Die zwölf Jünger Jesu

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

1.2.3 Mt 10,1-5b: Die zwölf Jünger, ihre Berufung, Bevollmächtigung und Aussendung
1.2.3.1 Übersetzung


V.1a: Καὶ προσκαλεσάμενος τοὺς δώδεκα μαθητὰς αὐτοῦ
Und nachdem er seine zwölf Jünger zu sich gerufen hatte,
V.1b: ἔδωκεν αὐτοῖς ἐξουσίαν πνευμάτων ἀκαθάρτων
gab er ihnen Vollmacht über unreine Geister,
V.1c: ὥστε ἐκβάλλειν αὐτὰ
V.1d: καὶ θεραπεύειν πᾶσαν νόσον καὶ πᾶσαν μαλακίαν.
und jede Krankheit und jedes Leiden heilten.
V.2a: Τῶν δὲ δώδεκα ἀποστόλων τὰ ὀνόματά ἐστιν ταῦτα·
Die Namen der zwölf Apostel aber sind folgende:
V.2b: πρῶτος Σίμων ὁ λεγόμενος Πέτρος καὶ Ἀνδρέας ὁ ἀδελφὸς αὐτοῦ,
Zuerst Simon, den man Petrus nennt, und Andreas, sein Bruder,
V.2c: καὶ Ἰάκωβος ὁ τοῦ Ζεβεδαίου καὶ Ἰωάννης ὁ ἀδελφὸς αὐτοῦ,
und Jakobus, der Sohn von Zebedäus, und Johannes, sein Bruder,
V.3a: Φίλιππος καὶ Βαρθολομαῖος,
Philippus und Bartholomäus,
V.3b: Θωμᾶς καὶ Μαθθαῖος ὁ τελώνης,
Thomas und Matthäus der Zöllner,
V.3c: Ἰάκωβος ὁ τοῦ Ἁλφαίου καὶ Θαδδαῖος,
Jakobus, der Sohn von Alphäus, und Taddäus,
V.4: Σίμων ὁ Καναναῖος καὶ Ἰούδας ὁ Ἰσκαριώτης ὁ καὶ παραδοὺς αὐτόν.
Simon der Eiferer und Judas Iskariot, der ihn auch überlieferte.
V.5a: Τούτους τοὺς δώδεκα ἀπέστειλεν ὁ Ἰησοῦς
Diese Zwölf sandte Jesus aus,
V.5b: παραγγείλας αὐτοῖς λέγων·
wobei er ihnen befahl und sprach:

1.2.3.2 Literarischer Kontext

Auf Mt 9,35-38 als ersten Teil der Erzählung, die die Aussendungsrede einleitet, folgt nun deren zweiter Teil 10,1a-5b. Hatte Jesus noch unmittelbar vorher in 9,38 seine Jünger dazu aufgefordert, Gott zu bitten, er möge weitere Arbeiter in seine Ernte schicken, wird in 10,1a-5b nicht etwa von der Ausführung des Auftrags durch die Jünger berichtet, sondern davon, dass Jesus seine zwölf Jünger zuerst zu sich ruft (V.1a) und sie schließlich aussendet (V.5a). Daraus wiederum leitet sich ab, dass der Abschnitt 10,1a-5b sowohl das Erntebild als auch das Schafherdebild konkretisiert. Außerdem sollte in Betracht gezogen werden, dass 4,18-22 und 9,36a-10,5b einander entsprechen und somit Teile einer chiastischen Struktur sein könnten.1 Demnach wäre Jesu Ankündigung in 4,19, seine ersten Jünger, Petrus und Andreas sowie – aufgrund der parallelen Struktur auch – Jakobus und Johannes, zu „Menschenfischern“ (ἁλιεῖς ἀνθρώπων) zu machen, in zweifacher Weise für 9,36-11,1 relevant: erstens wäre „Menschenfischer“ eine Parallele zu „Hirten“ und „Erntearbeiter“. Und zweitens würde sich Jesu Ankündigung an dieser Stelle in gewisser Weise erfüllen: in Jesu Rufen (vgl. προσκαλεσάμενος in 10,1 mit ἐκάλεσεν in 4,21), Bevollmächtigen und Aussenden.2

