Der 7. Lehrling

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Der 7. Lehrling
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Volker Hesse

Der 7. Lehrling

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Karte I

.

Prolog: Quentin

ERSTER TEIL: Weite Wege

Eilt herbei!

Balsberg

Kläffende Hunde und bodenlose Tiefen

Verwirrende Begegnung und magische Geschichten

Viele Wiedersehen und letzte Vorbereitungen

Eine Falle und eine seltene Gabe

Gespräch mit einer alten Hexe

Der Plan

ZWEITER TEIL: Die drei Speichen

Unerwartete Änderung

Quentins Idee

Noch eine verwirrende Begegnung

Die Horden aus dem Osten

Erste Kontakte und schwierige Entscheidungen

Hilfreicher Einfall und falsche Versprechungen

Vertrauen und eine schwere Aufgabe

Magie zu einem hohen Preis – die Suche geht weiter

Der schwarze Magier

Sie kommen!

Kampf um Balsberg – die Flucht

DRITTER TEIL: Die Gefangenschaft

Adinas Entdeckung

Yorks gefährliche Entscheidung

Sonnenschein, Überlegungen und Magenschmerzen

Die Stimme aus dem Nichts

Ein Plan und besseres Wetter

Das Ende der Suche

VIERTER TEIL: Die Befreiung

Ein seltsamer Vorschlag und gefährliche Situationen

Es ist wahr!

Entdeckung, Enttäuschung und Erntefeste

Vorbereitungen am Stauf und stinkende Spione

Ein ernstes Gespräch und lautstarke Experimente

Der Überfall

Unerwartete, schreckliche Hilfe

FÜNFTER TEIL: Nach Hause

Die ganze Wahrheit und Quentins Bedingung

Filitosa

Quentins Entscheidung

Epilog: Der schwarze Magier

Die Zaubersprüche

Danksagung

Karte II

Die Kurzkrimis

Impressum neobooks

Karte I


.
Worte

sind nichts

als aneinandergereihte schwarze

Striche, Bögen und Kreise auf weißem Papier.

Aber wenn Du

Dir ein klein wenig Zeit nimmst,

Dein Herz ein klein wenig öffnest,

dann werden sie beginnen zu lachen und zu weinen,

sie werden lieben und hassen, niederreißen und erbauen,

entdecken und verstecken, trauern und trösten,

blühen, berauschen und tanzen.

Sie werden Dich für eine kleine Weile

mitnehmen in ihre Welt.

Willst Du Dir ein klein wenig Zeit nehmen?

Dann komm.

Komm.

Komm mit!

Prolog: Quentin

Der kleine Korken tauchte in der ansonsten völlig ruhigen Wasseroberfläche plötzlich unter. Dann war er wieder da. Kreisförmige Wellen breiteten sich langsam aus und verloren sich in der Weite des Sees. Dann tauchte der Korken erneut unter. Noch einmal. Und noch einmal. Dann war er verschwunden. Das Einzige, was noch aus dem Wasser herausschaute, war ein alter Bindfaden, der sich schnell wegbewegte.

Einen Wimpernschlag später straffte sich der Faden. Katapultierte den Korken wieder über die Wasseroberfläche. Nach dem Korken ein weiteres kurzes Bindfadenstück. Dann durchbrach ein stattlicher Karpfen zappelnd die Oberfläche und flog in hohem Bogen ans Ufer.

Im Nu hatte Quentin die improvisierte Angel zur Seite geworfen, war bei dem Fisch und beendete das Leiden des unfreiwilligen Landgängers mit einem kurzen, handlichen Holzstück. Quentin betrachtete seinen Fang. Bei der Vorstellung an die erste richtige Mahlzeit seit – er wusste selbst nicht mehr, seit wie vielen Tagen er sich nur von Beeren, Wurzeln und Quellwasser ernährt hatte – lief ihm das Wasser im Mund zusammen.

Quentin riss ein Streichholz an, schirmte es mit der Hand gegen den Wind ab und hielt es an die dürren Reiser und Stöcke, die er im Wald gesammelt hatte. Gierig sprangen die Flammen an dem trockenen Holz empor und setzten das kleine Feuer in Gang. Der Junge blickte kurz in die kleine Schachtel. Nur noch fünf Streichhölzer. Wenn sie aufgebraucht waren, musste er eine Unterkunft gefunden haben. Und etwas zu arbeiten. Teller waschen. Oder Müll raustragen. Oder Schuhe putzen. Egal, es würde sich schon etwas finden. Viel wichtiger war im Moment ohnehin der Fisch, der sorgfältig in einen Lehmmantel verpackt unter dem Feuer garte. Quentins Magen knurrte laut.

