Der 7. Lehrling

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Eilt herbei!

Im Vorraum des Conveniums warteten die Lehrlinge, die zur Bedienung der Versammlung eingeteilt waren. Korbinian rief sie zu sich und sprach ein paar kurze erklärende Worte zu ihnen. Dann schickte er sie los, um alle Lehrlinge ab dem dritten Ausbildungsjahr aus dem Dorf zusammenzuholen.

Als alle fort waren, begab sich Korbinian in die Bibliothek.

Die Bibliothek befand sich exakt in der Mitte der Magierunterkunft und war ein hoher, riesengroßer fünfeckiger Raum. Sie war so groß, dass es mehrerer Kamine bedurfte, um im Winter eine angenehme Temperatur herzustellen. In der Bibliothek ruhten Tausende von Büchern und Schriftrollen in hohen Holzregalen. Zwischen den Regalen waren hier und da kleine Sitzgruppen aufgestellt, um den Magiern das Lesen angenehm zu machen. Überall waren magische Fackeln und Kerzen angebracht, die immer dann anfingen zu brennen, wenn jemand in der Nähe war.

Genau in der Mitte der Bibliothek und damit im Zentrum des Pentagramms, in dem das Dorf lag, war ein großer runder Tisch mit vierzehn Stühlen aufgestellt. Hier fanden sich die Magier ein, wenn mächtige Zauber aufgerufen werden sollten.

Korbinian setzte sich auf einen der Stühle, nahm eine Fingerspitze kräftigender Kräuter aus einer Dose und kaute sie. Er atmete tief durch. Dann schloss er die Augen und versank in ruhige Konzentration. Das uralte Ritual begann.

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Als Korbinian anfing, seine Finger zu bewegen, bildeten sich kleine Nebelschwaden, die spielerisch seine Ärmelaufschläge umtanzten. Dann bewegte er leise murmelnd seine Hände. Der Nebel wurde dichter, kompakter und strömte langsam zur Mitte des Tisches. Dort bildete er ein waagerechtes, sich drehendes Rad über der Tischplatte. Der Zauberer wiederholte die lange Formel immer wieder und bewegte seine Finger im Takt dazu. Minute um Minute verging.

Korbinian schwitzte. Tropfen standen auf seiner Stirn, aber er merkte davon nichts, so tief war er in die Beschwörung versunken. Er war aufgestanden. Jetzt bewegte er die Arme. Sein Murmeln hatte sich zu leisem Reden gesteigert und wurde von Wiederholung zu Wiederholung lauter. Das Nebelrad wurde immer größer und begann langsam pulsierend gelblich zu leuchten.

Korbinian steigerte sich immer weiter in den Zauberspruch hinein. Der Schweiß rann ihm mittlerweile in kleinen Bächen über das Gesicht. Seine Beschwörung war durch die ganze Bibliothek zu hören und wurde immer lauter. Kleine Blitze zuckten durch den Nebel. Das Rad kreiste immer schneller und erzeugte ein sirrendes hohes Geräusch, das lauter und lauter wurde, je schneller sich das Rad drehte.

Der Magier war jetzt völlig in Trance. Seine Beschwörungsformel donnerte durch den Raum und wurde von den Wänden als Echo zurückgeworfen. Das Nebelrad rotierte so schnell, dass keine klaren Formen mehr zu erkennen waren. Es leuchtete so hell, dass man an jedem Ort der Bibliothek ohne Kerze oder Fackel ein Buch hätte lesen können. Der Ton, den das Nebelrad erzeugte, war zu einem ohrenbetäubenden Kreischen angeschwollen. Niemand, der bei Verstand war, hätte den Raum im Moment noch freiwillig betreten wollen.

Die Möbel in der Bibliothek begannen zu zittern. Stühle bewegten sich über den Boden, hier und da fiel ein Buch aus einem Regal.

Das Kreischen wurde immer lauter, Korbinians Beschwörung war aus den hin- und herpeitschenden Echos nicht mehr herauszuhören. Der ganze Raum war in ein gleißendes Licht getaucht, in dem der Magier kaum noch zu sehen war.

Dann gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Das Nebelrad breitete sich als großer Ring mit rasender Geschwindigkeit in alle Richtungen aus. Drang durch Regale, Türen, Fenster, Mauern. Setzte sich außerhalb des Haupthauses als immer größer werdender Kreis fort. Raste durch Wälder, über Felder und war nach weniger als einem Augenblick in der Ferne verschwunden.

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Meara blieb stehen. Ein Kribbeln fuhr ihr über die Haut, und an ihren Armen standen alle Härchen hoch. Ihr Blick schweifte suchend umher. Kein Laut war zu hören, die Luft war aufgeladen wie vor einem Sommergewitter.

