Theorie und Therapie der Neurosen

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Godfryd Kaczanowski („Logotherapy: A New Psychotherapeutic Tool“, Psychosomatics 8, 158, 1967) berichtet über ein Ehepaar, das ihn konsultierte.

Sie waren erst seit wenigen Monaten verheiratet. Der Mann erwies sich nun als impotent und war schwerst deprimiert. Sie hatten aus Liebe geheiratet, und der Mann war so glücklich, daß er nur ein Ziel kannte, und das war, auch seine Frau so glücklich wie nur möglich zu machen, und zwar auch sexuell, indem er ihr also einen möglichst intensiven Orgasmus ermöglichte. Nach wenigen Sitzungen war er aber von Kaczanowski an die Einsicht herangeführt worden, daß gerade diese Hyperintention des Orgasmus der Partnerin seine eigene Potenz verunmöglichen mußte. Auch sah er ein, daß er dann, wenn er seiner Frau „sich selbst“ gäbe, ihr mehr geben würde, als den Orgasmus, zumal sich der letztere ohnehin automatisch einstellen würde, wenn er es nicht mehr auf ihn abgesehen hätte. Nach den Regeln der Logotherapie verordnete Kaczanowski bis auf weiteres ein Koitusverbot, was den Patienten sichtlich von seiner Erwartungsangst entlastete. Wie erwartet kam es dann wenige Wochen später dazu, daß der Patient das Koitusverbot ignorierte, seine Frau sträubte sich eine Weile dagegen, gab aber dann ebenfalls auf, und seither ist das Sexualleben der beiden hundertprozentig normalisiert.

Analog ein Fall von Darrell Burnett, in dem es sich nicht um Impotenz, sondern um Frigidität handelte:

„A woman suffering from frigidity kept observing what was going on in her body during intercourse, trying to do everything according to the manuals. She was told to switch her attention to her husband. A week later she experienced an orgasm.“

Wie beim Patienten von Kaczanowski die Hyperintention durch die paradoxe Intention, nämlich durch das Koitusverbot, behoben wurde, so wurde bei der Patientin von Burnett die Hyperreflexion durch die Dereflexion beseitigt, was aber nur geschehen konnte, wenn die Patientin zur Selbst-Transzendenz zurückfand.

Ähnlich verlief folgender Fall, den ich meiner eigenen Kasuistik entnehme.

Die Patientin wandte sich wegen ihrer Frigidität an mich. In der Kindheit war sie vom eigenen Vater geschlechtlich mißbraucht worden. „Dies muß sich rächen“, so lautete die Überzeugung der Patientin. Im Banne dieser Erwartungsangst aber war sie, wann immer es zu einem intimen Beisammensein mit ihrem Partner kam, „auf der Lauer“; denn sie wollte sich endlich einmal in ihrer Weiblichkeit bewähren und bestätigen. Eben damit war jedoch ihre Aufmerksamkeit aufgeteilt zwischen dem Partner und ihr selbst. All dies mußte aber auch schon den Orgasmus vereiteln; denn in dem Maße, in dem man auf den Sexualakt achtgibt, in ebendemselben Maße ist man auch schon unfähig, sich hinzugeben. – Ich redete ihr ein, ich hätte im Augenblick keine Zeit, die Behandlung zu übernehmen, und bestellte sie in 2 Monaten wieder. Bis dahin aber möge sie sich nicht weiter um ihre Fähigkeit beziehungsweise Unfähigkeit zum Orgasmus kümmern – die würde dann im Rahmen der Behandlung ausgiebig zur Sprache kommen – , sondern nur um so mehr während des Geschlechtsverkehrs ihre Aufmerksamkeit dem Partner zuwenden. Und der weitere Verlauf gab mir recht. Was ich erwartet hatte, trat ein. Die Patientin kam nicht erst nach 2 Monaten wieder, sondern bereits nach 2 Tagen – geheilt. Die bloße Ablösung der Aufmerksamkeit von sich selbst, von ihrer eigenen Fähigkeit beziehungsweise Unfähigkeit zum Orgasmus – kurz: eine Dereflexion – und die nur um so unbefangenere Hingabe an den Partner hatten genügt, um erstmalig den Orgasmus herbeizuführen.