Dann war das Feuer heruntergebrannt. Quentin schob mit einem Holzstück vorsichtig die Glut auf die Seite und rollte die hart gebrannte Lehmform aus der heißen Feuerstelle. Er schob die Glut wieder zurück in das Loch und legte etwas trockenes Holz nach. Es wurde langsam kühl, dicke Wolken zogen in der Ferne über den Horizont. Dabei war der Sommer eigentlich noch lange nicht vorbei. Quentin wartete ungeduldig darauf, dass die Lehmform abkühlte.

Endlich war es so weit! Der Lehm war zumindest so weit erkaltet, dass Quentin ihn anfassen konnte. Obwohl er sich kaum noch beherrschen konnte, brach Quentin vorsichtig die schützende Hülle auf. Der Duft raubte ihm fast die Sinne.

Behutsam zog er die Haut vom Karpfen ab und steckte sich das erste Stück Fisch in den Mund. Den Ausdruck vollkommener Glückseligkeit, der sich Sekunden danach auf seinem Gesicht ausbreitete, hätte kein Künstler auf der Welt auch nur annähernd wirklichkeitsgetreu auf eine Leinwand malen können.

ERSTER TEIL: Weite Wege

Der alte Mann am Kopfende klopfte mehrmals mit einem kleinen Hammer auf den großen alten Eichenholztisch. Während er noch einmal aus dem Fenster zu seiner Rechten beobachtete, wie der Wind im letzten Licht des Tages schwere Regenwolken über das Land peitschte, wurden lange Reihen von Stühlen mit kunstvoll geschnitzten Rückenlehnen umständlich zurechtgerückt. Dann hatten sich alle Anwesenden gesetzt. Erwartungsvolle Stille breitete sich aus, während alle Augen auf den alten Mann am Ende des Tisches gerichtet waren.

„Ich begrüße Euch, ehrwürdige Brüder und Schwestern“, begann Korbinian seine Rede. „Ich hoffe, eure Reise war von Frieden und Glück begleitet. In den Dörfern ist die Ernte fast eingebracht; lasst uns sehen, ob auch eure Suche Früchte getragen hat.“

 

Seine Augen schweiften über die großen Gemälde, die die alten Steinwände zwischen den bleiverglasten bunten Fenstern mit den schweren Vorhängen zierten. Für einen kurzen Moment ruhte sein Blick auf dem großen Banner, das fast wandhoch zwischen zwei Fenstern hing. Auf kunstvoll gestaltetem Hintergrund erstrahlte, aus goldenen Fäden gestickt, die Rune Gebæ. Sie war seit Jahrhunderten das Symbol all derer, die über die Gabe verfügten, das Geschenk, das sie von allen anderen Menschen unterschied. Die starke Verbundenheit dieser kleinen Gemeinschaft war im Convenium, der großen Versammlungshalle, genauso spürbar wie die Wärme, die vom Feuer in dem mannshohen, reich verzierten Kamin in den Raum hineinstrahlte. Korbinian fuhr fort.

„In diesem Jahr war unsere Suche leider noch nicht sehr erfolgreich – vier Lehrlinge sind nicht gerade das, was man als gutes Jahr bezeichnen kann. Wir werden uns anstrengen müssen, damit alle Lehrmeister weiter ihrem ehrenvollen Auftrag nachkommen können, denn immerhin werden in diesem Jahr sieben Gesellen auf Wanderschaft gehen. Und sieben Plätze müssen unbedingt wieder besetzt werden.“ Zustimmendes Murmeln in der Versammlung.