1.2.3.3 Aufbau

Der Abschnitt Mt 10,1-5a besteht aus drei Ereignissen, die die Handlung vorantreiben: Jesus ruft die Zwölf zu sich (V.1a: προσκαλεσάμενος), er gibt ihnen Vollmacht (V.1b: ἔδωκεν), und er sendet sie aus (V.5a: ἀπέστειλεν). V.1c-d nennen den Zweck bzw. Grund für die Vollmacht über die Geister (vgl. ὥστε): die Zwölf sollen sie austreiben (V.1c: ἐκβάλλειν) und Krankheiten heilen (V.1d: θεραπεύειν). V.2a-4 klärt die Identität der in V.1a-d berufenen und bevollmächtigen zwölf Jünger Jesu: sie werden erstens als „zwölf Apostel“ bezeichnet (V.2a: Τῶν δὲ δώδεκα ἀποστόλων) und zweitens namentlich, in Zweierpaaren, aufgelistet (V.2b-4). Und die letzte Proposition V.5b leitet von V.5a zu den nachfolgenden Propositionen über: Jesu Aussendung (V.5a) besteht in den Anweisungen (παραγγείλας), die in der direkten Rede ab V.5c folgen.1 Diese Propositionen werden in der folgenden Analyse nacheinander behandelt, mit zwei inhaltlich bedingten Ausnahmen: V.1b-d wird im Zusammenhang von V.8a-d besprochen. Allerdings werden die exegetischen Ergebnisse zu V.1b-d (und V.8a-d) bei der Exegese von V.1a und V.2a-5b berücksichtigt. Und V.2a wird gemeinsam mit V.5a-b ausgelegt.

1.2.3.4 Kommentar und Analyse
1.2.3.4.1 Mt 10,1a

V.1a: Καὶ προσκαλεσάμενος. In V.1a ist Jesus das Subjekt (vgl. Mt 9,35-38) und „seine zwölf Jünger“ sind das Objekt der Handlung, das durch προσκαλεσάμενος zum Ausdruck kommt. προσκαλεσάμενος ist am ehesten als ein participium coniunctum zu bewerten, das durch einen temporal-vorzeitigen Adverbialsatz aufgelöst werden sollte: „nachdem er gerufen / berufen hatte“.1 προσκαλέω kann laut BA erstens im „eigentlichen“ (1.) und zweitens im „übertragenen“ (2.) Sinne gebraucht werden.2 Zum eigentlichen Sinn gehören zwei Unterpunkte: erstens „herbeirufen, kommen lassen, herbitten“ (1.a.) und zweitens (als terminus technicus der Gerichtssprache) „vorführen, vorführen lassen“ (1.b.). Beim übertragenen Sinn ist es Gott, der beruft, entweder zum Glauben u.ä. (2.a.) oder zu einer bestimmten Aufgabe oder einem bestimmten Amt (2.b.). Der ersten Bedeutung (genauer: 1.a.) bei BA entspricht bei LN προσκαλέομαι unter 33.308: „to call, to call to“. Und der zweiten Bedeutung (genauer: 2.b.) bei BA entspricht bei LN προσκαλέομαι unter 33.312: „to call, to call to a task“, wobei er diese Bedeutung wie folgt definiert: „to urgently invite someone to accept responsibilities for a particular task, implying a new relationship to the one who does the calling“. BA führt Mt 10,1 unter 1.a. auf. Dennoch darf die Frage erlaubt sein, ob in 10,1 nicht ebenso der „nicht-wörtliche“ bzw. der übertragene Sinn zutreffen könnte, im Sinne einer soziologisch zu verstehenden „Berufung“, nämlich zu einer bestimmten Aufgabe oder zu einem bestimmten Amt (bei BA 2.b.).3 Bei näherer Betrachtung fällt auf, dass BA von einer Berufung zu einem „Amt“ reden kann, was aber über die Definition von LN hinausgeht, der lediglich von einer Aufgabe („task“) und einer evtl. implizierten neuen Beziehung („relationship“) spricht. BA führt für diese zweite Bedeutung (2.b.) mit Apg 13,2 und 16,10 lediglich zwei ntl Stellen an.4 Allerdings enthalten m.E. die beiden Vorkommen in Apg 13,2 und 16,10 gar nicht den Gedanken an ein „Amt“. Damit verbleibt die Frage, ob προσκαλέομαι in Mt 10,1 zum Ausdruck bringt, dass Jesus die zwölf Jünger zu einer bestimmten Aufgabe berufen hat. Denn Apg 2,39 ist die einzige weitere Stelle, die laut BA im übertragenen Sinn mit „berufen“ wiedergegeben werden sollte. Damit ist das erste Argument genannt, dass die Zuordnung von Mt 10,1 bei BA zur Bedeutung 1.a. stützt: die Mehrheit der Vorkommen dieses Verbs im NT – sowie alle anderen Vorkommen im MtEv, nämlich 15,10.32; 18,2.32; 20,25 – deutet daraufhin, es in 10,1 in demselben Sinne zu übersetzen. Zweitens sollte grundsätzlich zunächst von der „wörtlichen“ bzw. eigentlichen Gebrauchsweise eines Wortes ausgegangen werden. Drittens drängt nichts in V.1a zu einer nicht-wörtlichen Gebrauchsweise. Außerdem gibt Jesus in der nachfolgenden Proposition V.1b den Jüngern Vollmacht, aber er weist ihnen keine Aufgabe zu, das passiert erst in V.1c und V.1d. Deswegen lässt sich das Fazit ziehen, dass Jesus seine Jünger in V.1a tatsächlich im wörtlichen Sinne herbeigerufen hatte, nämlich dass sie räumlich näher an ihn herantreten mögen.5

