jahren biblische Texte auslegt, lese dieses Buch jetzt mit neuen Augen. Erstaunt bemerke ich, welche archaischen und kindlichen Gottesvorstellungen da bisweilen verhandelt werden und wie widerstreitende theologische und politische Meinungen in der Bibel nebeneinander stehen, und mir wird klar, wie wir Predigerinnen in den letzten Jahren die Exegese sträflich vernachlässigt haben. Die Fragen meiner Schwester, der Journalistin, die alles nicht nur ungefähr, sondern genau wissen will, fördern das zutage.

Wir Geistliche blicken zurück auf ein Theologiestudium, das uns durch die alten Sprachen getrieben hat und durch eine kirchliche Praxis, die uns den harten Blick auf die Texte regelrecht ausgetrieben hat. Wir sollen Ansagen machen in der Predigt und trösten, wir sollen ausrichten, dass mit Christi Hilfe alles im Leben einen Sinn macht und am Ende alles gut wird. Und über die Jahre geraten wir in die Falle. Dann predigen wir nicht mehr die Texte, sondern uns selbst. Die eigene Befindlichkeit, die eigenen Ängste und Sehnsüchte, die persönliche politische Meinung und die persönliche spirituelle Erfahrung. Die Texte werden mit den Jahren nur noch zum Anlass fürs pastorale Selbstgespräch. Über die Fremdartigkeit und Provokation, die von der Bibel ausgeht, ihr Angebot zum Diskurs und zum Streit, ihre Herausforderungen und ihre Zumutungen wird einfach hinweggepredigt. Die Heilige Schrift wird klein gemacht und handlich. Sie wird jeden Sonntag ins Kinder-gartenformat gepresst und leicht verdaulich serviert.

Die Predigthörer und Gottesdienstbesucherinnen werden gezwungen, die Texte unanstößig zu hören – deshalb fühlen sie sich von ihnen auch nicht mehr angestoßen. Die Kanten sind geschliffen, die schmerzhaften Spitzen abgebrochen. In unserem Format Unter Pfarrerstöchtern besteht hingegen kein Zwang zur predigenden Verkündigung, an ihrer Stelle findet eine angeregte und wirklich interessierte Unterhaltung statt, mit dem Effekt, dass die Hörer sich (hoffentlich) nachdenklich, angeregt und unterhalten fühlen.

GESELL*INNEN EINES GESELLIGEN BUCHES

Vom „geselligen“ Gott, hat der vor hundert Jahren geborene Pfarrer und Dichter Kurt Marti gesprochen, er schreibt:

„Am Anfang: Beziehung.

Am Anfang: Rhythmus.

Am Anfang: Geselligkeit.

Und weil Geselligkeit: Wort.

Und im Werk, das sie schuf,

suchte die gesellige Gottheit sich

neue Geselligkeiten.

Weder Berührungsängste

noch hierarchische Attitüden.

Eine Gottheit, die vibriert

 

vor Lust, vor Leben.

Die überspringen will

auf alles,

auf alle.“

Warum steigen wir, die Pfarrer und Pastorinnen nicht von unserer inneren Kanzel herab und bereiten die Predigt im Gespräch vor? Mit Freundinnen, mit den Kindern, dem Partner oder in Netz-Foren? Warum trauen wir den Texten, die unsere Religion so lange getragen haben, so wenig zu? Ist es nicht gerade das Erbe Martin Luthers, die biblischen Texte aus der Umklammerung der klerikalen Lesart zu befreien?

Zurück zur Exegese. Mal wieder Kommentare lesen. Sich die Kontexte der biblischen Verse ansehen, ihre Wirkungsgeschichte wahr nehmen und die im Text verborgenen Dialoge entdecken. Es ist das Gespräch, und auch der Streit und der Zweifel, die jene alten Texte zum Klingen bringen. Nur ehrliche Fragen lassen uns Neues entdecken, nicht hermetische Antworten.

Das habe ich aus der Erfahrung mit dem Podcast für die eigene Predigt gelernt: Man kann Predigt als einen Akt der Kommunikation verstehen, ein inneres Gespräch, das in einer offenen Frage enden darf, und auch in hilfloser Wut und ohnmächtiger Klage über das eigene Leben. Wir sollten uns als fragende und begleitende Gesellen dieses geselligen Buches verstehen, die eine sehr turbulente Erzählgemeinschaft zwischen Himmel und Erde aufmacht und nicht die Erklär-Hierarchien der Kanzelrede nachvollzieht. Streng deinen eigenen Kopf an, Christ, dann redet Gott vielleicht mit dir!