Mitunter kann unser „Trick“ nur ausgespielt werden, wenn weder der eine noch der andere Partner eingeweiht ist. Wie erfinderisch man in einer solchen Situation sein muß, erhellt ein folgender Bericht, den ich Myron J. Horn – einem ehemaligen Studenten von mir – verdanke:

„Ein junges Paar suchte mich wegen der Impotenz des Mannes auf. Seine Frau hatte ihm wiederholt gesagt, daß er ein miserabler Liebhaber (,a lousy lover‘) sei und sie nunmehr gedenke, sich mit anderen Männern einzulassen, um endlich einmal wirklich befriedigt zu werden. Ich forderte die beiden nun auf, eine Woche hindurch jeden Abend mindestens eine Stunde lang nackt miteinander im Bett zu verbringen und zu tun, was ihnen behagt, das Einzige, das aber unter keinen Umständen zulässig ist, sei der Koitus. Eine Woche später sah ich sie wieder. Sie hätten versucht, meinten sie, meine Anweisungen zu befolgen, aber ,leider‘ sei es dreimal zum Koitus gekommen. Ich gab mich erzürnt und bestand darauf, daß sie sich wenigstens in der kommenden Woche an meine Instruktionen halten. Es vergingen nur wenige Tage, und sie riefen mich an, um abermals zu berichten, daß sie außerstande gewesen waren, mir zu folgen, vielmehr war es jetzt sogar mehrmals täglich zum Koitus gekommen. Ein Jahr später erfuhr ich dann, daß es bei diesem Erfolg auch geblieben war.“

Es ist aber auch möglich, daß wir nicht den Patienten, sondern seine Partnerin in unseren „Trick“ einweihen müssen. So geschah es im folgenden Falle.

Die Teilnehmerin an einem Logotherapie-Seminar, das Joseph B. Fabry an der Universität von Berkeley hielt, wandte unsere Technik unter seiner Führung auf ihren eigenen Partner an, der von Beruf Psychologe war und als solcher eine Sexualberatungsstelle leitete. (Ausgebildet worden war er von Masters und Johnson.) Dieser Sexualberater erwies sich nun selber und seinerseits als potenzgestört. „Using a Frankl technique“, – so wird uns berichtet – „we decided that Susan should tell her friend that she was under doctor’s care who had given her some medication and told her not to have intercourse for a month. They were allowed to be physically close and do everything up to actual intercourse. Next week Susan reported that it had worked.“ Dann gab’s aber einen Rückfall. Fabrys Studentin Susan war aber erfinderisch genug, um diesmal allein mit der Potenzstörung ihres Partners fertig zu werden: „Since she could not have repeated the story about doctor’s orders she had told her friend that she had had seldom, if ever, reached orgasm and asked him not to have intercourse that night but to help her with her problem of orgasm.“ Sie übernahm also die Rolle einer Patientin, um ihrem Partner die Rolle des praktizierenden Sexualberaters aufzudrängen und ihn so in die Selbst-Transzendenz zu lotsen. Damit wurde aber auch schon die Dereflexion herbeigeführt und die so pathogen gewesene Hyperreflexion ausgeschaltet. „Again it worked. Since then no more problem with impotence occurred.“

Gustave Ehrentraut, ein kalifornischer Sexualberater, hatte einmal einen Patienten zu behandeln, der seit 16 Jahren an Ejaculatio praecox litt.

Zuerst wurde der Fall verhaltenstherapeutisch angegangen, aber auch nach 2 Monaten stellte sich kein Erfolg ein. „I decided to attempt Frankl’s paradoxical intention“, heißt es dann weiter. „I informed the patient that he wasn’t going to be able to change his premature ejaculation, and that he should, therefore, only attempt to satisfy himself.“ Als Ehrentraut dem Patienten dann noch empfahl, den Koitus so kurz wie nur möglich dauern zu lassen, wirkte sich die paradoxe Intention so aus, daß die Dauer des Koitus auf das Vierfache verlängert werden konnte. Zu einem Rückfall kam es seither nicht.

