Die zwölf Jünger Jesu

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1.2.3 Kritische Anfragen an die redaktionskritischen Deutungen der zwölf Jünger

Die folgenden kritischen Anfragen richten sich insbesondere an zwei zentrale Prinzipien der klassischen redaktionskritischen Methodik, welche die inhaltliche Interpretation der zwölf Jünger Jesu bestimmt haben. Das erste methodische Prinzip lautet: der Text ist ein transparentes „Fenster“ für eine konkrete Gemeindesituation. Dieses Prinzip hat dazu geführt, dass die zwölf Jünger Jesu zu typischen Jüngern erklärt wurden, die für die mt Gemeinde transparent seien. Und das zweite Prinzip lautet: der Redaktionsstoff des Textes ist theologisch relevant, der Traditionsstoff hingegen ist theologisch weniger oder überhaupt nicht relevant. Dieses Prinzip hat dazu geführt, dass die konkreten zwölf Jünger des mt Endtextes für theologisch irrelevant erklärt wurden bzw. ihre theologische Relevanz auf ihr typisches Jünger-Sein beschränkt wurde, und dass die „Zwölf“ mit den „Jüngern“ gleichgesetzt wurden.

1.2.3.1 Kritische Anfragen an den Text als „Fenster“ und die Transparenz der (zwölf) Jünger

Zur Existenz der sogenannten „Gemeinde des Matthäus“. In der Evangelienforschung ging man lange Zeit nahezu selbstverständlich davon aus, dass die Evangelisten an jeweils eine konkrete Einzelgemeinde schrieben. Richard Bauckham hat im Jahr 1998 den Sammelband The Gospels for All Christians: Rethinking the Gospel Audiences herausgegeben, in dem er gemeinsam mit Loveday Alexander, Stephen C. Barton, Richard Burridge, Michael B. Thompson und Francis Watson diesen Forschungskonsens in Frage stellte.1 Bauckham schlägt dort vor, dass die Evangelisten ihre Schriften an alle damaligen christlichen Gemeinden adressierten. Im Jahr 2000 erschien Martin Hengels The Four Gospels and the One Gospel of Jesus Christ,2 worin er sich ebenfalls für eine breite Adressatenschaft aller vier Evangelien aussprach und in diesem Zuge die Vorstellung ablehnte, dass die Evangelien die (theologischen) Vorstellungen einzelner Gemeinden widerspiegeln würden.3 Ein weiterer prominenter Neutestamentler, der dem langjährigen Forschungskonsens widersprach, war Graham Stanton im Jahr 1992 mit A Gospel for a New People: Studies in Matthew.4 Man kann feststellen, dass Bauckhams Sammelband eine Debatte angestoßen hat, die noch andauert.5 Die wohl wichtigste Veröffentlichung, die diese Debatte weiterführt, ist der im Jahr 2010 von Edward W. Klink III herausgegebene Sammelband The Audience of the Gospels: The Origin and Function of the Gospels in Early Christianity.6 Ein Beitrag dieses Sammelbandes, derjenige von Craig Blomberg, ist besonders erwähnenswert, weil er zwischen dem „alten“ Forschungskonsens und der „neuen“ These vermitteln könnte: Mt schreibe an eine bestimmte mt Gemeinde und zugleich an alle anderen Gemeinden.7 Sollte nun die von Bauckham und anderen Neutestamentlern vertretene These, dass Mt nicht (nur) an die eine mt Gemeinde geschrieben habe, richtig sein, dann müssten konsequenterweise die Gemeinderekonstruktionen der klassischen redaktionskritischen Studien zumindest kritisch überprüft werden.8