 

Dieses sprachliche Ergebnis ist allerdings kein Widerspruch zu der inhaltlichen Beobachtung, dass sämtliche Aspekte des näheren Kontextes von V.1a durchaus sehr gut im Sinne einer soziologisch zu verstehenden „Berufung“ gedeutet werden können. Für eine solche Deutung sprechen v.a.: erstens die vorangehende Bitte an Gott selbst, er möge Erntearbeiter aussenden (Mt 9,38), die ab V.1a in gewisser Weise erhört wird; zweitens die darauffolgende Übergabe einer übernatürlichen Vollmacht (V.1b), drittens zum Zwecke von Heilungen und Austreibungen (V.1c-d); viertens die Bezeichnung der zwölf Jünger als „Apostel“ (V.2a) und fünftens die Aussendung (V.5a-b). Dabei lässt sich V.1a ohne weiteres integrieren: das (wörtliche) Rufen Jesu, seine zwölf Jünger mögen näher an ihn herantreten, ist eine Handlung in einer Reihe von Handlungen, die insgesamt eine (nicht-wörtliche) Berufung ausmachen. Die soeben zu 9,38-10,5 aufgelisteten Elemente sowie die Aussendungsrede 10,5-42 selbst machen deutlich, dass es eine Berufung zu einem bestimmten Auftrag ist, der viele konkrete Aufgaben umfasst. Das führt zu der nächsten Frage.

Könnte gleichzeitig mit dem in V.1a beschriebenen wörtlichen Herbeirufen sowie mit der damit beginnenden Berufung zum Auftrag, in Israel missionarisch zu wirken, zum ersten Mal der Zwölferkreis als eine personell festgelegte Gruppe zusammengekommen sein? Anders gefragt: schafft bzw. konstituiert Jesus in V.1a den Zwölferkreis? Auf den ersten Blick scheint Mk 3,13f eine dazu parallele Vorstellung zu sein, weil dort Jesus zuerst Personen herbeiruft (προσκαλεῖται), die daraufhin kommen (ἀπῆλθον), bevor er die Zwölf „macht“ (ἐποίησεν), was in diesem Zusammenhang auch mit „schuf“ übersetzt werden kann. Doch auf den zweiten Blick scheint Mk 6,7 relevanter als Mk 3,13f zu sein, weil Mk 6,7-13 parallel zu Mt 10 von der Aussendung der zwölf Jünger berichtet. Und auch in Mk 6,7 heißt es, dass Jesus die Zwölf herbeiruft (προσκαλεῖται) und dann beginnt, sie auszusenden (ἀποστέλλειν). D.h., dass die Konstituierung der Zwölf im MkEv nicht in Mk 6,7, sondern bereits in Mk 3,14 stattgefunden hat. Ebenso ist im LkEv die Konstituierung des Zwölferkreises (Lk 6,13) von ihrer Aussendung (Lk 9,1-6) zeitlich getrennt. Vom synoptischen Vergleich herkommend bedeutet das, dass die Konstituierung des Zwölferkreises in Mt 10,1 eher unwahrscheinlich ist. Nichtsdestoweniger tritt der Zwölferkreis zum ersten Mal in 10,1 in Erscheinung. Möchte man an der These festhalten, dass 10,1 von der Konstituierung der Zwölf berichtet und dass die synoptischen Parallelstellen relevant sind, dann könnte eine Harmonie möglicherweise mit der Annahme erreicht werden, dass der Evangelist Mt in einer einzigen Szene zusammenfasst, wovon die Evangelisten Mk und Lk in zwei Szenen berichten. Würde man von dieser These ablassen, dann hätte Jesus den bereits vorher bestehenden Zwölferkreis ab Mt 10,1 zur Mission in Israel berufen und ausgesandt. Dass Mt die Zwölf erst hier ausdrücklich nennt, und diese Nennung zum Anlass nimmt, die Namen der Zwölf aufzuzählen, könnte mit der Zahl 12 erklärt werden: die zwölf Jünger sollen zum Zwölf-Stämme-Volk Israel gehen (dazu vgl. II,1.2.4.4.1). Aber: Der Rezipient, der 10,1 nicht synoptisch vergleichend liest, kann durchaus den Eindruck erhalten, dass Jesus den Zwölferkreis erst jetzt zusammenstellt. Das MtEv für sich allein lässt das offen.