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Quentin wachte auf. Ein seltsames Gefühl hatte ihn aus seinen Träumen gerissen. Er lauschte in die Nacht, aber er konnte nichts hören. Er trat aus dem Schutz der Trauerweide und sah sich um.

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Dann war es da!

Es fegte mit einem lauten Knall dicht über Meara und Quentin hinweg und warf sie beide zu Boden.

Bevor einer der beiden wusste, was geschehen war, war es schon wieder am Horizont verschwunden. Elektrische Entladungen zuckten als Blitze durch die Luft und zwischen den Ästen, dann war es wieder völlig still.

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Im Speisesaal waren alle verstummt. Einige Gläser waren umgefallen, der Rotwein lief in kleinen Rinnsalen unbeachtet über die Tische. Eigentlich wussten alle, was geschehen war, aber der Zauber, den man am ehesten mit „Eilt herbei!“ übersetzen konnte, hatte einen Effekt, dem sich kein Magier entziehen konnte. Und da Korbinian mit einem Schlag alle Magier und wandernden Gesellen im Land erreichen musste, war die Stärke des Zaubers von immenser Kraft.

Langsam setzten die Gespräche wieder ein. Da die Wirkung des Zaubers nachließ, sobald man das Dorf betreten hatte, war die magnetische Wirkung auf die anwesenden Magier schnell wieder verflogen.

Draußen waren alle Lehrlinge, die sich bereits auf dem Weg zum Convenium befanden, instinktiv in Deckung gegangen. Amina und Adina rappelten sich wieder auf. Der Knall war so laut gewesen, dass sie gedacht hatten, das Haupthaus würde in Schutt und Asche liegen. Eine solche Erscheinung hatten sie noch nie gesehen. Merkwürdig war nur, dass alle Gebäude völlig unbeschadet dastanden. So, als wäre nichts passiert. Da alles in Ordnung zu sein schien, machten sie sich mit befremdeten Gesichtern wieder auf den Weg.

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Meara wusste sofort, dass sie gerufen worden war. Es zerrte sie förmlich in die Richtung, in der Filitosa lag. Und sie wusste auch, dass sie spätestens in einer Woche da sein musste. Im Moment war sie mindestens drei bis vier Tagesmärsche vom Dorf entfernt – in gerader Linie. Jetzt wünschte sie sich, dass diejenigen Geschichten der Menschen wahr waren, die erzählten, dass Hexen und Zauberer auf Besen durch die Gegend fliegen konnten. Aber leider mussten sich Magier wie alle anderen fortbewegen. Und ein Pferd besaß Meara nicht. Blieben also nur ihre eigenen Füße übrig.

Naja, wenigstens musste sie sich nicht an die Wege der Menschen halten. Mit einem Zauber konnte sie ein Feld um sich herum erschaffen, mit dessen Hilfe man durch jedes Hindernis hindurchgehen konnte, ohne es dabei zu zerstören. So hätte sie auch durch Häuser glatt hindurchgehen können, aber Regel Nummer eins – zaubere niemals in Anwesenheit erwachsener Menschen – sprach natürlich aus gutem Grund dagegen.

Der Zauber kostete Kraft. Aber wenn sich in Filitosa etwas so Dringendes zutrug, dass der „Eilt herbei!“-Zauber ausgerufen wurde, dann durfte es auf das bisschen Anstrengung nicht ankommen!

Meara konzentrierte sich und bewegte die Finger. Um sie herum entstand eine kugelförmige Blase, durch die man hindurchsah, als wenn Wasser an einer Scheibe herunterläuft.

Als sich das Feld stabilisiert hatte, lief Meara schnurstracks auf den Wald zu. Ein dicker Baumstamm stand direkt in ihrem Weg, aber Meara änderte ihre Richtung nicht. Der Stamm teilte sich und floss förmlich um die Blase herum, bevor er sich ohne einen Kratzer hinter Meara wieder zusammenfügte und es so schien, als wäre niemals etwas geschehen.

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Eine eigenartige Unruhe hatte von Quentin Besitz ergriffen. Ihm war, als würde er gerufen. Als müsse er irgendwo hingehen. Aber wohin? Und wer hatte ihn gerufen?

Und was war das gewesen, was mit einem lauten Knall über ihn hinweggerast war und dafür gesorgt hatte, dass er vor Schreck auf seinem Allerwertesten gelandet war?

Fragen über Fragen, aber keine dazu passende Antwort. Eins war jedenfalls klar: An Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken. Quentin ging in sein Trauerweiden-Versteck zurück und entfachte das kleine Feuer zu neuem Leben. Er aß nachdenklich seine letzten Pflaumen.

Dann brach er auf. Nach Balsberg würde er es heute in jedem Fall schaffen.

