Die zwölf Jünger Jesu

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2.1 Paradigmatische Relationen

Man kann sowohl auf der Sprachsystemebene (auch „langue“ genannt) als auch auf der Sprachverwendungsebene (auch „parole“ genannt) die paradigmatischen Relationen von Wörtern bestimmen.1 Auf der Sprachsystemebene gibt es folgende Relationsarten zwischen zwei Wortbedeutungen (siehe folgende Skizze, in entsprechender Reihenfolge): „absolute Synonymie“ (Modell 1: 100 % Überschneidung),2 „teilweise Synonymie“ (Modell 2: <100% Überschneidung, z.B. „schön“ – „hübsch“), „Hyponymie“ (Modell 3, z.B. ist beim Wort „Hund“ impliziert, dass es ein „Tier“ ist), „Antonymie“ (Modell 4, z.B. die beiden gegensätzlichen Wörter „ledig“ – „verheiratet“) und „Contiguity“ (Modell 5, z.B. „Hund“ – „Katze“ oder „rennen“ – „gehen“).3


Modell 1 Modell 2 Modell 3 Modell 4 Modell 5

Alle diese Relationsarten zwischen zwei Wortbedeutungen können wiederum in einer hyponymen Relation zu einem dritten Wort stehen, dem „Hyperonym“, sie selbst wären dann „Kohyponyme“ (z.B. „Hund“ – „Katze“ als Kohyponyme zum Hyperonym „Tier“). Der wesentliche Unterschied zwischen der Sprachsystemebene und der Sprachverwendungsebene liegt darin, dass Wörter, die im Sprachsystem nicht zur Relationsart Synonymie gehören, in der konkreten Sprachverwendung Synonyme sein können. Das ist allerdings nur bei den ersten drei Relationsarten der Sprachsystemebene möglich, weil nur diese sich – ganz oder teilweise – überlappen. D.h. im Umkehrschluss, dass kontextbedingte Synonymie nur bei „Antonymie“ und „Contiguity“ unmöglich ist (z.B. sind „ledig“ und „verheiratet“ niemals austauschbar). Der Unterschied zwischen der Sprachsystemebene und der Sprachverwendungsebene bezüglich Synonymie erklärt sich folgendermaßen: Auf der Sprachverwendungsebene ist es möglich, dass in einem bestimmten Sprachkontext verschiedene Ausdrücke, die unterschiedliche Bedeutungsmerkmale aufweisen (wie z.B. beim Hyperonym – Hyponym-Verhältnis „Tier“ – „Hund“), dieselbe Sache beschreiben und deswegen ohne Informationsverlust wechselseitig austauschbar sind.4 Das impliziert nicht, dass diese beiden Wörter auch in einem anderen Sprachkontext synonym sein müssen. Denn im Fall der Synonymie bestimmt der konkrete Sprachkontext durch Vermittlung zusätzlicher Informationen (syntagmatische Ebene) welcher Teil der lexikalischen Bedeutung(en) im Vordergrund steht, so dass eine gemeinsame Schnittmenge zur Anwendung kommt (z.B. die paradigmatischen „going to“ und „flying to“ in den Sätzen „I’m flying to New York“ oder „I’m going to New York by air“ sind kontextabhängige Synonyme durch das syntagmatische „by air“.).5 Vermittelt aber der Kontext keine zusätzlichen Informationen (z.B. wenn „by air“ fehlen würde), dann sind Wörter, die auf der langue-Ebene in der Relationsart „teilweise Synonymie“ oder „Hyponymie“ zueinander stehen, konsequenterweise keine (kontextbedingte) absolute Synonyme und dürfen nicht austauschbar verstanden werden (weil der Satz „I’m flying to New York“ mit „flying“ eine spezifischere Information enthält).