Ein anderer kalifornischer Sexualberater, Claude Farris, überließ mir einen Bericht, aus dem hervorgeht, daß die paradoxe Intention auch in Fällen von Vaginismus anwendbar ist.

Für die Patientin, die in einem katholischen Kloster erzogen wurde, war die Sexualität ein strenges Tabu. In Behandlung kam sie wegen heftiger Schmerzen während des Koitus. Farris wies sie nun an, die Genitalgegend nicht zu entspannen, sondern die Scheidenmuskulatur möglichst zu innervieren, so daß es ihrem Mann unmöglich wird, in die Scheide einzudringen. Eine Woche später erschienen die beiden abermals, um zu berichten, daß der Koitus das erste Mal in ihrem Eheleben schmerzfrei gewesen war. Rezidiv war keines zu verzeichnen. Das Bemerkenswerte an diesem Bericht ist aber der Einfall, die paradoxe Intention einzuschalten, um Entspannung zustande zu bringen.

In diesem Zusammenhang soll auch ein Experiment von David L. Norris, einem kalifornischen Forscher, erwähnt werden, in dessen Rahmen die Versuchsperson Steve angewiesen wurde, sich möglichst zu entspannen, was sie auch versuchte, aber ohne Erfolg, da Steve zu aktiv auf dieses Ziel lossteuerte. Norris konnte das sehr genau beobachten, da die Versuchsperson in einen Elektromyographen eingespannt war, der ständig auf 50 Mikro-Ampere ausschlug. Bis Steve von Norris erfuhr, daß er es in seinem ganzen Leben nicht dazu bringen werde, sich wirklich zu entspannen. Da platzte Steve heraus: „Soll die Entspannung der Teufel holen. Ich pfeif auf Entspannung.“ Und da schnellte auch schon der Zeiger des Elektromyographen auf 10 Mikro-Ampere hinunter. „With such speed“, berichtet Norris, „that I thought the unit had become disconnected. For the succeeding sessions Steve was successful because he was not trying to relax.“

Etwas Analoges gilt auch von den diversen Methoden, um nicht zu sagen Sekten, der Meditation, die heute nicht weniger „in“ ist als die Entspannung. So schreibt mir eine amerikanische Psychologieprofessorin: „I was recently trained in doing Transcendental Meditation but I gave up after a few weeks because I feel I meditate spontaneously on my own, but when I start meditation formally I actually stop meditating.“

Neurosenlehre und Psychotherapie

... tu laborem et maerorem consideras, ut ponas ea in manibus tuis.

Grundriß der Neurosenlehre

I Neurosenlehre als Problem

Zur Definition und Klassifikation neurotischer Erkrankungen

 

Den Ausdruck „Neurose“ hat Cullen geprägt (1777). Es würde aber irreführen, wollte man sich, was eine Definition der Neurose anlangt, auf die Definition von Cullen verlassen. Denn seither hat dieser Begriff, wie Quandt und Fervers hervorheben, einen Bedeutungswandel durchgemacht. Und man könnte sagen, daß sich die verschiedenen Bedeutungen mit der Zeit übereinanderkopiert haben. So ist es zu verstehen, daß sowohl Bumke als auch Kurt Schneider überhaupt für die Abschaffung des Ausdrucks „Neurose“ eingetreten sind. Auch Kloos wäre bereit, dafür zu plädieren, hält er doch den Begriff für nur allzu verschwommen und im übrigen auch ganz und gar entbehrlich; doch fügt er selber hinzu, daß sich der Ausdruck anscheinend als unausrottbar erweist.

Im allgemeinen zeigt sich, daß es im einschlägigen Schrifttum zwei Tendenzen gibt, was die Grenzziehung des Neurosenbegriffs anlangt: eine inflationistische und eine deflationistische. Was letztere betrifft, ist ihr markantester Vertreter Werner Villinger, der sich gegen eine Überdehnung des Begriffs, also gegen eine Ausweitung seines Umfangs, ausspricht. Auf der anderen Seite stünde ein Autor wie Rümke, der die Grenzen so weit zieht, daß er die Neurose überhaupt nicht für eine Krankheit, für keine nosologische Einheit hält, sondern für ein Syndrom, also eine bloß symptomatologische Einheit.