Weil aber der mt Jesus den Zwölferkreis frühestens mit oder nach der Berufung des Zöllners Matthäus in 9,9 ins Leben gerufen haben kann,6 kommt für die Konstituierung offensichtlich nur die Zeitphase infrage, in der auch die in 9,10-38 berichteten Ereignisse stattgefunden haben. Ein möglicher Anhaltspunkt für die Konstituierung des Zwölferkreises ist die sogenannte „galiläische Krise“. Demzufolge habe das Volk Israel Jesus abgelehnt, woraufhin Jesus die Zwölf ins Leben ruft, um damit symbolisch zu signalisieren, dass er einen Anspruch auf ganz Israel stellt. Allerdings ist eine solche Krise vor Mt 11 nicht eindeutig zu belegen.7 Denn vorher hatte Jesus in Mt 5-7 und Mt 8-9 hauptsächlich sich und sein Programm vorgestellt und anschließend in Mt 10 die Zwölf in seinen Dienst gestellt. Und bis einschließlich Mt 9 wird das Volk neutral bis positiv dargestellt. Dass eine größere Krise Jesus zur Wahl der Zwölf veranlasste, lässt sich also am MtEv selbst nicht belegen. Es ist denkbar, dass der Zwölferkreis vom Anfang Jesu öffentlichen Wirkens an „Plan A“ war, d.h. Jesus bereits die ersten Jünger mit dem Ziel in seine Nachfolge rief, sie gemeinsam mit anderen Jüngern zum Zwölferkreis zu bilden. Jedenfalls war die Aussendung der Zwölf v.a. durch die Not des Volkes begründet (vgl. 9,36), und nicht durch die Ablehnung Jesu im Volk.

Weil der Text zwischen Mt 9,10-38 genauere Auskünfte schuldig bleibt, bleibt die genaue Identität der „Jünger“ (μαθητής) Jesu in 9,10.11.14.19.37 offen. Man darf bei diesen Stellen mindestens (!) an die fünf aus 4,18-22 und 9,9 bekannten Jünger denken. Es spricht einiges dafür, dass Jesus bereits vor 10,1 mehr als nur die aus 10,2-4 bekannten zwölf Jünger hatte. D.h., dass Jesus in 10,1 den schon bestehenden Zwölferkreis aus einer größeren Jüngerschar zu sich gerufen haben könnte. Dafür spricht, dass der Evangelist Mt den Wechsel von τοῖς μαθηταῖς αὐτοῦ (9,37) zu Καὶ προσκαλεσάμενος τοὺς δώδεκα μαθητὰς αὐτοῦ (10,1) gar nicht so „fließend“ gestaltet, wie häufiger behauptet wird. Gegen diese Behauptung können folgende Beobachtungen in Anschlag gebracht werden: Erstens weiß der horizontal bzw. synchron lesende Rezipient von keiner redaktionellen „Abschwächung“.8 Zweitens ist durchaus ein „Bruch“ vom allgemeinen „Jünger“ hin zu den spezifischen „zwölf Jünger“ (und zu „die zwölf Apostel“ in 10,2a) deutlich erkennbar. Drittens zeigt das Verb προσκαλέομαι in 10,1, selbst wenn man es „nur“ als „gerufen“ versteht (s.o.), nach 9,37f eine (noch) größere örtliche Nähe und – damit einhergehend – persönliche „Intimität“ an. Die Bedeutsamkeit der nachfolgenden Bevollmächtigung und Aussendung bestätigt das. Warum sonst sollte Jesus die Zwölf näher zu sich holen? Denn die „Jünger“ waren doch schon die ganze Zeit mit und bei Jesus. Zu einem weiteren Argument ist zu sagen: es ergibt nicht unbedingt mehr Sinn, wenn eine größere Jüngerschar um Erntemitarbeiter bitten soll, woraufhin Jesus nur zwölf Jünger aus jener Schar herausruft und zu ebendieser Aufgabe beauftragt.9