Überträgt man diese linguistischen Unterscheidungen auf das Verhältnis zwischen „zwölf Jünger“ bzw. „die Zwölf“ bzw. der „Apostel“ auf der einen Seite und „Jünger“ auf der anderen Seite, dann muss man ebenso die Sprachsystemebene und die Sprachverwendungsebene unterscheiden: verwendet der Evangelist beide Ausdrucksweisen in einem bestimmten Sprachkontext synonym oder bilden ihre lexikalischen Bedeutungen eine – absolute oder teilweise – Synonymie? Oder trifft eine der vier anderen paradigmatischen Relationsarten auf beide Entitäten zu? Für unsere Zwecke ist nicht das Sprachsystem der Sprachgemeinschaft relevant, in der der Evangelist Mt lebt und spricht, sondern schlichtweg sein eigenes Sprachsystem: was meint Mt im Normalfall mit „Jünger“ und wen bezeichnet er damit? Die Sprachsystemebene und die Sprachverwendungsebene müssen zwar unterschieden werden, sie sind aber keineswegs voneinander getrennt. Denn eine lexikalische Bedeutung ist eine Definition, die aus der Summe aller konkreten Wortvorkommen eines semantischen Wortfeldes resultiert. Will man nun bestimmen, ob bei „Jünger“ auf der einen Seite und „Zwölf (Jünger)“ bzw. „Apostel“ auf der anderen Seite Synonymie vorliegt, dann gilt die Regel: man darf nur dann von einer (absoluten) Synonymie ausgehen, wenn es entweder ebenso auf der Sprachsystemebene absolute Synonymie ist oder aber der sprachliche Kontext enthält zusätzliche Informationen, so dass die Begriffe tatsächlich ohne Informationsverlust austauschbar wären (wie im obigen Beispielsatz die Information „by air“). Der letztere kontextspezifische Fall trifft natürlich nur unter der Voraussetzung zu, dass beide Größen auf der Sprachsystemebene nicht zu den Relationen „Antonymie“ oder „Contiguity“ gehören. Enthält der Kontext aber keine ebensolche Information, dann ist von derjenigen Relation auszugehen, die auf der Sprachsystemebene gilt. Setzt man diese Vorüberlegungen praktisch um, bedeutet das Folgendes: Sinnvollerweise beginnt man mit der Ermittlung des Ausdrucks „die Jünger“. Denn worauf der andere Ausdruck „die Zwölf (Jünger)“ bzw. „Apostel“ im MtEv im Normalfall referiert, weiß der Leser des MtEv, da der Evangelist in Mt 10,2-4 die historisch konkreten und namentlich benannten Mitglieder des Zwölferkreises aufgelistet hat. Allerdings steht hier nicht eine möglichst präzise Definition des Begriffs „Jünger“ im Vordergrund, sondern die Bestimmung des jeweiligen Referenten im MtEv: sind damit immer nur die Zwölf gemeint oder auch andere Personen oder nur andere Personen? Wenn man also die eben aufgelisteten paradigmatischen Relationen auf das Verhältnis von „Jünger“ und „Zwölf“ überträgt, dann ergeben sich auf der Sprachverwendungsebene folgende Möglichkeiten (siehe Skizze, in entsprechender Reihenfolge). Mit μαθητής bzw. μαθηταί können gemeint sein: nur einige Personen der Zwölf, aber auch weitere Personen außerhalb des Zwölferkreises (Modell 1), nur die Zwölf (Modell 2), ein erweiterter Jüngerkreis, der die Zwölf umfasst (Modell 3), nur einige der Zwölf (Modell 4), oder ein Jüngerkreis, der die Zwölf ausschließt (Modell 5).


Modell 1 Modell 2 Modell 3 Modell 4 Modell 5

2.2 Eine kurze Wortstudie zu μαθητής und μαθητεύω im MtEv

Um die Frage, wer im MtEv mit „Jünger“ gemeint sei, angemessen und einfach zu beantworten, sollen zuerst die lexikalische(n) Wortbedeutung(en) von μαθητής und μαθητεύω und danach die jeweiligen textuellen Referenten bestimmt werden.1

2.2.1 Lexikalische Bedeutungen von μαθητής und μαθητεύω

Bauer-Danker-Arndt-Gingrich bietet zu μαθητής zwei verschiedene Definitionen an:1 1. „one who engages in learning through instruction from another, pupil, apprentice (in contrast to the teacher […]) Mt 10:24f; Lk 6,40 […].“ 2. „one who is rather constantly associated with someone who has a pedagogical reputation or a particular set of views, disciple, adherent […].“ Unter der zweiten Definition listet BDAG folgende Gruppen auf:2


a.) Jünger: des Johannes, des Moses, der Pharisäer, des Polykarp
b.) Jünger Jesu
α.
β. Jesu Jünger, Männer und Frauen, allgemein (keine Stelle aus dem MtEv, sondern lediglich: Lk 6,17; 19,37; 7,11; Joh 6,66)
γ. Nachösterliche Jünger, nahezu mit „Christen“ gleichzusetzen (Stellen aus Apg)
δ. Märtyrer als „wahre Jünger“ des Herrn

Bauer-Aland weist – wie zu erwarten – große Ähnlichkeiten zu μαθητής in BDAG auf. Allerdings fehlen BA die Definitionen der Begriffe.4 Auch BA nennt zwei Bedeutungen: 1. „Allg. der Lehrling, d. Schüler (im Gegensatz zum Lehrer).“ Belegstellen sind Mt 10,24 und Lk 6,40. 2. „d. Jünger, d. Anhänger […; VL.], oft mit Angabe dessen, dem man anhängt […]“ [Kursiv im Original]. Unter der zweiten Bedeutung hat BA dieselben Personengruppen, Bibelstellen und Erläuterungen wie BDAG (s.o.).