„Ihr alle wisst, dass die Zeiten lange vorbei sind, als die Lehrlinge von allein zu uns kamen. Die Menschen haben uns fast vergessen. Sie reden höchstens noch in Geschichten über uns. Wie sollen da die Kinder, die wir suchen, erkennen, welches Talent in ihnen schlummert? Ja, es ist sehr schwierig geworden. Deshalb sage ich nach wie vor: Es war eine gute Entscheidung, den Gesellen die Suche nach Lehrlingen als ständigen Auftrag für die Jahre ihrer Wanderschaft mitzugeben. Ich weiß, dass nicht alle hier dafür waren. Und ich weiß auch, dass einige nach wie vor Vorbehalte gegen diese Entscheidung haben. Sicher, die Gesellen sind unerfahren. Aber im Gegensatz zu uns Alten kennen sie noch sehr genau das Gefühl, ein besonderes Talent zu haben und nicht zu wissen, wie man damit umgehen soll. Und … “, er machte eine Pause, um seinen Worten mehr Bedeutung zu verleihen, „… immerhin wurden zwei unserer vier diesjährigen Anwärter von Gesellen auf der Wanderschaft entdeckt!“

Als die Teilnehmer der Versammlung ihrer Überraschung und auch ihrem Unglauben mit hin- und herfliegenden Worten Luft machten, huschte ein kleines zufriedenes Lächeln über Korbinians Gesicht.

Er hatte lange dafür kämpfen müssen, die Gesellen mit diesem zusätzlichen Auftrag auf den Weg schicken zu dürfen. Fast alle waren am Anfang dagegen gewesen. Das hatte es noch nie gegeben, Grünschnäbel mit derart wichtigen Aufträgen zu versehen! Aber er war hartnäckig geblieben. Es war ihm nicht ganz klar, ob es nun diese Hartnäckigkeit war oder die Tatsache, dass er vor wenigen Jahren zum Oberhaupt der Gemeinschaft gewählt worden war und der Widerstand deshalb nach und nach weniger wurde. Natürlich gefiel er sich selbst am besten darin, es seiner Überzeugungskraft zuzuschreiben. Naja, das war eigentlich auch gleichgültig. Denn selbst wenn die Zustimmung zu seinem Plan nur darauf zurückzuführen gewesen wäre, dass niemand mehr seiner ewigen Lamentiererei ausgesetzt sein wollte: Im Augenblick zählte nur die Tatsache, dass zwei der wandernden Gesellen erfolgreich gewesen waren.

Noch einen kurzen Moment genoss Korbinian in aller Stille seinen kleinen Erfolg, bevor er fast unmerklich mit den Fingern ein paar schnelle Bewegungen in der Luft machte und wie aus dem Nichts eine große Landkarte an der Wand über dem Kamin erschien. Sofort trat Ruhe ein. Die Versammlung wandte sich dem Kamin zu.

Auf der Karte waren vier Ansiedlungen mit roter Farbe umkreist. Korbinian erhob sich und deutete nacheinander auf die Markierungen. „Das sind die Orte, aus denen unsere diesjährigen Lehrlinge stammen. Volzum. Merlehusen. Falkenberg. Und Neuenweg.“ Die Kreise begannen sanft zu leuchten, sobald der dazugehörende Name fiel. „Ich bitte Euch nun, das Ergebnis Eurer Suche auf der Karte einzutragen.“

Ohne dass eine Bewegung zu sehen gewesen wäre, leuchteten zwei weitere Kreise auf der Karte auf: Wasserfall und Rotstock. Wieder ging ein Zischen und Murmeln durch die Versammlung, diesmal allerdings deutlich enttäuscht.

Korbinian wandte sich den Versammelten zu. Alle Zufriedenheit war aus seinem Gesicht verschwunden; es war mit einem Mal fast weiß geworden. „Sonst niemand? Wirklich niemand?“

Er setzte sich auf seinen Stuhl und schaute in die Runde. Alle blickten vor sich auf den Tisch oder suchten Wände und Decke nach klugen Fragen, den dazu passenden Antworten oder nach der rettenden Idee ab. Sie alle hatten in ihren Häusern diese Landkarte, die erst vor wenigen Wochen so wie jeden dritten Vollmond durch einen Boten ergänzt worden war. Sie hatten alle befürchtet, dass es diesmal knapp werden würde. Aber dass es dann tatsächlich nicht klappen sollte, daran hatte keiner geglaubt.