Wir Pfarrerstöchter bekommen durchaus auch bitterböse Briefe, gerade weil wir die Texte vom Sockel holen, sie vom künstlichen Sound befreien, bei dem die Streicher im Hintergrund die Erhabenheit der Texte erzwingen wollen. Die biblischen Texte aber lieben es, wenn man sie ohne falschen Respekt behandelt und sie herausfordert. Die Bibel gehört mehr in die Welt, und weniger in die Kirche.

LITERATUR

Marti, Kurt, Die gesellige Gottheit. Ein Diskurs, Stuttgart 2004.

Die Texte vom Sockel holen für die, die nicht am Sockel stehen

Die Replik von Irmtraud Fischer auf Johanna Haberer

Die heute in der Liturgie – und damit auch in der Predigt – verwendete Sprache ist häufig in unerträglicher Weise floskelhaft. Sie paraphrasiert dogmatische Aussagen, die in Auseinandersetzung mit griechischer Philosophie entstanden sind und die heute niemand mehr versteht – außer wenige in antiker Philosophie Ausgebildete. Zu denen gehören im Normalfall aber nicht einmal die Absolvent*innen eines Theologiestudiums. Kein Wunder, dass Predigende Zuflucht in Phrasen suchen, die lehrmäßig zwar nicht falsch sind, aber mit denen ihre Zuhörer*innen nichts mehr anfangen können. Hier legt der Podcast Unter Pfarrerstöchtern den Finger präzise in die Wunde: Der „Tisch des Wortes“ ist mit Floskeln vollgeräumt, die in der ‚Echokammer der geistlichen Männer und Frauen‘ zirkulieren und kein Potential zur Sättigung mehr haben. Die Fragen der Menschen, insbesondere die großen Menschheitsfragen nach dem Leid und dem Tod, sind aber geblieben. Nur werden sie von den großen kirchlichen Institutionen, die sich vorrangig in moralischen Imperativen ergehen, nicht mehr so beantwortet, dass Menschen sie als hilfreich erfahren.

Johanna Haberer und Sabine Rückert haben es sich in ihrem Podcast zum Ziel gesetzt, biblische Texte „aus der klerikalen Fraglosigkeit“ zu befreien. Der Erfolg gibt ihnen Recht. Die Texte haben ihr Potential offenkundig nicht verloren, schließlich ist die Bibel ja auch auf weiten Strecken große Weltliteratur – man denke hier nur an die Bücher Ijob oder das Hohelied. Die beiden gebildeten Frauen erarbeiten mit ihrem Podcast das, was man beste Kommentarliteratur nennen könnte: Sie holen die Texte und ihre Botschaft ins Heute, fragen ohne Angst vor Abgründen und ohne falsche Scheu, den Texten ihre Heiligkeit zu nehmen, wo sie für uns Heutige problematisch sind. Das ist genau das, was Menschen in vergangenen Generationen auch taten und gerade damit die Bibel lebendig hielten. Wer, wie Haberer schreibt, meint, die Bibel in Watte packen zu müssen und deswegen Sonntag für Sonntag ins „Kinder-gartenformat“ presst, nimmt dem Text die kanonische Würde. Nicht jene, die keck fragen und ungeschönt realistische Antworten formulieren, sind die Totengräber*innen der Bibellektüre, sondern jene, die meinen, dass die Heilige Schrift nur „klein gemacht und handlich“ dem Gottesvolk – und vor allem der eigenen biederen Theologie – zumutbar ist. Wer aus der Bibel auf die Fragen von heute die Antworten von gestern herausliest, konserviert einen Glaubensstand (meist ist es der des 19. Jahrhunderts), der nur aus einem ganz bestimmten Kontext heraus verständlich wird. „Hermetische Antworten“ schützen nicht die Gläubigen mit ihren berechtigten Fragen individueller, aber auch gesellschaftspolitischer Natur, sondern die Predigenden vor dem Verlust ihres Kinderglaubens. Eine biblische fundierte Spiritualität kann es nur geben, wenn Menschen sich in ihrer je eigenen Situation vom Wort treffen lassen, seien sie Exeget*innen, Prediger*innen oder einfach an diesem wichtigsten Buch der europäischen Geistesgeschichte Interessierte. Weiter so mit dem ungezähmten Podcast – er ist wesentlich missionarischer als frommes Gewäsch!