 

LN kennt bei μαθητής ebenfalls zwei Bedeutungen:5 Die erste Bedeutung gehört zum semantischen Wortfeld von „Learn“ und lautet: „a person who learns from another by instruction, whether formal or informal – ,disciple, pupil‘.“ Dieser Ausdruck sei ein Derivativ des Verbs μανθάνω:6 Die zweite Bedeutung ist einem anderen semantischen Wortfeld zugeordnet, nämlich „Follow, Be a Disciple“ und lautet: „a person who is a disciple or follower of someone – ,disciple, follower‘.“ Auch diese Bedeutung sei ein Derivativ, des Verbs μαθητεύω.7

Vergleicht man nun die Lexika BDAG / BA und LN miteinander, so fallen mindestens vier Punkte auf: Alle nennen zwei Bedeutungen zu μαθητής, erstens den Schüler und Lehrling (engl. „pupil“) und zweitens den Jünger bzw. Anhänger (engl. „adherent“ oder „follower“). Die erste Bedeutung wird im Schul- und Lernkontext gebraucht, die zweite in einem Nachfolgekontext. Zweitens ist besonders bemerkenswert, dass BDAG / BA mit Mt 10,24 und Lk 6,40 nur zwei Bibelstellen der ersten Bedeutung zuordnen, aber diverse Stellen und Gruppen, auf die die zweite Bedeutung zutrifft. Drittens fällt auf, dass sich die beiden lexikalischen Bedeutungen inhaltlich stark überschneiden, auch bei LN, wo der Ausdruck μαθητής zwei verschiedenen semantischen Wortfeldern zugeordnet wird, was u.a. an den Definitionen der beiden dazugehörenden Verben gut erkennbar ist. Und viertens fällt auf, dass BDAG / BA nicht nur mit dem Ausdruck „seine zwölf/elf Jünger“, sondern auch mit den Ausdrücken „seine Jünger“ und „die Jünger“ den Zwölferkreis bezeichnet sehen, wobei sie bei „seine Jünger“ an der genauen Identität der gemeinten Personengruppe zweifeln.

Das Verb μαθητεύω taucht im NT nur vier Male auf, davon drei Male im MtEv, nämlich in Mt 13,52; 27,57 und 28,19.8 Laut BA hat das Verb – je nach textkritischer Lesart in 27,57 – zwei oder drei Bedeutungen: Ist es intransitiv, so in einer Lesart von 27,57, nämlich ἐμαθητεύσεν, dann bedeute es „Schüler, Jünger sein“.9 Ist es ein passivisches Deponens, so in der alternativen Lesart von 27,57, nämlich ἐμαθητεύθη, sowie in 13,52 μαθητευθείς, dann bedeute es „Jünger werden, belehrt werden“. Und ist es transitiv, so in 28,19 μαθητεύσατε und in Apg 14,21 μαθητεύσαντες, dann bedeute es „zum Jünger machen, in d. Schule nehmen, belehren“.10 LN ordnet μαθητεύω zwei nahe beieinander liegenden semantischen Feldern zu. Erstens unter 36.31 gemeinsam mit ἀκολουθέω: „to be a follower or a disciple of someone, in the sense of adhering to the teachings or instructions of a leader and in promoting the cause of such a leader – ,to follow, to be a disciple of.‘“ Hierzu gehört laut LN Mt 27,57. Dieses Verb sei ein Derivativ von μαθητής (vgl. bei LN 36.38). Und zweitens findet sich μαθητεύω bei LN unter Wortfeld-Nummer 36.37: „to cause someone to become a disciple or follower of – ,to make disciples, to cause people to become followers.‘“ Hierzu zählt LN Mt 28,19. Weil das Verb semantisch mit dem Substantiv μαθητής eng verbunden ist, ist es nicht sinnvoll, das Verb bei irgendeinem seiner drei Vorkommen im MtEv im aktiven Sinne „belehren“ oder im passiven Sinne mit „belehrt werden“ zu übersetzen. Denn das Jünger-Sein umfasst mehr als nur das Belehrt-Werden: dazu gehören Aspekte wie der Ruf in die Nachfolge, sodann das facettenreiche Leben in der Nachfolge, inklusive dem Halten von Geboten (vgl. 28,19f). Deswegen bietet es sich an, die beiden Übersetzungsäquivalente und Bedeutungsdefinitionen anzunehmen, die LN vorgeschlagen hat.