„Eine Katastrophe“, sagte Korbinian nach einer langen Stille. Seine Stimme war fast ein Flüstern. „Sechs sind zu wenig, dass ist euch allen klar. Wenn wir es nicht schaffen, bis zum übernächsten Vollmond den siebten Lehrling hier in Filitosa begrüßen zu dürfen, wird unser Zuhause ohne jeden magischen Schutz sein! Sieben mal sieben Lehrlinge geben einen Teil ihrer Kraft für die Zauber, die jeden Menschen ohne die Gabe an unserem Dorf vorbeiziehen lassen, als wenn es diesen Ort nicht geben würde. Sieben mal sieben, die all jene ihre Gedanken an uns vergessen lassen, mit denen wir Handel treiben. Wenn jetzt die Kette reißt, wird uns jeder finden, sich jeder an uns erinnern können. Und wie sollten wir uns sicher sein, dass die Menschen uns nicht wieder verfolgen, weil sie nicht begreifen, dass wir nur ein wenig anders sind? Die Situation ist ernst. Wirklich ernst!“

Nach einer weiteren nachdenklichen Pause erhob er sich wieder und wandte sich der Tür zu. „Lasst uns morgen früh weiter beraten. Für heute Abend können wir noch einmal die trüben Gedanken ein wenig beiseite stellen. Wir sollten uns stärken und bei einem guten Glas Wein über Eure Erlebnisse sprechen. Wir haben uns alle lange nicht mehr gesehen, da gibt es sicher viel zu erzählen. Und hoffentlich bringt uns ein guter Schlaf auch eine gute Idee. Wir brauchen eine Lösung. Unbedingt!“

Alle standen auf und warteten an ihren Plätzen, bis ihr Oberhaupt den Raum verlassen hatte. Danach löste sich die fast greifbare Spannung etwas, und die Teilnehmer verließen unter leisen, ernsten Gesprächen das Convenium. Das Licht der Kerzen verlosch wie von Geisterhand, als die schwere Tür ins Schloss fiel.

Über dem flackernden Kamin schimmerten die sechs Kreise auf der Karte in der Dunkelheit.

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Meara schritt zügig aus. Im Tal vor sich konnte sie schon das Dorf erkennen, in dem sie vor dem aufziehenden Unwetter um Schutz bitten wollte. Eine Scheune würde schon genügen; im Vergleich zu einer Nacht in freier Natur war ein Heuhaufen schon fast ein Himmelbett! Und wenn sie schon in einem Dorf war, wollte sie auch gleich nach einer Arbeit fragen. Ihr Geldbeutel litt seit einigen Tagen unter bedenklicher Magersucht – dagegen musste etwas unternommen werden! Sie verstand sich gut auf ihr erlerntes Handwerk, auch wenn man ihr die Zimmermannskunst nicht unbedingt an der Breite der Schultern ansehen konnte.

Meara war im vorigen Sommer mit ihrer Lehre fertig geworden und befand sich nun schon seit einem Jahr auf Wanderschaft. Sie trug mit Stolz die Kleidung der wandernden Gesellen, das Hemd aus weißem Leinen sowie Hose, Weste und Jacke aus festem schwarzem Kordstoff. Ihre langen flachsblonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der unter dem großen schwarzen Hut keck hervorschaute. In ihrem rechten Ohr blitzte ein schmaler goldener Ohrring. Den Knotenstock hatte sie über die Schulter gelegt, an seinem Ende war der Beutel mit ihrer Habe fest angebunden.

Meara war ein ausgesprochen hübsches Mädchen. Die Burschen in den Dörfern und Städten hatten ihr schon oft hinterhergepfiffen, der eine oder andere hatte sie sogar auf einen Wein in die Schänke eingeladen. Aber Meara hatte immer dankend abgelehnt. Sie wusste, dass eine Freundschaft mit einem der Burschen nie von Dauer gewesen wäre, denn die Lehre als Zimmermann war nicht die Einzige, die sie im vergangenen Sommer erfolgreich beendet hatte – sie musste damals auch ihre Hexenprüfung ablegen und hatte diese mit Bravour bestanden!

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Ein deutlicher Rülpser war zu vernehmen, als Quentin sich an den breiten Birkenstamm zurücklehnte. „Hups! Entschuldigung!“, sagte er, dann brach er in schallendes Gelächter aus. „Genau! Jetzt entschuldige ich mich schon bei den Bäumen für mein schlechtes Benehmen!“, prustete er, bevor ihn ein neuer Lachanfall durchschüttelte und er, sich den Bauch festhaltend, zur Seite sackte.