Zur Gattung des MtEv. Ein Argument gegen die These, dass die Evangelien an einzelne Gemeinden gerichtet sind, lässt sich speziell gegen die transparente Interpretationsweise anführen: Im Gegensatz zu (den ntl) Briefen, in denen die Adressaten und ihre Situation häufig explizit benannt sind, gehören die Evangelien zu einer Gattung, bei denen das eben nicht der Fall ist.9 Luz hatte in seinem Artikel „Fiktivität und Traditionstreue im Matthäusevangelium im Lichte griechischer Literatur“ (1993) festgestellt, dass es auch in der griechischen Literatur Werke gebe, die „doppelbödig“ seien und wie das MtEv allegorisch gelesen wurden.10 Tobias Hägerland widersprach dem in „John᾽s Gospel: A Two-level-drama?“ (2003): die allegorische Lesart gelte nur für griechische Romane, die sich aber von den ntl Evangelien deutlich unterschieden.11 Ebenso wie Richard Burridge oder Dirk Frickenschmidt stuft Hägerland die Evangelien als βίοι bzw. als antike Biographien ein.12 Marius Reiser dagegen sieht nur wenige Analogien zwischen den Evangelien und paganen Biographien. S.E. sind die Evangelien eher mit jüdischen Werken (des AT) vergleichbar, solchen die ebenfalls „doppelbödig“ sind.13 In diese Richtung weist auch Armin D. Baum mit seiner These, dass die Evangelien am ehesten mit den biographischen Abschnitten in atl und rabbinischen Schriften vergleichbar sind.14 Sollte Baums Kategorisierung zutreffen, so wäre damit allerdings nicht gesagt, dass diese Gattung eine Doppelbödigkeit kennzeichne und eine allegorische Lesart gestatte oder gar notwendig mache.

Zur Existenz externer und interner Evidenzen. Für eine präzise und historisch gesicherte Rekonstruktion der sogenannten Gemeinde des Mt fehlen externe Evidenzen. Deswegen ist der Mt-Forscher gezwungen sich mit textinternen Evidenzen zu begnügen. Das aber ist eine schwierige Ausgangsposition, weil jegliches Gemeindebild auf einem hermeneutischen Zirkelschluss basiert und lediglich als ein hypothetischer Rekonstruktionsversuch angesehen werden kann.15 Es ist zwar unstrittig, dass das literarische Werk und das soziale Umfeld, in dem es entsteht, sich wechselseitig prägen, aber es bleibt häufig unklar, ob ein Element des literarischen Werkes in Bezug auf die Gemeindesituation weltbildend oder weltabbildend ist, oder um es auf Luz᾽ Unterscheidung anzuwenden: ob eine mt Passage „indirekt“ oder „direkt“ transparent ist.16 Auch das Bemühen, entweder von der redaktionellen Veränderung oder von der redaktionellen Bestätigung des Traditionsstoffs auf den gemeindlichen status quo zu schließen, den der Redaktor entweder verändern oder bestätigen möchte, resultiert nicht selten in mehrdeutigen oder gar sich widersprechenden Gemeindebildern.17

Zu den Personenzuweisungen innerhalb der Mt-Forschung. Die nicht unerheblich divergierenden Personenzuweisungen in der Mt-Forschung wecken Zweifel an der Plausibilität einer Interpretationsweise, bei der der Text ein „Fenster“ ist:18 Das jüdische Volk steht entweder für judenchristliche Gemeindeglieder (so z.B. Minear oder Thysman), für heidenchristliche Gemeindeglieder (so z.B. Gundry19) oder für das jüdische Volk, unter dem die Gemeinde versucht zu missionieren (so z.B. Cousland). Die Jünger stehen entweder für die Gemeindechristen (so z.B. Luz, Bornkamm, Hummel u.v.a.) oder Gemeindeleiter (so z.B. Thysman oder Minear). Petrus steht entweder für den typischen Gemeindechristen (so z.B. Schweizer oder Trilling) oder für den Gemeindeleiter (so z.B. Overman oder Frankemölle). Die „Schriftgelehrten“ stehen für christliche Schriftgelehrte und Lehrer in der Gemeinde (z.B. Trilling), die „Propheten“ stehen für christliche Propheten, usw. Frankemölle wiederum leugnet überhaupt die Existenz von Lehrern oder Propheten in der Gemeinde, sie sind s.E. historische Größen. Diese Liste der divergierenden Personenzuweisungen ließe sich fortsetzen.