2.2.2 Bestimmung der Referenten von μαθητής und μαθητεύω im MtEv

Das Substantiv μαθητής sticht durch sein vergleichsweise häufiges Vorkommen von 72 Malen ins Auge.1 1a. Der Großteil der Vorkommen ist eine Kombination von μαθητής und einem Artikel (v.a. οἱ), oder einem possessiv gebrauchten Personalpronomen (es kommen alle drei Personen im Singular vor) oder dem Adjektiv πᾶς.2 1b. Einen weiteren Teil der Vorkommen bildet eine Kombination von μαθητής und den Zahlen δώδεκα oder ἕνδεκα oder δύο. Während diese beiden Kombinationsarten 1a und 1b eindeutig auf Jesu Jünger bezogen sind, bezieht sich eine dritte Kombinationsart auf andere Jünger: 2. Es gibt Jünger des Täufers Johannes und Jünger der Pharisäer (und evtl. Jünger der herodianischen Politik, vgl. 22,16). 3. Eine weitere Kombinationsart ist zwar inhaltlich in der Nähe der ersten Kombinationsart zu verorten, weil Jesus diese Worte spricht und sie indirekt auf seine eigenen Jünger bezieht. Αber diese Kombinationen bilden dennoch eine eigene Gruppe, weil sie sehr allgemein ein „normales“ Lehrer – Schüler-Verhältnis beschreiben.

Zu 1a: μαθητής + Artikel / + possessives Pronomen / + πᾶς. An allen diesen Stellen lässt der textuelle Kontext eindeutig erkennen, dass auf Jesu Jünger Bezug genommen wird.3 Eine weitere Spezifikation, wer genau jeweils mit „Jünger“ gemeint ist, wird meistens nicht vorgenommen. Für diese Spezifikation des Jünger-Begriffs ist die Entwicklung der verschiedenen Berufungen bis hin zur Liste der zwölf Jünger in Mt 10,2-4 zu beachten. Erstens Mt 5,1: Zum ersten Mal ist in 5,1 von „seinen Jüngern“ (οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ) die Rede. Sie werden vom Volk unterschieden (5,1; 7,28). Dass hier mit „Jünger“ zuallererst die Brüderpaare Petrus und Andreas sowie Jakobus und Johannes gemeint sind, weiß der Leser aufgrund der kurz vorher in 4,18-22 ereigneten Berufung dieser vier Männer.4 Diese Schlussfolgerung wird spätestens in 10,1-4 bestätigt, wo sie „Jünger“ genannt werden (vgl. auch 8,14f). Allerdings darf nicht ausgeschlossen werden, dass weitere Personen sich bis zur Bergpredigt – etwa aufgrund Jesu Wirksamkeit in Galiläa (vgl. 4,23-25) – dem Jüngerkreis angeschlossen hatten. Nimmt man an, dass die Leserichtung von 4,18-22 über 5,1-7,28 hin zu 9,9-13 auch eine Zeitabfolge enthält, darf man annehmen, dass zumindest der Zöllner Matthäus (bis zu seiner Berufung in 9,9) nicht zu diesen „Jüngern“ gehört hat.