Nach und nach kam Quentin wieder zu Atem. Ein letztes Kichern entwich ihm, dann konnte er sich wieder aufsetzen. Er machte es sich erneut am Stamm gemütlich und schaute auf den weiten See hinaus. Der See war so groß, dass er das gegenüberliegende Ufer ahnen, aber nicht wirklich sehen konnte. Vor ihm entstand in diesem Moment ein überwältigender Anblick. Die Sonne ging unter. Sie verwandelte den Himmel mit seinen Wolkentürmen in eine schaurig-schöne Märchenlandschaft aus tausend verschiedenen Abstufungen von Rot, die sich auf der Oberfläche des Sees spiegelte. Quentin saß still und staunend am Ufer, bis die Sonne hinter dem Horizont versunken war.

Dann war es dunkel. Die Flammen umspielten das Feuerholz und warfen tanzende Schatten in den Wald hinter ihm.

Angst hatte Quentin nicht. Er war in einem kleinen Dorf an einem Waldrand aufgewachsen und oft im Dunkeln durch den Wald gelaufen. Aber das alles lag jetzt viele Tagesmärsche im Süden ... Seine Gedanken flogen zurück zu seinem Elternhaus.

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Quentin war ein Junge mit ständig zerrissenen Hosen, aufgescheuerten Knien, dreckigen Fingernägeln, und das Ganze natürlich nicht unbedingt zur Freude seiner Mutter. Aber es gab ja auch so viel zu entdecken! Überall konnten Schätze versteckt sein, einmal hatten sie sogar eine alte Münze gefunden! Quentin zog ständig mit Simon, seinem bestem Freund, durch das Dorf und den angrenzenden Wald. Wenn sie nicht gerade auf Schatzsuche waren, angelten sie am Bach, schwammen im See und taten auch sonst alles, was Jungs Spaß macht.

Mit den anderen Kindern im Dorf hatten Quentin und Simon nicht viel Kontakt. Die fanden ihn „komisch“, nannten ihn „Spinner“. Dabei fand er sich eigentlich ganz normal. Bis auf die Sache mit den Geschichten. Das konnten die anderen irgendwie nicht. Nicht Geschichten erzählen, sondern das, was passierte, wenn Quentin Dinge berührte. Dann erzählten ihm die Dinge ihre eigene Geschichte.

Wenn er einen Stein auf dem Weg berührte, wusste Quentin plötzlich, aus welchem Steinbruch er kam. Wie er aus dem Felsen gehauen wurde und wie er dann auf dem Weg gelandet war.

Wenn er einen Nagel berührte, erzählte ihm dieser seine Geschichte. Wie er geschmiedet worden war. Dass er vielleicht einmal ein Hufeisen an einem Reitpferd festgehalten hatte.

Zuerst hatte Quentin gedacht, ihm würde das alles einfach nur einfallen. Zuerst hatten die anderen Kinder auch immer gelacht. Die Erwachsenen hatten gesagt, er habe „eine blühende Fantasie“. Aber Quentin merkte immer deutlicher, dass er nicht fantasierte, sondern tatsächlich etwas besaß, was die anderen nicht hatten.

Und als er immer wieder Dinge erzählte, die tatsächlich wahr waren, die er aber nie und nimmer wissen konnte, zogen sich die Kinder – meist auf Geheiß ihrer Eltern – mehr und mehr von ihm zurück.

Da war zum Beispiel die Sache mit dem Bilderrahmen im Haus des Schusters. Der umrahmte ein Bild von einem bunten Blumenstrauß. Als Quentin ihn berührte, wusste er sofort, dass früher einmal das Bild von der Mutter des Schusters darin gehangen hatte. Der Schuster staunte nicht schlecht, als Quentin ihn neugierig fragte, was er denn mit dem Bild seiner Mutter gemacht habe.

Es dauerte nicht sehr lange, da wurden seine Eltern von den Nachbarn gemieden. Das war besonders deshalb schlecht, weil sein Vater eine Mühle hatte und für die Bauern das Korn mahlte. Das Geschäft ging immer schlechter. Im Dorf wurden schon Worte wie „die Hexenmühle“ hinter vorgehaltener Hand getuschelt. Schon zweimal hatte irgendjemand versucht, die Mühle anzustecken. Zum Glück hatte die Familie das Feuer jedes Mal rechtzeitig bemerkt, sonst wäre alles niedergebrannt.