Die beiden gebildeten Frauen erarbeiten mit ihrem Podcast das, was man beste Kommentarliteratur nennen könnte: Sie holen die Texte und ihre Botschaft ins Heute, fragen ohne Angst vor Abgründen und ohne falsche Scheu, den Texten ihre Heiligkeit zu nehmen, wo sie für uns Heutige problematisch sind.

Man kann die Bibel falsch verstehen – und manchmal will man es wohl auch

Die Replik von Johanna Haberer auf Irmtraud Fischer

Ich habe die Überlegungen der Kollegin Fischer mit Zustimmung, Freude und zugleich großer Betroffenheit gelesen. Etwas zugespitzt möchte ich auf den Aspekt resümieren, dass eine katholische Fakultät das Erkenntnisinteresse offenbar stärker auf systematische und rechtliche Disziplinen fokussieren kann, anstatt die Bibelwissenschaft als Königswissenschaft in der Theologie zu sehen. Irmtraud Fischer beschreibt die Folgen dieser Nichtachtung der jüdisch-christlichen Masterurkunde als einen Verlust der „Wurzeln“, als eine Entwicklung, die eine lebendige Dynamik zwischen den alten Texten und den zeitgenössischen Ausleger*innen „verdorren“ lässt.

Entsprechend dürr und schwach erscheinen demnach die Verstehensprozesse biblischer Texte in die kirchlichen Strukturen hinein und der Einfluss der Bibellektüre auf das Bewusstsein der Gemeinden und der Kirchenleitungen. Die radikalen und sensationellen machtkritischen Texte etwa im ersten und zweiten Testament (Amos, Nathan und David, Bergpredigt) werden durch die Steinbruchexegese kirchlicher Repräsentanten und Ausleger ausgeblendet. Damit wird ein hierarchisches Kirchenverständnis zementiert.

Alle Aufbruchsstimmung des Zweiten Vatikanischen Konzils scheint versiegt. Dort hatte man sich vorgenommen, dem christlichen Grundtext in Exegese und Predigt eine fundamentale Rolle einzuräumen. Doch es wird der Leserin des Textes von Frau Fischer sehr deutlich, dass der Interpretationsprozess der biblischen Texte fest in den Händen von loyalen Auslegern in der Hierarchie liegt und der wissenschaftliche Ertrag biblischer Forschungen besonders in Fragen nach der Rolle der Frauen in Kirche und Gemeinde schlicht negiert wird.

Eine Kenntnisnahme vor allem der Genderforschung in der katholischen Exegese würde die Rolle der Frau in der katholischen Kirche völlig neu definieren und die Frage nach der Öffnung des Priesteramtes für Frauen in einen weiten Horizont stellen. Auch in den Themenkomplexen der Sexualethik könnte man Entscheidungsträger aus dem jüdisch-christlichen Masterdokument lernen. Denn mir wurde bei der Lektüre auch klar, dass die Bewegung Maria 2.0 und die immer lauter werdenden Debatten über neue Rollendefinitionen für kirchliche Ämter, sowie die Forderung nach der Mitwirkung von Frauen bei der Verkündigung und im geistlichem Amt, ihre Wurzeln zum Teil wohl auch in der Arbeit katholischer Bibelwissenschaftler*innen haben.

Ja, ich stimme Frau Fischer zu: Man kann die Bibel falsch verstehen. Ihren Beitrag verstehe ich aber auch so, als wollte sie sagen: Manche kirchlichen Würdenträger wollen die Bibel falsch verstehen.

Die Bibel in jüdischer Tradition studieren

Ein einführender Überblick

Eine der spannendsten Fragen in der Forschung zum ‚Lehrplan‘ der jüdischen Gelehrtentradition ist die ungeklärte Stellung der Bibel. Eigentlich würde man erwarten, dass das Buch der Bücher des jüdischen Volkes, der Pentateuch, der von Gott selbst an Mose überliefert bzw. ihm diktiert worden war, eine zentrale Stellung in der jüdischen Gelehrsamkeit einnimmt, und zwar in all ihren Strömungen und Erscheinungsformen (vgl. z. B. Babylonischer Talmud, Traktat Bava Batra, 14, Absatz 7’’2; 15, Absatz 7’’1). In Wirklichkeit ist dies jedoch nicht der Fall. Haim Weiss Übersetzung aus dem Hebräischen von Lina Berova und Dmitry Akselrod