Zweitens Mt 8,19.21: Das zweite Vorkommen in 8,21 – ἕτερος δὲ τῶν μαθητῶν [αὐτοῦ]5 – gibt Anlass zur Diskussion. Nimmt man an, dass das textkritisch umstrittene Personalpronomen αὐτοῦ ursprünglich ist, dann wäre hier eindeutig auf einen Jünger Jesu verwiesen. Doch selbst wenn man annimmt, dass αὐτοῦ nicht ursprünglich sein sollte, dann würden diese Jünger höchst unwahrscheinlich einer anderen „Schule“ (z.B. der Pharisäer?) zugehören. Denn der Kontext spricht relativ deutlich für einen Jesusjünger.6 Unabhängig davon, wie man αὐτοῦ textkritisch bewertet:7 der Text legt die Deutung nahe, dass dieser „andere Jünger“ bereits vor seiner Bitte, vorher (d.h. laut ἀκολούθει μοι in V.22: bevor er Jesus nachfolgt) seinen Vater zu begraben, ein „Jünger“ war.8 Stimmt aber diese Deutung, dann hat Jesus ihn in V.22 zu einer anderen „Qualität“ von Jünger-Sein aufgefordert. Der wahrscheinlichste Unterschied zwischen den beiden Jüngerschaftsarten bestünde darin, dass die einen „sesshafte“ und die anderen „nicht-sesshafte“ Jünger sind.9 Doch unabhängig davon, ob diese Deutung und die Schlussfolgerung stimmen oder nicht: es bleibt offen, ob der „andere der Jünger“ Jesu Ruf gehorsam gefolgt war oder nicht, und wenn ja, ob er einer der Zwölf war. Doch im Zusammenhang von 8,21 lässt sich außerdem darüber streiten, ob die Formulierung ἕτερος δὲ τῶν μαθητῶν zum Ausdruck bringt, dass der vorher auftretende γραμματεύς (8,19) ebenfalls ein „Jünger“ ist. BA übersetzt ἕτερος mit „d. andere“ und gibt dazu zwei Bedeutungen an: 1. „Zahl“, wozu 1.a „v. zweien, e. bestimmte Person od. Sache e. andern entgegenstellend“ und 1.b „v. mehreren“ gehören. Bei 1.a findet sich unter α. „(irgend)ein anderer“ unsere Stelle Mt 8,21.10 Ebenso bei LN: ἕτερος in Mt 8,21 findet sich unter 58.37: „pertaining to that which is other than some other item implied or identified in a context“. Es wird dort mit „another of the disciples“ übersetzt. Die zweite Bedeutung von ἕτερος ist laut BA: „ein anderer, andersartiger v. vorhergehenden äußerlich od. innerlich verschiedener“.11 Dem entspricht bei LN ἕτερος unter 58.36: „pertaining to that which is different in kind or class from all other entities.“ Würde man in Bezug auf das Vorkommen in 8,21 von der zweitgenannten Bedeutung bei BA und LN ausgehen, also entgegen ihrer Zuordnungen, dann wäre die Person „andersartig“ oder „verschieden“. Hierbei wäre zu überlegen, was die Vergleichsgröße der „Andersartigkeit“ bzw. „Verschiedenheit“ sein könnte: unterscheidet sich diese Person vielleicht von den anderen, den „üblichen“ Jüngern? Dafür könnte die unmittelbar folgende Genitivkonstruktion τῶν μαθητῶν sprechen. Die Andersartigkeit würde also in der „Qualität“ bzw. in der Art und Weise der Jüngerschaft bestehen. Dafür könnte man nicht nur die Parallele zu 8,19f, sondern auch 8,21f anführen: er möchte zuerst seinen Vater beerdigen und erst danach Jesus nachfolgen. Jesus dagegen beabsichtigt mit seiner Antwort in V.22 die Prioritäten dieses Mannes in seinem bisherigen Jünger-Sein zu verändern. Zwar ist es bei dieser zweitgenannten lexikalischen Bedeutung „andersartig“ zwar nicht wahrscheinlich, aber dennoch nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass der γραμματεύς in V.19 einer der „üblichen“ „Jünger“ war, möglicherweise sogar als Beispiel eines typischen Jüngers funktionieren soll. Dann aber wäre durch einen Vergleich von V.19f und V.21f neu festzustellen, worin genau die Andersartigkeit besteht: ist z.B. einer der beiden ein „besserer“ Jünger als der andere?12 Aber: sowohl BA als auch LN ordnen ἕτερος in 8,21 der anderen lexikalischen Bedeutung zu. BA der ersten Bedeutung „Zahl“, konkret unter 1b. „v. mehreren“. Für ἕτερος als Zahl spricht m.E. insbesondere, dass in 8,19 mit εἷς ebenfalls eine Zahl vorkommt, die bezeichnenderweise unmittelbar vor γραμματεύς steht: ein Schriftgelehrter kommt zu Jesus. Diese Kombination von εἷς und ἕτερος hat die Funktion zwei Elemente zusammen- bzw. einander gegenüber zu stellen:13 der eine Schriftgelehrte und der andere von den Jüngern (vgl. zu dieser Kombination 6,24; hier austauschbar auf Gott oder Mammon bezogen). Zieht man außerdem Lk 18,10 und Apg 23,6 als Parallelen hinzu, könnte man schlussfolgern, dass in 8,19.21 auf der einen Seite der Schriftgelehrte steht und auf der anderen Seite einer der Jünger. ἕτερος könnte man dann theoretisch durch ein zweites εἷς ersetzen (so z.B. in 20,21; das