Zu den Beschreibungen der Gemeindesituation innerhalb der Mt-Forschung. Die schwierige Aufgabe, die analogen Elemente zu bestimmen, d.h. die transparenten Elemente von den nicht-transparenten Elementen zu trennen, betrifft nicht nur Personen, sondern auch Situationen, die im MtEv beschrieben werden. Diese fehlende Konkretheit lässt sich sehr gut an Bornkamms Sturmstillungs-Auslegung und am folgenden Vergleich zwischen Bornkamms und Luz᾽ Interpretationsweise veranschaulichen. Bornkamm hatte die mt Erzählung von der Seenot der Jünger in ihrem Boot (Mt 8,23ff) in hermeneutisch-allegorischer Weise auf die mt Kirche (= Schiff) und ihre Nöte (= Sturm) gedeutet. M.E. ist das aber eine unbegründete Analogie: Warum sollte das Bild „Schiff“ auf die Kirche verweisen, war das etwa eine schon im 1.Jh. bekannte Metapher? Wäre es nicht ebenso denkbar, dass der Bezug zur Erzählung wesentlich konkreter gewesen war, d.h. andere Elemente, als die von Bornkamm angenommenen, könnten transparent sein? Rein hypothetisch betrachtet könnte der Evangelist innerhalb der Gemeinde eine Gruppe von Berufsfischern vorgefunden und sie mittels dieser Sturmstillungs-Perikope aufgefordert haben, sogar bei Sturm beruhigt auf See zu fahren, weil der auferstandene Jesus sie stets vor dem Untergang beschützen würde. Welche Kriterien würde Bornkamm anführen können, dass sein Blick hinter die „Kulissen“ der richtigere ist (und die Not der Jünger stärker abstrahiert werden muss, um eine Not im allgemeinen Sinne zu beschreiben, bestehend aus Konflikten, allgemeinen Sorgen usw.)?20 Eine nicht unübliche Deutung des redaktionell auffälligen „Kleinglaubens“ im MtEv kann veranschaulichen, dass man sich die Konkretheit des aktuellen Bezugs zur Heilungserzählung immer unterschiedlich stark ausgeprägt denken kann. Luz hatte die Betonung des Glaubens (gegen den Kleinglauben) in den Heilungsgeschichten als Reaktion auf eine besondere aktuelle Gemeindesituation gedeutet, nämlich das Ausbleiben von Geist-Erfahrungen bzw. von Wundern trotz ihres Gläubig-Seins. Also habe Mt eine begriffliche Unterscheidung geschaffen, indem er „Kleinglaube“ als Kennzeichen fehlenden Vertrauens, bei gleichzeitigem Glauben an Jesus, einführte.21 Luz’ Erklärung, dass Wunder ausblieben, scheint weniger stark vom Text abstrahiert (oder allegorisiert) zu sein, als Bornkamms Erklärung, dass die Gemeinde unter Sorgen und Nöten litt.

Zur Konsistenz innerhalb einzelner Forschungsarbeiten. Ab und an fehlt innerhalb einer transparenten Interpretation die innere Konsistenz. Frankemölle z.B. scheint konsequent vorzugehen, wenn er die Unterschiede der Personen untereinander, die sich auf der Textebene zeigen, analog auf die Gemeinde überträgt: Petrus muss für den Gemeindeleiter stehen, weil die Jünger bereits den Platz für die Gemeindechristen besetzen. Z.B. folgt Overman zwar Frankemölle in dieser Personenzuweisung, aber er ist inkonsequent, weil die Jünger in einem Fall für die gesamte Gemeinde stehen, im anderen Fall für einzelne, besonders autorisierte Lehrer, die die Gemeinde belehren.22