Wir selbst möchten nun eine Mittelstellung zwischen diesen beiden extremen Standpunkten einnehmen, und zwar insofern, als wir zwischen einer Neurose im eigentlichen, engeren Wortsinn einerseits und andererseits einer Neurose im weiteren Sinne unterscheiden. Wir können also von der eigentlichen Neurose Pseudoneurosen abgrenzen, womit nicht gesagt ist, daß wir die Vorsilbe „Pseudo“ auch aussprechen müssen – wir können sie ohne weiteres auch auslassen.

Zumindest im Sinne einer Arbeitshypothese, also in einem mehr oder minder heuristischen Sinne, schlagen wir nun vor, auszugehen von der Definition, daß wir als neurotisch jede Krankheit zu bezeichnen berechtigt sind, die psychogen ist.


Abb. 4

Sobald wir nun diese Ausgangsposition einnehmen, ergibt sich zwanglos ein Schema möglichen Krankseins des Menschen. Als nosologische Einteilungsprinzipien gebrauchen wir hierbei

1. die Symptomatologie oder Phänomenologie und

2. die Ätiologie der betreffenden Krankheit;

das heißt, wir teilen die Krankheiten ein je nach dem, was für (krankhafte) Erscheinungen, eben was für Symptome oder Phänomene sie erzeugen, und andererseits danach, wie sie entstanden sind: je nachdem unterscheiden wir phänopsychische bzw. phänosomatische und somatogene bzw. psychogene Erkrankungen (Abb. 4).

Zuerst begegnen wir dann der Psychose als einer Erkrankung, die psychische Erscheinungen macht (phänopsychisch), dabei aber somatischen Ursachen ihre Entstehung verdankt (somatogen). Damit ist natürlich nicht gesagt, daß man die supponierten somatischen Ursachen der Psychosen wissenschaftlich auch schon erforscht hat. (Wenn man so will, könnte man daher von den Psychosen als von kryptosomatischen Erkrankungen sprechen.) Im Gegenteil, Kurt Schneider bezeichnet es nachgerade als den Skandal der Psychiatrie, daß die Morbi der endogenen Psychosen bis heute unbekannt sind. Mit der Feststellung von Somatogenese ist selbstverständlich auch nicht gesagt, daß eine somato-gene Erkrankung nicht psycho-therapeutisch angehbar sei (siehe Seite 78).

Im vorstehenden haben wir Grenzen gezogen, und wo es Grenzen gibt, dort gibt es auch Grenzfälle. Nur muß man sich davor hüten, der Versuchung zu unterliegen, anhand von Grenzfällen etwas zu beweisen oder zu widerlegen, denn mit Hilfe von Grenzfällen läßt sich alles beweisen und alles widerlegen – und das heißt: nichts beweisen und nichts widerlegen. Mit Recht hat Jürg Zutt einmal darauf hingewiesen, daß es auch Lebewesen gibt, von denen man nicht ohne weiteres sagen kann, ob sie zu den Tieren oder den Pflanzen gehören; trotzdem wird niemandem einfallen, aus diesem Grunde zu bestreiten, daß es zwischen Tier und Pflanze einen Wesensunterschied gibt. Heyer bringt ähnliches zum Ausdruck, wenn er darauf hinweist, daß aus dem Vorkommen von Hermaphroditen niemand das Recht ableiten wird, den wesentlichen Unterschied zwischen Mann und Weib zu verleugnen.

Es soll auch keineswegs bestritten werden, daß das Psychische und das Somatische (also nicht nur das Psychogene und das Somatogene) am Menschen eine innige Einheit eingehen – die psychosomatische Einheitlichkeit des Wesens Mensch. Man darf aber darüber nicht übersehen, daß Einheit nicht identisch ist mit Selbigkeit – ebensowenig wie mit Ganzheit. Das heißt: mag das Psychische und das Somatische am Menschen noch so innig miteinander verbunden sein – dennoch handelt es sich bei den beiden um wesensverschiedene Seinsarten, und das ihnen beiden Gemeinsame ist schließlich nur, daß es sich eben um Arten ein und desselben Seins handelt. Zwischen diesen Seinsarten besteht aber eine unüberbrückbare Kluft. Wir kommen nun einmal nicht darüber hinweg, daß etwa die – physische – Lampe, die ich vor und über mir sehe, hell und rund ist ... während die – psychische – Wahrnehmung eben dieser Lampe oder die – ebenfalls psychische – Vorstellung ihrer (sobald ich die Augen geschlossen habe) nichts weniger als hell und rund ist: eine Vorstellung kann beispielsweise lebhaft sein, aber nie rund.