entspräche der Konstruktion ὁ μέν – ὁ δέ). Demnach würde der Schriftgelehrte nicht ebenfalls zu den Jüngern gehören. Diese Deutung ist zwar möglich, aber weniger wahrscheinlich. Denn wenn man wie BA – m.E. zu Recht – ἕτερος in 8,21 als Zahl deutet, nämlich als Bezeichnung des zweiten Elements, was sich z.B. durch „der Zweite“ übersetzen ließe, dann besteht die Möglichkeit, dass die Genitivkonstruktion τῶν μαθητῶν nicht nur auf das zweite Element („der Zweite der Jünger“), sondern auch auf das erste Element bezogen ist („der Erste der Jünger“). Diese Lesart, dass auch der Schriftgelehrte einer der Jünger war, wirkt „natürlicher“.14 Allerdings werden neben grammatischen auch einige inhaltliche Argumente gegen die Deutung, dass auch der Schriftgelehrte ein Jünger sei, angeführt. Erstens: im MtEv sei die Haltung der Schriftgelehrten Jesus gegegenüber meistens negativ. Das trifft zwar zu, aber obwohl der Wunsch des Schriftgelehrten, Jesus überallhin nachzufolgen, den Leser überraschen und zunächst stutzig machen mag, gibt es im näheren Kontext keine stichhaltigen Indizien dafür, auch nicht in Jesu Antwort V.20, dem Schriftgelehrten „falsche“ Motive zu unterstellen. Eine negative Bewertung der Figurengruppe „Schriftgelehrte“ darf nicht dazu führen von vornherein auszuschließen, dass Einzelpersonen von der Mehrheit abweichen können.15 Zweitens können die inhaltlichen Unterschiede zwischen V.19f und V.21f gegen das Jünger-Sein des Schriftgelehrten angeführt werden: zunächst die Anrede διδάσκαλε (so der Schriftgelehrte in V.19) statt κύριε (so der andere Jünger in V.21),16 und dann Jesu Aufforderung ἀκολούθει μοι an den „anderen der Jünger“ in V.22, die hingegen beim Schriftgelehrten fehlt.17 Aber das Fehlen von Jesu Aufforderung ist wenig aussagekräftig. Denn selbst wenn Jesus den Schriftgelehrten nach dem Hinweis auf die Heimatlosigkeit berufen hätte, wüsste man dennoch nicht, ob der Schriftgelehrte die Berufung angenommen hätte.18 Stärker ist das Argument, dass die Anrede Jesu mit διδάσκαλε meistens von „verdächtigen“ Personen ausgeht, nämlich von: Pharisäern (9,11; 12,38; 22,3619), Schriftgelehrten (12,38), Eintreibern der Doppeldrachme (17,24), dem reichen Jüngling (19,16), Herodianern (22,16) und Sadduzäern (22,24).20 Häufig leitet diese Anrede Jesu (kritische) Fragen zu Lehrthemen ein.21 Doch dieses Gegenargument kann relativiert werden. Erstens: Jesus selbst betrachtet sich als διδάσκαλος: in 10,24f redet er zwar allgemein von einem Lehrer – Schüler-Verhältnis, aber im Zusammenhang der Aussendungsrede ist das auf ihn und die zwölf Jünger bezogen; in 23,8 stellt er sich als exklusiver Lehrer seiner Jünger dar, und in 26,18 sollen die Jünger ihn so bei demjenigen vorstellen, der ihnen den Raum für das Passahmahl zur Verfügung stellt. Zweitens: Dass Jesus ein „Lehrer“ ist, geht nicht nur aus diesen Stellen hervor: der Evangelist bezeichnet Jesu Tätigkeit als „lehren“, das Volk erkennt es als solches an und die Pharisäer und Herodianer sind sich dessen ebenso bewusst.22 Demnach ist es nicht ungewöhnlich, dass gerade ein „Schriftgelehrter“ Jesus als διδάσκαλε anredet. Einerseits sieht der Schriftgelehrte in Jesus einen „Fachkollegen“. Andererseits ist Jesus für ihn mehr als das, da er Jesus überall hin nachfolgen, also gewissermaßen in Jesu „Schule“ gehen, möchte. Außerdem sei darauf hingewiesen, dass an 13,51f deutlich wird, wie Jesus „Schriftgelehrsamkeit“ in seinem Jüngerkreis nicht nur toleriert, sondern positiv würdigt (vgl. auch 23,34).23 Und zu κύριος ist zu sagen: Die Bezeichnung κύριος beschreibt im MtEv, dass eine Person „Herr-schaft“ über eine andere Person oder eine bestimmte Sache hat, wobei die Anrede κύριε den eigenen Gehorsam dem Herrn gegenüber normalerweise impliziert.24 Nichtsdestoweniger zeugt diese Anrede eben nicht immer nur von einer richtigen Einsicht und lobenswerten Einstellung zum „Herrn“.25 Man kann als Fazit zu 8,19.21 festhalten: erstens spricht der sprachliche Befund etwas stärker dafür, dass auch der Schriftgelehrte ein Jesusjünger war. Zweitens gibt es keine zwingenden inhaltlichen Gegenargumente. Doch selbst wenn dieses Fazit zum Schriftgelehrten stimmt und er tatsächlich ein „Jünger“ war, so lässt der Text dennoch zwei Fragen unbeantwortet: war der Schriftgelehrte schließlich Jesus in eine heimatlose Jünger-Existenz gefolgt oder nicht? Und wenn ja: gehörte der Schriftgelehrte vielleicht zum Zwölferkreis?