 

Zur Bedeutung des Kontextes für die Referenzbestimmung. Das nicht selten anzutreffende Argument, dass ein bestimmter Begriff wie z.B. „Jünger“ Transparenz schaffe, ist textlinguistisch fragwürdig. Denn der jeweilige textuelle Kontext entscheidet, welchen semantischen Gehalt ein Begriff hat und auf welchen Referenten der Begriff bezogen ist. Man darf nicht stattdessen eine pauschale Zuordnung vornehmen, dass der semantische Gehalt eines Begriffs in jedem Kontext derselbe sei. Beim Begriff „Jünger“ sollte man sich also jeweils fragen, ob er einen idealen oder allgemeinen oder einen konkreten „historischen“ Jünger beschreibt. Z.B. ist es in Mt 28,19 offensichtlich, dass von allgemeinen Personen die Rede ist, die durch die Mission der konkreten historischen „elf Jünger“ (28,16) zu „Jüngern“ werden, denn sie stammen aus „allen Völkern“ und sind unbestimmt. Ebenso ist in 12,46-50 ein „idealer“ Jünger gemeint. Deswegen darf man aber nicht schlussfolgern, dass automatisch an allen anderen Jünger-Stellen des MtEv diese allgemeinen Jünger, evtl. inklusive späterer Gemeindechristen, gemeint seien. Eine ähnliche pauschale Übertragung findet sich bei Luz’ Auslegung von Mt 10.23 Seine Argumentation verläuft so: Weil der Begriff „Jünger“ (auch an anderer Stelle) transparent sei, d.h. einen allgemeinen Gemeindechristen adressiere, stehe er im Kontrast zum Begriff „Apostel“. Deswegen wolle Mt keine vergangene Geschichte der Zwölf erzählen, sondern die Gemeinde adressieren. An diese Argumentation lässt sich die kritische Rückfrage richten: bezieht sich der Begriff „Jünger“ in diesem Kontext nicht eindeutig auf die Referenzgröße der Zwölf, die hier „Jünger“ und „Apostel“ genannt werden?24 Auch der Begriffswechsel vom mk „Zwölf“ zum mt „Jünger“ ist für sich allein noch kein Beweis für den Gegenwartsbezug von „Jünger“.25 Ebenso wenig wie ein Begriffswechsel von „Jünger“ zu „Zwölf“ für sich allein (!) ein Beweis für die „Historisierung“ von „Jünger“ wäre. Das gilt auch für die Begriffe „Apostel“,26 „Brüder“ und „Kleine“ oder für das Verb „zu Jüngern machen“. Der Kontext entscheidet, wer jeweils gemeint ist. Der Begriff an sich schafft keine Transparenz.27 Deswegen sollte man zurückhaltend sein mit der Aussage, dass „Jünger“ ein ekklesiologischer terminus sei, selbst wenn sich der Gemeindechrist (normalerweise?) mit den Jesusjüngern identifizieren dürfte. Einerseits belegen die 28 Vorkommen von μαθητής und das einmalige Vorkommen von μαθητεύω in Apg, dass auf diese Weise die „normalen“ Anhänger Jesu bzw. Angehörige der christlichen Gemeinden bezeichnet wurden (wohl in Entsprechung zu μαθητής in LkEv). Andererseits fehlt μαθητής interessanterweise als Bezeichnung der Christen in den Schriften des NT, die auf Apg folgen. Jedenfalls ist festzustellen, dass es keine externen Quellen gibt, die belegen, dass die Leser des MtEv tatsächlich „Jünger“ genannt wurden.