Während des Großteils der Geschichte der jüdischen Gelehrtentradition – beginnend ab der Zeit nach der Zerstörung des zweiten Tempels bis heute – standen in der Welt der Gelehrsamkeit des jüdischen Volkes der Talmud (d. h. das Hauptwerk jüdischer Schriftauslegung), die verschiedenen Talmud-Auslegungen und das komplexe System der Halacha im Mittelpunkt. Die Bibel war trotz ihrer Heiligkeit an den Rand gedrängt, und vor dem 19. Jahrhundert im Lehrplan nur begrenzt als eigenständiges Werk präsent. Die Bibel rückte nur in einzelnen Fällen in den Mittelpunkt der jüdischen Gelehrtenszene – und zwar vor dem Hintergrund bestimmter kultureller, intellektueller und politischer Prozesse der Moderne. Gleichwohl möchte ich betonen, dass die Überlappung bzw. die Kongruenz zwischen dem intellektuellen und dem theologischen bzw. kulturellen Status eines bestimmten Werks (in diesem Fall der Bibel) keineswegs eindeutig bzw. vollständig ist. Mit anderen Worten: Es ist zu unterscheiden zwischen dem rituellen Status der Bibel in der jüdischen Tradition – welcher stabil, klar und geheiligt ist –, und den komplexen Diskussionen, die im Laufe der Geschichte um ihre Stellung und ihre intellektuelle Rolle in den jüdischen Lehrhäusern – den Beit Midrasch – geführt wurden.

DIE BEDEUTUNG DER BIBELLESUNG

Schon sehr früh wurde der rituellen Bibellesung bei öffentlichen Veranstaltungen große Bedeutung beigemessen: „[…] versammelte sich das ganze Volk wie ein Mann auf dem Platz vor dem Wassertor, und sie sprachen zu Esra, dem Schriftgelehrten, er sollte das Buch des Gesetzes des Mose holen, das der HERR Israel geboten hat. Und Esra, der Priester, brachte das Gesetz vor die Gemeinde, Männer und Frauen und alle, die es verstehen konnten, am ersten Tage des siebenten Monats. Und las daraus auf dem Platz vor dem Wassertor vom lichten Morgen an bis zum Mittag vor Männern und Frauen und wer’s verstehen konnte. Und die Ohren des ganzen Volks waren dem Gesetzbuch zugekehrt“ (Neh 8,1–3).

Haim Weiss

Ph. D., Associate Professor am Department of Hebrew Literature der Ben-Gurion-Universität des Negev (Beer Sheva, Israel).

Lina Berova

aus München, B. A. Japanologie, beeidigte Dolmetscherin für Russisch und Deutsch; Übersetzerin für Hebräisch, Ukrainisch und Japanisch; Website: www.tolmachi.de.

Dmitry Akselrod

aus Netanya/Israel, Übersetzer für Russisch, Hebräisch und Englisch; Lyrikübersetzer; Hobbyhistoriker.

Im Neuen Testament finden wir eindeutige Belege für eine geordnete und organisierte Bibellesung im Rahmen des Schabbatgebets: „Und er kam nach Nazareth, wo er aufgewachsen war, und ging nach seiner Gewohnheit am Sabbat in die Synagoge und stand auf, um zu lesen. Da wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht […]“ (Lk 4,16–18).

In der Mischna, dem umfassenden halachischen Traktat aus dem Beginn des dritten Jahrhunderts n. d. Z., sind Tora-Lesungen nach Anlässen klassifiziert: z. B. am Schabbat, an Neumondtagen, an religiösen Feiertagen und an Jom Kippur (vgl. Mischna, Traktat Megilla, 4,4–6).

DIE BIBEL IM GEISTIGWISSENSCHAFTLICHEN RAUM

Dem sakralen Status der Bibel in der Liturgie und der Tradition der Bibellesung, die auf die ersten Jahrhunderte n. d. Z. zurückgeht, steht ein ganz anderer Stellenwert der Bibel im geistig-wissenschaftlichen Raum gegenüber. Schon in den Büchern der Tannaim und der Amoraim (ungefähr vom 1. bis zum 6. Jahrhundert n. d. Z.) findet sich eine ambivalente Haltung gegenüber der Bibel. Einerseits war die Heiligkeit des Bibeltextes unbestritten: Man durfte an ihm keinen einzigen Buchstaben verändern und ihm keinen einzigen Buchstaben hinzufügen. Ferner galt der Bibeltext als Fundament, auf dem die Autorität eines wesentlichen Teils des von den Tannaim – den jüdischen ‚Gesetzeslehrern‘ des 1. bis 2. Jahrhunderts n. d. Z. – und ihren Nachfolgern, den Amoraim, aufgebauten revolutionären Halacha-Rechtssystems beruhte, welches alle Bereiche des jüdischen Lebens bis ins kleinste Detail regelte.