V.1a: τοὺς δώδεκα μαθητὰς αὐτοῦ. Sowohl in Mt 10,1 als auch in 11,1 findet sich die Bezeichnung „seine zwölf Jünger“. Die Kardinalzahl δώδεκα nennt die konkrete Anzahl von zwölf Jüngern. Nur wenig später in 10,2b-4 werden diese Zwölf namentlich aufgelistet. Für das Verständnis von μαθητής ist das possessiv gebrauchte Personalpronomen αὐτοῦ besonders wichtig, weil es die zwölf Männer als Jesu Jünger ausweist.10 μαθητής selbst ist eine Gattungsbezeichnung (nomen appellativum): was diese zwölf Männer gemeinsam haben, ist ihr Jünger-Sein. Wie bereits in der Wortstudie zu μαθητής ausgeführt,11 lässt sich μαθητής auf zweifache Weise übersetzen, knapp gesagt mit „Schüler“ oder mit „Jünger“. Speziell zu μαθητής in 10,1 schlagen BDAG und BA die zweitgenannte Bedeutung vor: „disciple“ / „adherent“ bzw. „Jünger“ / „Anhänger“. Dem entspricht die Wiedergabe bei LN mit „disciple“ / „follower“. M.E. ist diese Zuordnung von μαθητής in 10,1 berechtigt, weil das die näherliegende Bedeutung ist. Denn sowohl in der klassisch-hellenistischen Zeitphase, als auch zur Zeit des AT als auch in der zwischentestamentlichen Zeitphase wurde der Begriff μαθητής für unterschiedliche – etwa religiöse, politische, philosophische oder prophetische – Arten von Anhängerschaften bzw. Jüngerschaften gebraucht, also nicht ausschließlich für ein Lehrer – Schüler-Verhältnis.12 Wie auch die beiden lexikalischen Wortbedeutungen von μαθητής zeigen, schließen sie sich gar nicht aus: Das Jünger- bzw. Anhänger-Sein kann sich in einem konkreten Schüler- bzw. Lehrling-Sein ausdrücken. Doch welcher Art die Anhängerschaft bzw. Jüngerschaft Jesu im MtEv ist, d.h. was ihre typischen Charakteristika sind, ist nicht am Begriff μαθητής für sich genommen erkennbar, sondern an den unterschiedlichen direkten und indirekten Aussagen des MtEv dazu.13 Nun ist es aber für das Verhältnis zwischen Jesus und seinen Anhängern charakteristisch, dass er sie lehrt und sie von ihm lernen. Deswegen wäre es nicht falsch, μαθητής im MtEv mit „Schüler“ oder „Lehrling“ zu übersetzen. Dennoch ist „Jünger“ oder „Anhänger“ vorzuziehen, aus folgenden Gründen:14 Wie bereits bemerkt, sind „Jünger“ oder „Anhänger“ die allgemeineren und daher auch die geläufigeren Ausdrücke. Dafür spricht desweiteren, dass die Komplexität des Verhältnisses zwischen Jesus und seinen Jüngern gewahrt wird: z.B. gibt es starke Ähnlichkeiten zu einem Propheten – Prophetenschüler-Verhältnis. Diese Charakteristika würden bei einer „verengten“ Vorstellung eines typischen Lehrer – Schüler-Verhältnisses möglicherweise übersehen oder untergeordnet werden. Außerdem ist nicht bei allen Vorkommen von μαθητής der Aspekt des Lehrens und Lernens deutlich erkennbar. Ein weiterer Vorteil dieser Begriffswahl ist, dass eine gewisse Parallelität zu den „Jüngern“ bzw. „Anhängern“ des Täufers und zu denen der Pharisäer hergestellt werden kann. Weil man nun das Wort μαθητής im MtEv möglichst einheitlich übersetzen sollte, gilt das auch für das Vorkommen in 10,1, trotz der unmittelbaren Nähe zu 10,24f, wo μαθητής im alternativen, d.h. engeren Sinne von „Schüler“ / „Lehrling“ / „pupil“ gebraucht wird, und obwohl die in V.24f beschriebene Hierarchie zwischen einem Lehrer und seinem Schüler sich im Zusammenhang der Aussendungsrede tatsächlich auf das Verhältnis zwischen Jesus und seinen zwölf Jüngern bezieht. Demnach lässt sich festhalten, dass μαθητής in 10,1 mit den deutschen Begriffen „Jünger“ oder „Anhänger“ (und den englischen „disciple“, „adherent“ oder „follower“) wiedergegeben werden kann. Eine m.E. präzise Definition von μαθητής findet sich bei BDAG: „one who is rather constantly associated with someone who has a pedagogical reputation or a particular set of views“. Außerdem ist die Definition des Verbs μαθητεύω bei LN, das – gemeinsam mit ἀκολουθέω – zu demselben Wortfeld wie μαθητής gehört, aufschlussreich und m.E. auf Jesu Jünger besonders zutreffend, weil die „Lehre“ betont ist: „to be a follower or a disciple of someone, in the sense of adhering to the teachings or instructions of a leader and in promoting the cause of such a leader“. Aus der für das Verständnis des Zwölferkreises zentralen Erkenntnis, dass sie hier als Jesu „Jünger“ identifiziert werden, lässt sich ableiten, dass ihnen grundsätzlich alles gilt, was Jesus im MtEv zu (wahrer) Jüngerschaft sagt. Allerdings würde es an dieser Stelle zu weit führen, auf alle diese Elemente einzugehen.15