 

Drittens Mt 8,23; 9,10.11.14.19.37: Die folgenden fünf „seine Jünger“ (8,23; 9,10.11.19.37) sowie das einmalige „deine Jünger“ (9,14) verweisen stets im allgemeinen Sinne auf konkrete Personen, die zu Jesus gehören und unterschiedliche Dinge tun. Doch wer genau gehört dazu? Während in 8,23 der Zöllner Matthäus noch nicht dabei ist, ändert sich das ab 9,10. Einerseits gibt es bis einschließlich Mt 9 keinen eindeutigen Beleg dafür, dass eine Person als „Jünger“ Jesu bezeichnet worden war, die außerhalb des späteren Zwölferkreises steht.26 Andererseits darf dieser Befund nicht als Beleg dafür gedeutet werden, dass mit μαθητής nur Personen des späteren Zwölferkreises gemeint waren. Insbesondere die Mehrdeutigkeit von 8,19 und 8,21 sollte verhüten, den Ausdruck μαθητής personell (zu) genau zu füllen.

Viertens Mt 10,1: Eine wichtige Rolle spielt die Frage, ob die „Institution“ Zwölferkreis erst in 10,1 ins Leben gerufen wurde oder schon vorher bestand. Das soll an der entsprechenden Stelle diskutiert werden.27

Fünftens Mt 10,2-4ff: Mt 10 markiert einen wichtigen Einschnitt für das Verständnis von „Jünger“ innerhalb des MtEv, weil hier in 10,2-4 zwölf Personen namentlich aufgelistet und diese Zwölf unmittelbar vorher und nachher als „seine zwölf Jünger“ (10,1: τοὺς δώδεκα μαθητὰς αὐτοῦ; 11,1: τοῖς δώδεκα μαθηταῖς αὐτοῦ) bezeichnet werden. Deswegen gibt es für die Formulierungen „seine Jünger“ und „die Jünger“ nach Mt 10 im Unterschied zu den ersten neun Kapiteln einen Informationsgewinn, weil man statt vier oder fünf nun zwölf Jünger Jesu namentlich kennt. Wenn nun ab Mt 11 allgemein von „den Jüngern“ Jesu, „seinen“, „deinen“, „meinen“ oder „allen“ Jüngern die Rede ist, dann darf man zumindest an diese Zwölf denken (so wie man ab 4,18-22 bis 9,9 beim Ausdruck „seine Jünger“ zumindest an die beiden Bruderpaare denkt). Aber: Obwohl auch nach Mt 10 keine Person mit dem Substantiv μαθητής bezeichnet wird, die nicht zum Zwölferkreis gehört, darf man daraus nicht schlussfolgern, dass dieses Fehlen ein Beweis dafür wäre, dass mit „Jünger“ immer ausschließlich der Zwölferkreis als Ganzes oder einzelne Glieder des Zwölferkreises gemeint sind. Denn diese Formulierungen behalten ihren allgemeinen Charakter. Dass man bei diesen Formulierungen nicht immer und nicht nur an den Zwölferkreis als Ganzes denken darf, belegen drei wichtige Passagen. Erstens: Besonders beachtenswert ist 17,1-20: in 17,6.10.13 wird mit „die Jünger“ (v.a. aufgrund der rahmenden Verse 1 und 14a) eindeutig nur auf drei der zwölf Jünger Bezug genommen wird, Petrus und die Zebedaiden. Und wenn dann in V.16 der Vater des mondsüchtigen Jungen an Jesus gerichtet sagt: καὶ προσήνεγκα αὐτὸν τοῖς μαθηταῖς σου, dann impliziert das, dass das in Abwesenheit Jesu und der drei genannten Jünger geschehen war (entsprechend dazu οἱ μαθηταί in V.19). D.h.: In V.16 ist mit τοῖς μαθηταῖς σου und in V.19 mit οἱ μαθηταί nur ein Teil des Zwölferkreises gemeint. Zweitens: Genau der gleiche Fall liegt in 26,36-46 vor: im Garten Gethsemane kehrt Jesus jeweils von seinem Gebet zu πρὸς τοὺς μαθητάς (26,40.45) zurück, womit der Evangelist laut V.37 die bekannten Drei des Zwölferkreises meint. Drittens: Dass mit „die Jünger“ auch ein Teil der Jüngerschar (nicht notwendigerweise des Zwölferkreises!) bezeichnet werden kann, belegt 21,6 (οἱ μαθηταί), womit zurück auf die δύο μαθητάς aus V.1 verwiesen wird (s.u. zu Zahlen).