 

Dabei wurde die Bibel – trotz ihrer Heiligkeit und ihres Ansehens – von den gebildeten Tannaim und Amoraim nicht in ihrer Integrität als eigenständige Texteinheit erforscht. Im Wesentlichen unterteilten die jüdischen Weisen, d. h. die Verfasser der Mischna und des Talmuds, den Originaltext in kleinere Einheiten. Um die Bibel radikal interpretieren zu können und aus einem Vers zahlreiche Schlussfolgerungen zu ziehen, („wie Berge, die an einem Haar hängen: wenig Bibel, viele Halachot“; Mischna, Traktat Chagiga, 1,8) setzt voraus, dass Bibelverse von ihrem ursprünglichen Kontext losgelöst und als unabhängige, separate Elemente betrachtet werden.

DIE BIBEL IM LEHRPLAN

Mit dem Talmud, der ca. im sechsten Jahrhundert n. d. Z. sowie vom 7. bis zum 11. Jahrhundert (in der Epoche der Geonim) verfasst worden war, entstand ein Lehrplan, der die jüdische Gelehrtenwelt während des gesamten Mittelalters, in der frühen Neuzeit und gewissermaßen bis in unsere Zeit hinein definieren sollte. Dieser Lehrplan stellt nämlich den Talmud (vor allem den am meisten bekannten, verbreiteten und einflussreichen Babylonischen Talmud), seine Ausleger und verschiedene Arten, auf die der Talmud gelehrt wird, in den Mittelpunkt. Der immense Umfang des Talmuds, die enorme geistige Herausforderung, vor welche er die Lernenden stellt, der Dialog zwischen verschiedenen Lehrmeinungen, der seinen dialektischen Stil prägt, und die zentrale Rolle, die der Talmud beim Aufbau der jüdischen Halacha spielte – all das führte dazu, dass dieses Werk eine zentrale Stellung in der jüdischen Gelehrtenszene einnahm und als ein Text wahrgenommen wurde, in dessen Interpretation es im wahrsten Sinne des Wortes immense Anstrengungen zu investieren galt. Im Vergleich dazu erscheint die Bibel als einfacher und klarer Text, der leicht zu studieren ist und dessen Studium folglich keinen gesonderten Zeitaufwand erfordert, dessen Auslegung einem keine Mühe abverlangt und bei dem man sich auf Lesungen im Rahmen der Liturgie oder auf eine gewissermaßen entspannte Lektüre in der Freizeit beschränken kann.

Belege für eine relativ periphere Stellung der Bibel im Lehrplan der jüdischen Jeschiwa- Talmudhochschulen finden sich für den gesamten Zeitraum, den wir hier betrachten. So schreibt zum Beispiel Rabbenu Tam (Rabbi Jacob ben Meir), einer der wichtigsten Kommentatoren des Talmuds im 12. Jahrhundert: „[…] und jeder, der sich Zeit zum Studium nimmt, und wenn er den Talmud nicht schafft, soll er sich mit der Bibel und ihren Auslegungen beschäftigen“ (Responsa von Rabbenu Tam, She‘elot u-teshuvot (Rashba), Paragraph 5622). Hier wird betont, dass das Studium des Talmuds eine wahre Herausforderung darstelle und die Bibel im Hinblick auf den intellektuellen Aufwand niedriger angesiedelt sei. Jahrhunderte später – im 17. Jahrhundert – deckte der Dajan der Frankfurter Gemeinde, Rabbi Yosef Yuspa Hahn Nordlingen, den prekären Zustand des Bibelstudiums auf und zeigte, dass „es in unserer Generation mehrere Rabbiner gibt, die in ihrem Leben kein einziges Mal die Bibel gesehen haben. […] Und selbst in den Tagen der talmudischen Weisen gab es keine Bibelkundigen“ (Hahn, 270 und Breuer, 118f.). Die Situation um das Bibelstudium in den orthodoxen Jeschiwot beschrieb Mordechai Breuer erschöpfend mit folgender Aussage: „In den letzten Generationen hat sich die Tradition der aschkenasischen Jeschiwot, die darin besteht, die Bibel nicht in den Jeschiwot zu lehren, nicht geändert“ (Breuer, 122).