Es ist eine Frage für sich, wie man angesichts dieser unüberbrückbaren Kluft zwischen dem Psychischen einerseits und andererseits dem Somatischen als je einer wesensverschiedenen Seinsart die Einheit des Menschseins auch in der Theorie, in der Schau vom Menschen, im Menschenbild, bewahren und retten könne. Meines Erachtens ist dies nur möglich im Rahmen einer dimensionalontologischen Betrachtung des psychophysischen Problems. Denn solange wir von diesen Seinsarten nur in der Analogie eines Stufenoder Schichtenbaus – also etwa im Sinne von Nicolai Hartmann bzw. Max Scheler – sprechen, besteht immer noch die Gefahr, daß das Wesen Mensch sozusagen auseinanderfällt in ein Leibliches und ein Seelisches – als ob sich dieses Wesen, als ob sich der Mensch aus Leib und Seele (und Geist) „zusammensetzen“ würde. Aber wenn ich beispielsweise dieses Trinkglas, das hier vor mir auf dem Tisch steht, in die Ebene der Tischplatte hinabprojiziere, dann resultiert daraus ein Kreis, und wenn ich diese Projektion in den Seitenriß vornehme, dann resultiert daraus ein Rechteck; trotzdem wird mir nicht einfallen, die Behauptung zu wagen: das Trinkglas setzt sich zusammen aus einem Kreis und einem Rechteck. Ebensowenig nun darf ich sagen, daß sich der Mensch aus Leib und Seele (und Geist) zusammensetzt. Und aus ebendiesem Grunde dürfen das Leibliche und Seelische nicht als auch für sich bestehende Stufen oder Schichten betrachtet werden, sondern eben als Dimensionen des einheitlich-ganzheitlichen Wesens Mensch. Dann erst läßt sich diese Einheitlichkeit und Ganzheitlichkeit adäquat anthropologisch erfassen. Erst dann läßt sich auch verstehen die Kompatibilität des Inkommensurablen, die Einheit des Wesens Mensch trotz der Mannigfaltigkeit der ihn konstituierenden Dimensionen.

Halten wir also fest: trotz der Einheitlichkeit des Wesens Mensch gibt es eine prinzipielle Verschiedenheit zwischen dem Somatischen und dem Psychischen als seinen Konstituentien (das für ihn wesentliche Konstituens: das Geistige – werden wir sogleich zu besprechen haben). Daran ändert auch nichts, daß es zwischen Psychogenese und Somatogenese nur graduelle Unterschiede gibt. Mein Lehrer Oswald Schwarz pflegte in diesem Zusammenhang folgendes Schema zu entwerfen (Abb. 5):

In diesem Schema bedeuten die Vertikalen verschiedene Krankheiten mit einem je nachdem größeren oder kleineren psycho- bzw. somatogenen Anteil. Eine Krankheit ist also immer nur mehr oder weniger psycho- bzw. somatogen. Ihr diesbezüglicher Stellenwert im Rahmen des obigen Schemas ist demgemäß ein verschiedener, und die eine Krankheit darstellende Vertikale ist verschieblich; aber als starre und scharfe Grenze bestehen bleibt die Diagonale – das heißt: die Grenze zwischen dem psychischen und dem somatischen Bereich als solchem, als je einer ontologischen Region, als je einer anthropologischen Dimension.