Zu 1b: μαθητής + δύο / + ἕνδεκα / + δώδεκα. Auffallend sind die Kombinationen von μαθητής und den Zahlen δώδεκα, ἕνδεκα und δύο. Erstens μαθητής + δώδεκα: Man beachte zunächst die Formulierungen „seine zwölf Jünger“ in Mt 10,1 (τοὺς δώδεκα μαθητὰς αὐτοῦ) und 11,1 (τοῖς δώδεκα μαθηταῖς αὐτοῦ), die eindeutig auf die zwölf namentlich aufgelisteten Personen bezogen sind (10,2-4). Ob der Evangelist in 20,17 ursprünglich τοὺς δώδεκα oder τοὺς δώδεκα μαθητάς schrieb, ist textkritisch umstritten. Eigentlich gehört auch die Textstelle 26,26 zu der Kombination von μαθητής und δώδεκα: zwar heißt es dort nur, dass er „den Jüngern“ (τοῖς μαθηταῖς) das Passahbrot gab, aber laut 26,20 lag Jesus „mit den Zwölf“ (μετὰ τῶν δώδεκα) zu Tisch. Ob laut 26,17.19 (jeweils οἱ μαθηταί) alle Zwölf, Einzelne der Zwölf, oder gar Personen außerhalb der Zwölf das Passahmahl vorbereiten sollten, bleibt aber offen. Zweitens μαθητής + δύο. Zur Vorbereitung seines Einzugs nach Jerusalem hatte Jesus laut 21,1 „zwei Jünger“ (δύο μαθητάς) geschickt, sie sollten ein Eselfohlen holen. Interessant ist, dass auf diese beiden Jünger zurückverwiesen wird, wenn es in 21,6 heißt, dass „die Jünger“ (οἱ μαθηταί), also ohne die Anzahl der Jünger wiederholend zu nennen, hingingen, um Jesu Anweisungen umzusetzen. Die genaue Identität der beiden Jünger in 21,1-7 bleibt unklar. Drittens μαθητής + ἕνδεκα: Zuletzt ist die Formulierung „aber die elf Jünger“ (Οἱ δὲ ἕνδεκα μαθηταί) in 28,16 zu nennen: damit wird indirekt auf den Zwölferkreis verwiesen, da das Zwölferkreis-Mitglied Judas sich zuvor erhängt hatte (27,3-6). Ob aber bereits in 28,7.8 (jeweils τοῖς μαθηταῖς αὐτοῦ) nur die elf Jünger gemeint waren, ist nicht eindeutig (vgl. II,4.1.1).

Zu 2: μαθητής + Johannes / + Pharisäer / + Herodianer. Erstens μαθητής + Johannes: Besonders bemerkenswert ist, dass in Mt 9,14 οἱ μαθηταὶ Ἰωάννου Jesus nach dem Grund für das Nicht-Fasten seiner Jünger befragen. Dies wird sich in Mt 11,2 insofern wiederholen, als dass Johannes „durch seine Jünger“ (διὰ τῶν μαθητῶν αὐτοῦ) Jesus fragen lässt, ob er der „Kommende“ sei. Ebendiese „seine Jünger“ (οἱ μαθηταὶ αὐτοῦ) holen dann in Mt 14,12 den Leichnam des Johannes. Zweitens μαθητής + Pharisäer (evtl. + Herodianer): In 22,16 schreibt der Evangelist über die Pharisäer: καὶ ἀποστέλλουσιν αὐτῷ τοὺς μαθητὰς αὐτῶν μετὰ τῶν Ἡρῳδιανῶν. Zunächst sollte man festhalten, dass der Evangelist Mt auch die „Anhänger“ der Partei der Pharisäer „Jünger“ nennt.28 Desweiteren könnte man theoretisch zwischen μετά und τῶν Ἡρῳδιανῶν eine elliptische Auslassung annehmen und diese „Lücke“ aufgrund des vorangehenden μαθητὰς αὐτῶν mit τῶν μαθητῶν auffüllen. In diesem Fall hätte Herodes (und die zu ihm gehörige Elite) ebenfalls „Jünger“.29 Allerdings fehlt zwischen μετά und τῶν Ἡρῳδιανῶν kein grammatisch notwendiges Satzglied, so dass es nicht zwingend ist, dort „Jünger“ hineinzulesen.