Zum Zusammenhang zwischen Gesamttext und Einzelpassagen. Das Kontextprinzip, nämlich, dass die Bedeutung und Referenz eines einzelnen Begriffs von der ihn umschließenden Passage abhängen, gilt in gleicher Weise für die einzelne Textpassage und den ihn umschließenden (Gesamt-) Text. Die redaktionskritische Forschung hingegen teilt normalerweise den Gesamttext in einzelne Textpassagen, die wie eine Reihe kleiner Einzelfenster jeweils Blicke auf vereinzelte Aspekte der Gemeindesituation gestatten (diachrone Interpretation).28 Dieses Textverständnis nennt der Sprachwissenschaftler Harald Weinrich „Text-Metaphorik“.29 Demnach wäre der Text eine Metapher für eine historische Situation.30 Aus der redaktionskritischen Textsegmentierung folgt mindestens zweierlei, wobei der zweite Punkt besonders wichtig ist: Erstens. Gelegentlich werden diese einzelnen Aspekte im nächsten Schritt wieder so zusammengefügt, um eine bestimmte Entwicklung in der Gemeinde nachzuzeichnen. Leider fehlt in den oben besprochenen Veröffentlichungen eine methodische Reflexion über Kriterien, die darüber bestimmen, welche Reihenfolge die Einzelaspekte in der Entwicklung einnehmen. So stellt sich die kritische Rückfrage: Warum soll es in der mt Gemeinde eine Bewegung hin zur Institutionalisierung und Hierarchisierung geben, der der Evangelist ein egalitäres Gemeindeverständnis entgegen stellt?31 Könnte der Text nicht auch eine umgekehrte Bewegungsrichtung beschreiben? Zweitens. Der Text wird in verschiedene Einzelfenster aufgeteilt, um hinter ihnen die soziale (Amts-) Struktur der Gemeinde zu entdecken. Diese Aufteilung machen verschiedene Personenbezeichnungen des MtEv möglich, wie z.B. „Propheten“, „Jünger“, „Schriftgelehrte“. Dann wird z.B. der Begriff „Jünger“ als ein Einzelfenster behandelt, durch das man die mt Gesamtgemeinde sehen könne. Der Begriff „Propheten“ ist dann ein Einzelfenster für ein bestimmtes Amt innerhalb der mt Gesamtgemeinde. Das Problem einer solchen Einzelfenster-Methodik besteht darin, dass womöglich Personen (und Situationen) auseinandergerissen werden, die auf der Textebene zusammengehören, weil sie sich auf dieselbe textuelle Referenzgröße beziehen. Das hängt mit einem etwas grundsätzlicheren Problem zusammen: Wer das Evangelium als ein transparentes Fenster auf die dahinter liegende Gemeindewelt behandelt, steht in der Gefahr die textuelle Ebene zu übersehen.32 Es wäre also methodisch angemessener, im ersten Schritt den Gesamttext in den Blick zu nehmen und die theologische Bedeutung und Funktion eines Aspekts auf der textuellen Ebene zu untersuchen.33 Das bedeutet im Übrigen, dass auf der Textebene alle Textelemente (theologisch) relevant sind. Wendet man dieses Prinzip der synchronen Lektüre auf Personen des MtEv an, resultieren daraus kritische Anfragen an einige Positionen, die vorgestellt wurden. Erstes Beispiel: Beachtet man den kontextuellen Zusammenhang, dann referieren vielleicht die verschiedenen Begriffe aus Mt 13,52 und 23,34 auf die Jünger selbst, und nicht auf spätere voneinander unterschiedene Personengruppen.34 Zweites Beispiel: Gerhard Barth hatte aus 5,17-19 geschlossen, dass der Evangelist eine antinomistische Gruppe innerhalb der Gemeinde bekämpfe.35 Wäre es nicht wahrscheinlicher von 5,20 her zu schlussfolgern, dass gemeindefremde jüdische Schriftgelehrte und Pharisäer den gläubigen Lesern des MtEv unterstellen, Jesus hätte das Gesetz abgeschafft, woraufhin Mt mit 5,17-20 antwortet?36 Drittes Beispiel: Die Begriffe „Prophet“, „Kleinster“, „Gerechter“ und „Jünger“ aus Mt 10 referieren möglicherweise auf die zwölf Apostel (10,1; 11,1).37