Abb. 5

Im übrigen gilt folgendes: Mag auch jede Krankheit noch so sehr immer beides: sowohl eine psycho- als auch eine somatogene Komponente aufweisen, bloß in wechselndem, gegenseitigem Verhältnis – so ist für uns als Ärzte, als Therapeuten, vom pragmatischen Gesichtspunkt aus das Wichtigste ja nicht einmal, wieviel Psychogenese und wieviel Somatogenese im konkreten Fall in die Ätiologie eingegangen sind; sondern für uns von Bedeutung ist: was jeweils primär vorliegt – ob Psychogenese oder Somatogenese. Der alte weise Spruch: qui bene distinguit, bene docet – ließe sich in diesem Sinne, nämlich im Sinne unserer Forderung nach einer gezielten Therapie, variieren, indem wir sagen: Qui bene distinguit, bene curat.

Man wende nun nicht ein, daß doch von einer primären Psychobzw. Somatogenese niemals die Rede sein könne, da ja in jedem einzelnen Fall die psychischen und somatischen Kausalkomponenten sich zu einem Kausalring zusammenschließen, so daß das Somatische vom Psychischen ebenso wie das Psychische vom Somatischen immer mitbedingt werde. Dieser Einwand besteht nämlich insofern nicht zu Recht, als von einem Kausalring nur gesprochen werden kann bei einer Querschnittsbetrachtung des Krankheitsgeschehens – während eine Längsschnittbetrachtung alsbald ergibt, daß es sich in Wirklichkeit um eine Kausalspirale handelt, das heißt, es läßt sich im konkreten Einzelfall sehr wohl entscheiden, wo das Zirkelgeschehen seinen Ausgang genommen hat – ob im psychischen oder im somatischen Bereich – mag es späterhin auch noch so sehr zu einem Einanderbedingen des Psychischen und des Somatischen gekommen sein. (Es verfängt auch nicht der Einwand, daß unsere Frage nach dem, was da primär psycho- bzw. somatogen sei, an die Frage erinnere, was früher da war, ob die Henne oder das Ei, denn im konkreten Einzelfall, im Falle der hier vor mir sitzenden Henne und des hier vor mir liegenden Eies, könnte ich sehr wohl entscheiden, was das Frühere gewesen sei.) Der Kausalring stellt also nur eine Projektion der Kausalspirale dar, das heißt, die Subtraktion einer Dimension, im vorliegenden Falle: der Dimension der Zeit.13

Kehren wir nunmehr zum Ausgangspunkt unserer Überlegungen zurück, so können wir die Neurose definieren als eine psychogene Erkrankung, aber mehr als dies, als eine primär psychogene Erkrankung. Zumindest gilt diese Definition von der Neurose im eigentlichen Sinne – also nicht von Pseudoneurosen – oder, wie wir auch sagen können, von der Neurose im engeren Wortsinn.

Wenn wir aus unserem Schema 4 das rechte untere Feld sozusagen herausvergrößern, dann ergibt sich, daß es sich bei den Organneurosen – als psychogenen phänosomatischen Erkrankungen – jeweils um die Auswirkung von Psychischem im somatischen Bereich handelt. Wenn wir nun diesem Fall einer echten (Organ-) Neurose gegenüberstellen Pseudoneurosen, also Neurosen nicht im eigentlichen Wortsinn, sondern in einem weiteren Sinne, dann hätten wir zunächst zu unterscheiden zwischen „Auswirkung“ und bloßer „Auslösung“. (Diese Unterscheidung zwischen Auswirkung bzw. Verursachung einerseits und andererseits bloßer Auslösung ist nicht nur wichtig in bezug auf Neurosen, sondern auch auf Psychosen: die Psychosen als somatogene [phänopsychische] Erkrankungen können unter Umständen – trotz dieser ihrer prinzipiellen Somatogenese – sehr wohl auch vom Psychischen her ausgelöst sein.)

Es gibt nämlich auch Erkrankungen, die vom Seelischen her nur eben ausgelöst sind – und nicht eigentlich verursacht, somit nicht eigentlich seelisch bedingt, nicht psychogen im engeren Wortsinn. Erkrankungen nun, die vom Seelischen her nicht verursacht, sondern bloß ausgelöst sind, bezeichnen wir als psychosomatische Erkrankungen (Abb. 6).