 

Simon war das mit den Geschichten egal. Er hatte viel Spaß mit Quentin. Vielleicht hätten die anderen Kinder das ja auch gern gehabt, aber sie hatten nun mal Eltern, die sagten: „Spiel nicht mit Quentin, der ist komisch, der passt nicht hierher!“

Bei Simon war das anders. Er wohnte beim Gastwirt in der Dorfschänke. An seine Eltern konnte er sich kaum noch erinnern. Seine Mutter war kurz nach seiner Geburt gestorben, und sein Vater war eines Tages vom Bäumefällen im Wald nicht mehr zurückgekommen. Da hatten ihn die Wirtsleute bei sich aufgenommen. Er musste natürlich in der Wirtschaft helfen, aber das war für ihn eher ein Spaß als eine Arbeit. Jedenfalls sagten der Wirt und seine Frau nichts zu Quentins Geschichten.

Simon zog Quentin sogar manchmal damit auf. Wenn die beiden auf ihren Entdeckungsreisen an einem Wegstein vorbeikamen, sagte Simon zum Beispiel: „Quentin, fass doch mal den Stein da an! Ich würd’ gern wissen, wann der Marketender mit den süßen Sachen wieder ins Dorf kommt!“

Dann kam der schlimmste Tag in Quentins Leben. Sein Vater nahm ihn beiseite und sagte mit sorgenvollem Blick: „Mein Junge, Deine Geschichten machen uns das Leben immer schwerer. Wir haben bald keine Arbeit und auch kein Essen mehr, weil die Leute nicht mehr zu uns kommen. Wir müssen aber doch essen und trinken! Es ist einfach so: Du machst den Leuten Angst mit diesen Geschichten. Der Himmel allein weiß, wie Dir immer solche Sachen einfallen! Du kannst wohl nichts dafür, aber Du bist irgendwie anders als die anderen. Und die Leute mögen es nicht, wenn jemand anders ist. Quentin, Du bist jetzt alt genug, um bei einem Handwerksmeister in die Lehre zu gehen. Es zerreißt mir das Herz, Dich fortzuschicken, aber es ist für uns alle besser, wenn Du gehst und anderswo Dein Glück suchst!“

Er gab ihm einen Rucksack voll mit nützlichen Sachen, seine Mutter packte ihm ein wenig zu essen ein. Jedes seiner sechs Geschwister gab ihm noch ein kleines Andenken mit.

Dann kam die Stunde des Abschieds. Sie waren alle sehr traurig, aber sie schickten ihn von zuhause weg. Quentin verstand nicht, warum das so war. Aber er war dreizehn Jahre alt, und er war ein folgsames Kind. Und deshalb tat er, was seine Eltern von ihm verlangten, auch wenn es ihm noch so schwer fiel.

Als er ging, verschwamm der Weg nach Norden in seinen Tränen. Er hatte noch nicht einmal Simon Lebewohl sagen können.

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Quentin öffnete verschlafen die Augen und blinzelte in die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Über seine Gedanken an zuhause musste er eingeschlafen sein. Es war kühl, aber die Nacht war trocken geblieben. Das Feuer war heruntergebrannt, aber als Quentin ein bisschen in der Asche stocherte, fand er noch ein wenig Glut. Er legte dünne Zweige an und blies ganz vorsichtig in die Asche, bis eine kleine Flamme aufflackerte. Schnell brannte ein Feuer, an dem Quentin sich wärmen konnte. Der Rest des leckeren Karpfens, den er am Vorabend nicht mehr geschafft hatte, vertrieb die letzten traurigen Gedanken.

Nach einer Weile machte er sich auf den Weg. Wieder Richtung Norden, ohne ein echtes Ziel. Das würde sich schon von allein ergeben, da war Quentin sich sicher.

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Korbinian begann seinen Tag mit einem frühen Spaziergang durch das um diese Zeit noch sehr ruhige Dorf Filitosa. Filitosa war eine weitläufige Anlage, die vor unzähligen Generationen mitten im Wald, weitab von der nächsten Ansiedlung, angelegt worden war. Es gab Bauernhöfe, ein Sägewerk, eine Tischlerei, eine Schmiede, eine Käserei, einen Metzger, einen Bäcker, eine Töpferei, eine Glasbläserei, eine Imkerei, eine Mühle, eine Weberei, ein kleines Weingut, eine Schneiderei, und all das umrahmte der dichte Wald in Form eines großen Pentagramms. Im Zentrum lag ein großes wehrhaftes Gebäude. Es bildete die Hauptunterkunft der Zauberer und Hexen.