Zur (schiefen) Analogie zwischen irdischer Jesus – auferstandener Christus einerseits und historische Jünger – Gemeindechristen andererseits. Wendet man die Frage nach den sich entsprechenden Personen auf den Spezialfall „Jünger“ an, so begegnet z.B. bei Luz folgendes Argument: die Jünger seien transparent für die Gemeinde, weil ebenso der irdische Jesus und der auferstandene Jesus in einer Kontinuität zueinander stünden.38 Diese Schlussfolgerung basiert auf einer Parallelisierung der Jünger mit Jesus:39 Die Einheit des historischen Jesus und des auferstandenen Christus sei die Grundlage dafür, dass sich auch die nachösterlichen Christen als „Jünger“ bezeichnen könnten, die selbst nicht Jesu historische Jünger gewesen waren. Ein wahrer Christ bzw. Jünger halte sich an die Lehren des irdischen Jesus. M.E. lässt sich aus Mt 28,20 zu Recht ableiten, erstens dass der auferstandene Christus auf eine ähnliche Weise „mit“ den nachösterlichen Rezipienten des MtEv ist, wie zuvor der irdische Jesus „mit“ den historischen Jüngern war. Und zweitens, dass sich die nachösterlichen Rezipienten an den historischen Jesus und seine Gebote halten müssen. Nichtsdestoweniger stellt Luz in seinem Argument eine nicht ganz zutreffende Verbindung beider Personengruppen her. Denn: Einerseits ist Jesu ewige Gegenwart eindeutig im Text ausgesagt, und Christen bzw. spätere „Jünger“ konnten von daher zu Recht ihre unterschiedlichen „Erfahrungen“ auf den erhöhten Christus zurückführen und diese etwa als Begegnung mit ihm deuten. Andererseits – und das ist der entscheidende Punkt – kann allein die Einzelperson Jesus Christus kontinuierlich sein, nicht jedoch der historische Jesusjünger. Vielmehr gibt es wesentliche diskontinuierliche Momente zwischen den historischen Jüngern und der Gemeinde, so dass die Gemeindechristen nicht ohne weiteres die Zeit „überspringen“ und mit den historischen Jüngern „gleichzeitig“ werden konnten, obwohl beide Gruppen sich an den historischen Jesus halten sollten.

Zu den nicht-transparenten Elementen bei den zwölf Jüngern. Auf der Textebene sind Elemente vorhanden, die eine besondere Funktion der historischen Zwölf beschreiben und deswegen nicht ohne weiteres, keinesfalls in Form einer Eins-zu-Eins-Korrespondenz, auf nachösterliche Gemeindechristen übertragbar sind.40 Einige dieser Elemente werden in den nachfolgenden Kapiteln dieser Arbeit besprochen werden. Man denke z.B. an Mt 10,1-16: an die Namenliste der zwölf Jünger, den „Apostel“-Titel, den partikularistischen Missionsbefehl und die Wundertaten. Es wäre nicht angemessen, zu behaupten, dass alle „einmaligen“ und schwer übertragbaren Elemente der Zwölf verbliebene historische „Reste“ seien, für den sich der Evangelist nicht (wirklich) interessiere.41 Aus der Sicht des Zwei-Phasen-Modells und aus der Sicht einer konsequenten Transparenz-Lesart müsste man (noch konsequenter) der Frage nachgehen, warum diese Elemente im MtEv überhaupt noch vorhanden sind, wenn sie für die Gemeinde irrelevant sein sollen: Warum wurde z.B. der Ausdruck „Apostel“ samt der Namenliste der Zwölf nicht gestrichen? Warum ist z.B. die Beschränkung auf die Mission in Israel noch vorhanden? Sind sie inkonsequente Überbleibsel der redaktionellen Arbeit oder (theologisch und / oder historisch) bewusst übriggelassen worden?