Auch ist es möglich, daß es sich wohl um eine echte Auswirkung handelt, aber nicht – wie im Falle der echten Organneurose – um die Auswirkung von Psychischem im somatischen Bereich, vielmehr umgekehrt um eine Auswirkung von Somatischem im psychischen Bereich. Wie wir bereits wissen, sind solche Erkrankungen – unserem Schema 4 gemäß phänopsychisch und somatogen – ex definitione Psychosen; im besonderen Zusammenhang, in dem wir nunmehr von solchen phänopsychisch-somatogenen Erkrankungen sprechen, handelt es sich jedoch vorwiegend um Funktionsstörungen vegetativer und endokriner Art, die mitunter monosymptomatisch verlaufen und deren Monosymptom eben ein psychisches ist, und in diesem Zusammenhang wäre es natürlich ausgeschlossen, solche Erkrankungen als psychotisch zu qualifizieren. (Vergleiche jene Fälle, die Hans Hoff im Auge hat, wenn er von „angeborenen oder erworbenen Anomalien der vegetativen Reaktionen“ spricht, bei denen „der Patient nach der sympathischen oder parasympathischen Richtung ausschlägt“ und bei denen „Anomalien des innersekretorischen Drüsenkonzeptes eine Rolle spielen“.) Wir sehen also bewußt von Psychosen ab, und wir dürfen dies auch, da wir ja bloß von Neurosen und Pseudoneurosen oder von Neurosen im engeren und weiteren Sinne zu sprechen haben. Nun, neurosenähnliche Zustände, bei denen es sich um die Auswirkung von Somatischem im psychischen Bereich handelt, bezeichnen wir als funktionelle Erkrankungen.

 

Abb. 6

Auf die soeben andeutungsweise besprochenen „funktionellen“ Auswirkungen (vegetativer und endokriner) somatischer Funktionsstörungen im psychischen Bereich pflegt nun der betreffende Patient irgendwie psychisch zu reagieren. Es handelt sich dann also um psychische Rückwirkungen auf ursprünglich somatische Störungen. Und diese Rückwirkungen, diese Reaktionen, bezeichnen wir als reaktive Neurosen. Wobei wir allerdings ergänzend bemerken müssen, daß es sich bei den reaktiven Neurosen auch um neurotische Reaktionen auf etwas Psychisches handeln kann, das nicht – eben im Sinne funktioneller Erkrankungen – somatogen ist, sondern psychogen.

Nun kann es sein, daß gleichsam „hinter“ einer reaktiven Neurose bzw. einer neurotischen Reaktion ein Arzt steht, insofern, als der Anlaß zur neurotischen Reaktion eine unbedachte oder bedenkenlose Äußerung des Arztes war. In diesem Falle – sozusagen einer Untergruppe der reaktiven Neurosen – sprechen wir von iatrogenen Neurosen.

Und es kann sein, daß gleichsam „jenseits“ der Psychogenese einer psychogenen Neurose (nunmehr sprechen wir gar nicht mehr von bloßen Organneurosen) die eigentliche Ursache der Erkrankung nicht im psychischen Bereich zu suchen ist, sondern in einem Bereich, der wesentlich über dem psychischen hinausliegt: im noëtischen Bereich, im Bereich des Geistigen. In solchen Fällen, wo letztlich ein geistiges Problem, ein Gewissenskonflikt oder eine existentielle Krise der betreffenden Neurose ätiologisch zugrunde liegt, sprechen wir von noogener Neurose.14

Beim geistigen Bereich handelt es sich um jene Dimension, die wir bisher außer acht gelassen haben, als wir vom Somatischen und Psychischen als je einer Dimension des Menschseins – und möglichen menschlichen Krankseins – sprachen; zum vollen Menschsein – zu dessen „Ganzheit“ (siehe oben) – gehört diese dritte, die geistige Dimension aber nicht etwa nur mit hinzu als eine eigene Dimension, sondern sie ist sogar die, wenn auch nicht einzige, so doch eigentliche Dimension des Menschseins insofern, als sich der Mensch als solcher überhaupt erst konstituiert in jenen (geistigen) Akten, in denen er sich sozusagen aus der somatischpsychischen Ebene heraus in die geistige Dimension erhebt.