Das Dorf war unabhängig von jeglicher Versorgung, und zwar mit Absicht. Als die Menschen begannen, sich mehr und mehr von den Magiern abzuwenden, sie aus ihren Dörfern zu verjagen oder schließlich sogar zu verfolgen, beschloss die große Versammlung, einen sicheren Rückzugsort zu gründen. Und so schufen sie das Dorf Filitosa. Alle Wege dorthin waren mit mächtigen Zaubern geschützt, und niemand, der nicht über die Gabe verfügte, hätte das Dorf jemals gefunden.

Die Betriebe in Filitosa wurden allesamt von fast ausgelernten Lehrlingen geführt, ältere Magier kümmerten sich als Lehrmeister nur um die handwerkliche Ausbildung. Alle Lehrlinge erlernten so neben der Magie auch einen richtigen Beruf, der ihnen das Leben in der Welt der Menschen erleichterte. Etliche Hexen und Zauberer lebten auf diese Weise in den Dörfern und Städten außerhalb von Filitosa, ohne jemals aufzufallen.

Der Name Filitosa kam übrigens nicht von ungefähr: Viele Orte mit magischer Bedeutung auf der ganzen Welt trugen diesen Namen. Als die Zauberer und Hexen damals dem Dorf seinen Namen gaben, hofften sie, dass damit Magie in seine Mauern einziehen würde. Nun, ob es tatsächlich am Namen Filitosa lag, konnte nach der langen Zeit niemand mehr herausfinden. Tatsache blieb, dass aus Filitosa im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte ein äußerst magischer Ort geworden war.

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Korbinian begrüßte auf seinem Weg durch Filitosa alle, die um diese frühe Zeit schon unterwegs waren. Er kannte hier jeden mit Namen, obwohl das Dorf insgesamt auf etwa einhundertundsechzig Hexen, Zauberer und Lehrlinge kam. Korbinian nahm sich für alle Zeit, die sich mit kleinen oder größeren Anliegen an ihn wandten. Das verstand er nicht nur als seine Pflicht, er tat es gern. Außerdem spielte Zeit in Filitosa keine wirklich große Rolle. Über die Hast der Menschen konnte Korbinian meist nur lächeln. Nur im Moment nicht. Das Problem mit der unbesetzten Lehrlingsstelle war tatsächlich sehr ernst. Er hatte noch keine Idee, wie sie es schaffen sollten, in der Zeit bis zum übernächsten Vollmond einen geeigneten Kandidaten zu entdecken. Hoffentlich würde die Versammlung eine Lösung finden. Korbinian war zum ersten Mal in seinem langen Leben wirklich ratlos.

Als er an der Bäckerei vorbeikam, konnte er dem Duft nicht widerstehen, der aus der offenen Tür wehte, er zog ihn magisch an. Mit einem Lächeln darüber, dass er gerade in Gedanken auch Brot und Brötchen in die Familie der Magier aufgenommen hatte, betrat er die Bäckerei.

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Adina, die die Bäckerei leitete, empfing ihn mit einem freundlichen „Guten Morgen“. Ihre Zwillingsschwester Amina, die eigentlich die Metzgerei führte, war ebenfalls anwesend und stimmte fast gleichzeitig in den Morgengruß ein. Beide Schwestern waren in ihrem letzten Lehrjahr und sollten demnächst ihre Prüfungen ablegen.

Nachdem Korbinian den beiden ebenfalls einen guten Morgen gewünscht hatte, schaute er sich in dem kleinen Laden um. Wie immer war alles blitzblank geputzt und aufgeräumt, die verschiedensten Gebäcke lagen in friedlicher Eintracht nebeneinander in den Regalen und warteten auf Kundschaft. Brot und Brötchen waren schon lange fertig, die Bäckerlehrlinge hatten bereits angefangen, süße Teilchen und Kuchen für den Nachmittag vorzubereiten.