V.1a: τοὺς δώδεκα μαθητὰς αὐτοῦ; V.2a: Τῶν δὲ δώδεκα ἀποστόλων; V.5a: Τούτους τοὺς δώδεκα. In Mt 10,1-5a fällt erstens die Häufigkeit der Zahl 12 auf: Jesus ruft „seine zwölf Jünger“ zu sich (V.1a: τοὺς δώδεκα μαθητὰς αὐτοῦ),16 es werden die Namen der „zwölf Apostel“ aufgelistet (V.2a: Τῶν δὲ δώδεκα ἀποστόλων) und „diese zwölf“ sendet Jesus aus (V.5a: Τούτους τοὺς δώδεκα). Als zweites fällt die Namenliste (V.2b-4) auf. Drittens fällt die Bezeichnung „diese Zwölf“ (V.5a: Τούτους τοὺς δώδεκα) auf, weil es eine Verkürzung ist, entweder von „zwölf Apostel“ oder von „zwölf Jünger“.17 Dass aber die Zwölfergruppe für den Autor eine feste Größe sei, was man aufgrund von Mk 14,10; Joh 6,71; 20,24; Apg 6,2; 1Kor 15,5 vermuten könnte, lässt sich an dieser Stelle nicht nachweisen, da τούτους τοὺς δώδεκα ja zurück auf die soeben aufgelisteten zwölf Jünger bzw. Apostel verweist. Zumindest die ersten beiden Auffälligkeiten sind Belege für ein besonderes Interesse des Evangelisten am Zwölferkreis. Und alle drei Auffälligkeiten verbindet die Zahl 12. Deswegen ist die Frage naheliegend, warum Jesus gerade zwölf Jünger auswählt. Die Anzahl von zwölf Jüngern ist weder durch einen Zufall, noch durch eine pragmatische Entscheidung Jesu zu erklären,18 sondern am ehesten durch Zahlensymbolik.19 Der Evangelist Mt hat offensichtlich eine Vorliebe für Wiederholungen.20 Manche dieser Wiederholungen können mit einer besonderen Zahlensymbolik einhergehen.21 Deswegen dürfte es nicht verwundern, wenn für den Evangelisten Mt auch die Zahl 12 zumindest bei einigen Vorkommen eine besondere Symbolik hätte. Die Zahl δώδεκα kommt im MtEv dreizehn Mal vor: Mt 9,20; 10,1.2.5a; 11,1; 14,20; 19,28 (2x); 20,17; 26,14.20.47.53. Neun dieser Vorkommen beziehen sich auf den Zwölferkreis (10,1.2.5a; 11,1; 19,28;22 20,17; 26,14.20.47) und ein Vorkommen auf das Zwölf-Stämme-Volk Israel (19,28). Die restlichen drei Vorkommen sind auf die Krankheitsdauer (9,20), auf die Anzahl gesammelter Brotkörbe (14,20) und auf eine Menge von Engeln (26,53) bezogen. Man kann in Erwägung ziehen, ob die Zahlen δώδεκα in den letztgenannten drei Stellen eine symbolische Bedeutung haben (ausführlich im Anhang [online], Exkurs 8).