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Korbinian ordnete seine Kleidung. Er schwitzte immer noch und war sehr erschöpft. Einen solch starken Zauber hatte er schon lange nicht mehr heraufbeschworen. Nun, ein gutes Nachtmahl im Speisesaal würde ihm schon wieder auf die Beine helfen. Aber seine Pflichten waren noch nicht erledigt. Er musste zuerst noch ins Convenium zu den Lehrlingen.

Nachdem er die Stühle, die überall im Raum herumlagen, wieder ordentlich an die Tische gestellt hatte, verließ er eilig die Bibliothek. Hinter ihm gingen langsam die Kerzen und Fackeln aus.

Im Convenium waren schon einige Lehrlinge angekommen, aber als Korbinian durchzählte, stellte er fest, dass noch ein gutes Dutzend fehlte. Das gab ihm Gelegenheit, ein großes Glas Wasser zu trinken und die Zwillinge Amina und Adina zu sich zu winken.

„Was ist passiert?“, wollte Amina wissen. Sie betrachtete den sichtbar erschöpften Zauberer voller Sorge.

Korbinian beruhigte sie. „Nichts, meine Liebe. Ich habe, wie Du sicher gespürt hast, die anderen Magier und Gesellen gerufen. Das war zwar ein wenig anstrengend, aber mir geht es gut. Adina“, wandte er sich an die andere Schwester, „würdest Du bitte Deine Idee vorstellen, wenn alle eingetroffen sind? Dann kann ich mich in der Zeit ein wenig erholen und muss nur noch zum Schluss bekannt geben, wie die genaue Durchführung aussieht.“

 

Adina wurde knallrot, wie eine reife Tomate. Sie stammelte etwas wie „schaffe ich bestimmt nicht“ und andere unverständliche Sachen, bis Amina ihr in die Seite knuffte und sagte: „Nun stell Dich nicht so an! Erst die größte Idee des Jahres haben und dann in einem kleinen Mauseloch verschwinden wollen? Kannst Du vergessen! Du wirst den anderen schön den Plan erklären, und Du wirst es schaffen! Außerdem“, grinste sie, „ich bin ja auch noch da!“

Adina atmete tief durch, sah ihre Schwester und Korbinian noch einmal zweifelnd an, dann setzte sie eine entschlossene Miene auf und ging zum Kopfende des Tisches.

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Am nächsten Morgen ließen überall im Land Handwerkergesellen ihre Arbeit liegen und verabschiedeten sich von ihren Lohnherren mit den fadenscheinigsten Entschuldigungen. Das fanden diese nicht besonders schön, aber wer will schon einem jungen Gesellen die plötzliche Heimreise verwehren, wenn zum Beispiel dessen geliebte Großmutter schwer erkrankt war? Und da in keinem Dorf und keiner Stadt zwei Gesellen gleichzeitig arbeiteten – das war eine weitere Regel auf der Wanderschaft – fiel die hastige flächendeckende Abreise der Magiergesellen niemandem auf.

Denjenigen, die an den äußersten Grenzen des Landes unterwegs waren, stand eine echte Herausforderung bevor. Sie mussten fast Tag und Nacht auf den Beinen sein, um Filitosa rechtzeitig zu erreichen, denn die Botschaft war unmissverständlich: Bis zum siebten Sonnenaufgang hatten sich alle im Convenium einzufinden.

Einer der Gesellen im Grenzgebiet war Milan. Im zivilen Beruf war er Schmiedegeselle, als Zauberer hatte er vor zwei Jahren die Prüfung bestanden.

Milan war ein hochgewachsener dunkelhaariger junger Mann, dem man seinen Beruf als Schmied deutlich ansehen konnte. Sein Lohnherr, Schmiedemeister in einem größeren Ort, war froh, dass Milan bei ihm arbeitete. Wenn zum Beispiel an einem Ochsenkarren ein Rad neu bereift werden musste, brauchte er früher mindestens zwei Gesellen, die unter großer Anstrengung den Wagen hoben, während er das Rad ab- oder wieder anmontierte. Solche Sachen erledigte Milan allein. Und lachte auch noch dabei.

Bei all seiner Kraft war Milan ein sanfter, freundlicher und aufmerksamer Zeitgenosse. Bei den anderen Gesellen und der Kundschaft war er daher sehr beliebt. Milan war noch nicht lange bei dem Schmiedemeister, aber er hatte in Windeseile alle für sich eingenommen.

Jetzt hatte er allerdings eine Aufgabe vor sich, bei der ihm Kraft allein nicht helfen konnte: Eine Strecke von acht oder neun Tagesmärschen musste er bis zum siebten Sonnenaufgang geschafft haben.