DIE ROLLE DER BIBEL IM ZIONISMUS

Eine bedeutende Wendung im Bezug auf den Status der Bibel fand im 19. Jahrhundert statt, mit dem Aufschwung des Nationalismus in Europa, der zum Aufblühen des Zionismus, also der jüdischen Nationalbewegung, führte. Der Zionismus zielte auf die ruhmreiche Vergangenheit des jüdischen Volkes: die Zeit vor dem Exil und vor dem Verlust der nationalen Unabhängigkeit. Diese Vergangenheit fand die zionistische Bewegung in der Bibel und in der Welt, die sich darin widerspiegelte. Der Zionismus sah in der Bibel ein Dokument, das das Besitzrecht des jüdischen Volkes an seinem Land begründete und den Jugendlichen am Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein nationales Ethos bot, mit dem sie sich identifizierten. Der Bibelforscher Uriel Simon beschreibt die so: „Das zionistische Projekt definierte sich über die biblischen Begriffe wie ‚Rückkehr nach Zion‘ (Ps 126,1) und sah die Wiedergeburt der Bibel – ich meine, in der Idee, das Studium der Bibel in den Mittelpunkt des jüdischen Lehrplans zu stellen – als integrale Voraussetzung für die Wiedergeburt des jüdischen Volkes, des Landes und der Sprache. Die Rückkehr nach Zion und nach Jerusalem, in die Zeit des Ersten Tempels, in der die jüdische Nation entstand, die Rückkehr zu der Arbeit auf dem Lande, zu der Tapferkeit im Krieg, zum schöpferischen Schaffen in der Sprache der Propheten Amos und Jesaja und zur Verwendung dieser Sprache – war sowohl religiös aus der Bibel heraus inspiriert, die die Mission und die Vision der Generation verkörpert als auch vom Motto ‚Erneuere unsre Tage wie vor alters!‘. Die Schlüsselpersonen des Zionismus, die zionistischen Schriftsteller und Aufklärer, glaubten daran, dass die Bibel einerseits den Zionismus legitimiere, da sie das Besitzrecht des israelischen Volkes an dem Land, welches seinen Namen trägt, begründet, und die Rückkehr der Söhne in ihr Land, den Aufbau des Staates und das Versammeln der Exilanten voraussagt; andererseits betone der Zionismus die Erhabenheit der Bibel, indem er ihre Prophezeiungen realisiert und damit ihre ewige Wahrheit bestätigt“ (Simon, 23–24).

Die zionistische Bewegung stellte die Bibel mit Absicht auf Kosten des Talmuds in den Mittelpunkt des Lehrplans. Der Talmud wurde von den Anführern der zionistischen Bewegung (z. B. der Mitbegründer der Zionistischen Weltorganisation Max Nordau) als ein Überbleibsel der Vergangenheit wahrgenommen, das im Zionismus abzuschaffen und zu vergessen sei. Der Talmud galt als ein ‚Exiltext‘, der die Welt der Jeschiwot verkörperte, gegen die sich der Zionismus auflehnte. Der Talmud versinnbildlichte den alten, unfreien, eingeschüchterten Galut-Juden. Die Zionisten wollten aber einen ‚neuen‘ Juden erschaffen – einen wehrhaften, tapferen Juden mit starker nationaler Identität und Bindung an sein Land. All das haben die Zionisten in der Bibel gefunden. David Ben-Gurion, der erste israelische Ministerpräsident, der tiefgründige Kenntnisse auf dem Gebiet der Bibelwissenschaften besaß, formulierte dies so: „In den zweitausend Jahren Exils ist unser schöpferischer Geist nicht vollständig verloren gegangen, doch der Glanz der Bibel ist in der Diaspora [Zerstreuung] schwächer geworden, wie auch der Glanz des jüdischen Volkes. Erst mit der Erneuerung des Heimatlandes und der hebräischen Sprache können wir die Bibel wieder in ihrem vollen, wahren Glanz erstrahlen lassen“ (Ben-Gurion, 48f.).

Diese Bestrebung, die Bibel zu einem Text zu machen, mit dessen Hilfe der neue Jude erschaffen werden soll, stammt aus der Wahrnehmung der Bibel als weltliches Rollenmodell. Im zionistischen Dialog ist die Bibel kein Gesetzbuch und keine Sammlung von Geboten mehr, nicht mehr nur ein Text, der bei liturgischen Veranstaltungen vorgelesen wird, sondern sie wird zu einem nationalen Text, über den die säkulare ethnische Identität in der modernen Welt definiert wird.

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