 

Die Zahlen δώδεκα in Mt 10,1a.2a.5a; 11,1 beziehen sich offenkundig auf die „Sache“ zwölf Jünger Jesu. Dass der Zwölferkreis in einer besonderen Beziehung zu dem Zwölf-Stämme-Volk Israel steht, belegt nicht nur der weitere Kontext des Gesamtevangeliums (besonders pointiert 19,28),23 sondern auch der nähere Kontext von Mt 10: Erstens sind die beiden Bildworte von den hirtenlosen Schafen und von den fehlenden Erntearbeitern auf dem Hintergrund atl Passagen und den dortigen Bildtraditionen zu verstehen, wobei jeweils das Volk Israel im Blick ist (9,36-38). Die an 9,35-38 anschließende Berufung und Aussendung der Zwölf ist eine Reaktion auf die Not Israels. Zweitens orientiert sich der Dienst der Zwölf am Dienst Jesu, den er aber am Volk Israel ausübt (4,23-25; 9,35f). Drittens und am eindeutigsten zeigt sich die besondere Beziehung des Zwölferkreises zum Zwölf-Stämme-Volk Israel in der Betonung Israels als ausschließliche Adressaten: die Zwölf werden zu „den verlorenen Schafen des Hauses Israel“ (10,6: τὰ πρόβατα τὰ ἀπολωλότα οἴκου Ἰσραήλ) ausgesandt.

Nachdem das Zwölf-Stämme-Volk Israel in die beiden Reiche Israel und Juda zerfallen war, führte die babylonische Gefangenschaft letztlich dazu, dass neuneinhalb der zwölf Stämme „verloren gegangen“ sind.24 Bereits das AT drückt die Hoffnung auf die Sammlung bzw. Wiederherstellung Israels aus.25 Frühjüdische Schriften bezeugen, dass selbst Jahrhunderte nach der Zerstreuung am Zwölf-Stämme-Konzept und der Hoffnung auf die Wiederherstellung Israels festgehalten wurde.26 Diese Hoffnung wurde genährt von der Zusage Gottes an David, den König des vereinten Reichs, dass Gottes Gnade von seinem Nachkommen trotz zwischenzeitlicher „Schläge“ nicht weichen wird, und dass Davids Königtum für ewig Bestand haben wird (2Sam 7,12-16). In der frühjüdischen Eschatologie ist deswegen das Kommen des lang erwarteten davidischen Messias eng verbunden mit der Wiederherstellung des Zwölf-Stämme-Volkes.27 Gemäß der christologischen Konzeption des Mt ist in Jesus der davidische Messias gekommen. Daraus folgt: wenn Jesus als der davidische Messias – ob in Mt 10,1 oder früher – die zwölf Jünger zu sich ruft und den Zwölferkreis konstituiert, dann vollzieht er eine prophetische Zeichenhandlung:28 er zeigt seinen Anspruch auf das gesamte Volk Israel,29 die Zwölf repräsentieren aufgrund ihrer Zwölfzahl das Zwölf-Stämme-Volk Israel. Dabei stehen nicht die einzelnen Glieder des Zwölferkreises für jeweils einen Stamm Israels, auch weil die zwölf Jünger nicht aus zwölf verschiedenen Stämmen Israels stammen (vgl. z.B. die beiden Brüderpaare), sondern der Zwölferkreis als Ganzes steht für das Gesamtvolk Israel.30 Die Zwölf sind also nicht nur die chronologisch ersten Glieder und somit der „Kern“ des Volkes Gottes, sondern sie bilden aufgrund ihrer Zwölfzahl die Ganzheit des Volkes ab.31 Wenn nun die zwölf Jünger – als Repräsentanten des wiederhergestellten Volkes Israel – von dem davidischen Messias Jesus ausgesandt werden, zu den verlorenen Schafen Israels zu gehen, so werden sie dazu beauftragt, aus der Nation Israel weitere Mitglieder für das „neue“ Gottesvolk bzw. das „wahre“ Israel, das sich nun um Jesus versammelt, zu gewinnen.32