Korbinian malte sich schon in Gedanken aus, wie er in ein knuspriges Brötchen biss, da wurde er von Adina angesprochen. „Kann ich Dir etwas Bestimmtes geben, Korbinian? Alles ist ganz frisch! Hier, von den Maisbrötchen solltest Du unbedingt probieren, die backen wir erst seit einer Woche!“ Sie sah, dass Korbinian sich zwischen den vielen verschiedenen Sachen nicht entscheiden konnte und wartete ein wenig. Korbinian schüttelte langsam den Kopf und sah sie an. „Liebe Adina, das sieht alles so gut aus … ich weiß gar nicht, was ich zuerst probieren soll!“

Amina hatte einen Einfall: „Wie wär’s, wenn ich schnell ein wenig Wurst aus der Metzgerei hole? Honig müsste ich auch noch da haben. Dann können wir zusammen frühstücken, und Du kannst in aller Ruhe von allen Brötchen probieren, bis Du weißt, welches am besten schmeckt!“

Korbinian musste nicht lange überlegen. Bis zum Versammlungsbeginn waren es noch einige Stunden, und im großen Speisesaal würde sein Fehlen beim Frühstück niemanden stören. Also willigte er zur Freude der Zwillinge ein.

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Quentin wanderte durch einen Wald. Die Vögel sangen ihre schönsten Lieder, als wenn sie ihn freudig in ihrem Zuhause begrüßen wollten. An einem Bach machte er die erste Pause an diesem Morgen und trank von dem klaren Wasser. Er hatte sich für seine Rast eine kleine Lichtung ausgesucht. Dickes Moos wuchs auf dem Boden und bildete einen weichen Teppich. Zum Bach hin wuchsen Wiesenschaumkraut und andere kleine Blumen, die Quentin aber nicht kannte. Schmetterlinge flatterten geschickt von einer Blüte zur anderen und sammelten Nektar. Quentin setzte sich auf das Moos und blickte in die Runde. Ein Stück weiter unterhalb sah er ein Reh, das ebenfalls seinen Durst am Bach löschte. Sie sahen sich beide an, und Quentin befürchtete schon, dass das Reh gleich fliehen würde. Aber das Tier schien zu spüren, dass von dem Jungen keine Gefahr ausging. Es trank ruhig weiter und ging dann zu einem Grasflecken in der Nähe, um zu äsen. Quentin sah dem Reh noch eine Weile zu, dann machte er sich wieder auf den Weg.

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Als er den Wald verlassen hatte, sah er in der Ferne vor sich, dass sein Pfad auf einen anderen Weg stieß. Er musste sich einer Ansiedelung nähern, Kreuzungen waren dafür immer ein erstes Zeichen. Quentin ging vor lauter Vorfreude etwas schneller.

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Meara hatte die Nacht in einem Heuschober verbracht. Freundliche Bauersleute hatte ihr diese Unterkunft gegeben. Der Bauer war vor seiner Heirat selbst als Zimmermann durch die Lande gezogen, und er hatte Meara beim Abendessen viel von seinen Erlebnissen erzählt. Ihm waren unzählige Geschichten eingefallen, und daher war es auch sehr spät gewesen, als alle endlich schlafen gingen.

Die Bauersfrau hatte Meara noch zum Frühstück eingeladen. Bei dieser Gelegenheit fragte Meara, ob sie nicht eine Baustelle wüssten, auf der sie arbeiten könne. „In unserem Dorf leider nicht“, antwortete die Bauersfrau. „Aber in Balsberg wird ein großes Kornhaus gebaut, die suchen bestimmt immer mal wieder tatkräftige Hände.“

Mit vielen Dankesworten verabschiedete sich Meara von den freundlichen Bauersleuten. Sie war ausgeschlafen, satt und ging voller Zuversicht nach Süden, die Richtung, die ihr der Bauer gewiesen hatte.

Es gab doch viele gute Menschen! Naja, allerdings hatten die Bauersleute sie ja auch für einen normalen Menschen gehalten und nicht für eine Hexe. Wer wusste schon, ob sie auch dann noch so freundlich und hilfsbereit gewesen wären …

Meara fand das alles seltsam. Die alten Hexen und Zauberer in Filitosa hatten ihr von einer Zeit erzählt, in der Menschen und Magier völlig selbstverständlich miteinander lebten. Da gab es noch keine Notwendigkeit, einen Handwerksberuf als „Tarnung“ zu benutzen. Allerdings machte ihr das Zimmermannshandwerk viel Spaß. Nur Hexe zu sein fand sie fast langweilig. Gut, eine echte Dorfhexe hatte früher sicher eine Menge zu tun. Da hätte man wohl keinen anderen Beruf mehr nebenbei geschafft. Wenn sie es sich recht überlegte: Ausprobieren würde sie es schon gern einmal, als Dorfhexe ihren Unterhalt zu bestreiten.