Schlussfolgerungen zur Transparenz der (zwölf) Jünger. Es lassen sich einige kritische Anfragen an eine pauschale und starre Verbindung von textuellen Personen und realen Personen im Sinne einer prinzipiellen Transparenz formulieren. Es ist zwar durchaus vorstellbar, dass der Evangelist Mt den Begriff „Jünger“ gezielt gewählt hat, um es dem christusgläubigen Leser / Hörer des MtEv zu erleichtern, an die Jünger des Textes anzuknüpfen. Dafür sprächen deutlich erkennbare Parallelen zwischen diesen beiden Personengruppen. Aber die Wahl des Begriffs „Jünger“ muss man nicht mit „Transparenz“ oder „ekklesiologischer terminus“ bezeichnen. In Alternative dazu könnte man davon sprechen, dass Mt durch diese Begriffswahl die jeweilige Person des Textes für Identifikation und Kontinuität „öffnet“, dem Leser sozusagen ein „Rollenangebot“ macht, indem er ihm „Anknüpfungspunkte“ ermöglicht. Nichtsdestoweniger greift die Transparenz-These zu kurz, weil der implizite Leser von allen Figuren lernen kann, selbst von den viel gescholtenen Pharisäern in Mt 23.42 Denn alle Figuren, inklusive der Jünger, beurteilt der Leser am Maßstab Jesu: wer sich an Jesus als seinem Vorbild orientiert, ist der „wahre“ Jünger.43 Dabei bleibt auch für den Leser eine je verschieden große „Distanz“ zu den unterschiedlichen Figuren, sogar zu den Jüngern. Die Distanz des „allwissenden“ Lesers zu den Jüngern entsteht nicht nur durch das gelegentliche „nicht-Jesus-gemäße“ Verhalten der irdischen Jesusjünger wie sie im MtEv beschrieben sind, sondern auch durch historisch unwiederholbare Elemente. Was aber übertragbar und anwendbar ist, wird das nachösterliche Gemeindeglied bzw. die Gemeinde (-Leitung?) je und je entscheiden müssen. Es ist vorstellbar, dass der Evangelist Mt in einigen Passagen den „Zugang“ für seine Adressaten „geöffnet“ und in anderen Passagen „geschlossen“ gehalten hat. Man kann also nicht generell behaupten, dass alles, was über die „Jünger“ gesagt ist, eins zu eins über die Gemeinde gesagt wird. Die kritischen Anfragen an die Transparenz-These sind nicht notwendigerweise gegen eine Rekonstruktion des „Sitz im Leben“ des MtEv gerichtet. Vielmehr ist eine gewisse Zurückhaltung angebracht, gegenüber dem (zu) stark dominierenden Paradigma, dass die Jünger transparent seien für Gemeindeglieder oder Gemeindeleiter. Man wird dem Text eher gerecht, wenn man die Jünger zunächst auf der Textebene analysiert, statt sie (vorschnell und) grundsätzlich einer realen Personengruppe der Adressaten zuzuordnen und anschließend im Bewusstsein dieser Verknüpfung die Jüngerstellen zu lesen.44 Zu dieser Analyse der Jünger auf der Textebene gehört es, aus ihnen und anderen Einzelfiguren und Figurengruppen eine Figurenkonstellation zu erstellen (vgl. Anhang [online], Exkurs 2). Eine synchrone Analyse eines theologischen Aspektes auf der Grundlage des Gesamttextes umgeht die oben diskutierten Probleme, die sich bei einer Fenster-Methodik ergeben. Die Ergebnisse der synchronen Analyse lassen sich am Text selbst überprüfen und begründen. Zudem wurde bereits oben darauf hingewiesen, dass die eigentliche „Theologie“, die der Autor seinem Leser durch den Text kommuniziert, im Text als Gesamtgröße enthalten ist.