Nachdem er sich unter dem in diesen Tagen recht üblichen „Großmutter-Vorwand“ bei seinem Lohnherrn entschuldigt und verabschiedet hatte, packte er schnell seine Sachen zusammen. Dann machte er sich auf den Weg Richtung Südwesten, lange bevor das zweite Frühstück gerichtet war.

Balsberg

Quentin kam gut voran. Er konnte immer mehr Einzelheiten von Balsberg erkennen. Und was er sah, steigerte seine Vorfreude immer weiter. Was für eine Riesenstadt! Da gab es sicher tausende neuer Dinge zu entdecken! Aber zuerst musste er eine Arbeit finden.

Den ganzen Weg malte er sich aus, was er für tolle Sachen in der großen Stadt unternehmen könnte. Darüber vergaß er sogar, eine Mittagspause zu machen.

Der Fahrweg wurde immer breiter. Von rechts und links mündeten immer mehr Seitenwege ein. Ab und zu begegnete er Bauern, Händlern und anderen Wandersleuten. Aber Quentin nahm sich keine Zeit für lange Gespräche, viel zu spannend war das, was da vor ihm lag.

Dann kamen die ersten Aussiedlerhöfe. Auf den Feldern wurden die letzten Reste der Ernte eingebracht, überall herrschte Hochbetrieb. Goldene Korngarben standen auf den Stoppeln oder wurden auf große Leiterwagen aufgeladen. Ab und zu konnte Quentin einen Blick in eine Scheune werfen, in der das Korn inmitten riesiger Staubwolken aus den Ähren gedroschen wurde.

An einer Kreuzung, an der sein Weg auf eine Fahrstraße traf, stand ein großes Weghaus. Hier kehrten Reisende ein, denen die Unterkünfte in der Stadt zu teuer waren, oder auch Wanderer, die sich stärken wollten, ohne erst in die Stadt gehen zu müssen.

Quentin setzte sich auf eine Bank bei einem Brunnen und sah dem Treiben zu. Seine Laune war ausgezeichnet, in zwei bis drei Stunden würde er in der Stadt sein.

Schnell aß er ein Stück Brot, das ihm ein Bauer unterwegs geschenkt hatte, und trank einen Schluck Brunnenwasser dazu. Dann ging es wieder weiter.

Es war ein wundervoller Sommertag. Die Grillen zirpten ihre Lieder in den Büschen und Wiesen, Kühe lagen friedlich wiederkäuend auf den Weiden, alle waren in guter Stimmung. Am Himmel waren nur ein paar kleine Schäfchenwolken zu sehen, kein Zeichen deutete mehr auf die schweren Regenwolken hin, die noch vor ein paar Tagen über den Horizont gezogen waren. Quentin pfiff ein fröhliches Wanderlied und marschierte zügig auf die Stadt zu.

Nach einer Weile kamen die ersten Wohnhäuser. Jetzt war Quentin im äußeren Gürtel der Stadt angekommen. Begierig nahm er alle Bilder in sich auf. Höfe und Wohnhäuser wechselten sich ab, hier und da gab es einen von Blumen übersäten Garten. Freundliche Menschen überall. Quentin dachte fast, er würde träumen. Er war in Balsberg angekommen!

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Milan ließ sich erschöpft auf den laubbedeckten Boden fallen. Er war seit zehn Stunden ohne Pause unterwegs und ziemlich erschöpft. Aber da es bis zum Einbruch der Nacht noch zwei bis drei Stunden waren, konnte er nicht lange verschnaufen. Hastig trank er ein paar Schlucke Wasser aus dem kleinen Bach, an dem er sich befand. Dann füllte er seine Flasche auf.

Nur ein paar Minuten noch! Milan legte sich auf den Rücken und sah in das Blätterdach des Waldes hinauf. Was war nur in Filitosa geschehen? Ein Überfall? Hielten die Schutzzauber nicht mehr? Er zermarterte sich schon den ganzen Tag lang den Kopf, aber er fand keinen wirklich guten Grund, warum ausgerechnet aus Filitosa der Ruf gekommen war. Das war doch das Zuhause aller Magier. Das bestgehütete Geheimnis in diesem Land! Sollte trotz aller Vorsichtsmaßnahmen doch jemand dahintergekommen sein? Naja, nachdenken konnte er auch unterwegs noch! Ächzend rappelte sich Milan hoch und klopfte die Blätter von seiner Hose.

Dann ging es weiter.

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Quentins Stimmung war bei Weitem nicht mehr so gut wie zu dem Zeitpunkt, als er durch das Stadttor gegangen war. Er hatte nun schon bei fünf Schänken, drei Gasthäusern und verschiedenen anderen Geschäften nachgefragt. Aber niemand hatte eine Arbeit für ihn. Quentin war der Verzweiflung nahe.

Irgendwie musste doch etwas zu finden sein! Seine Vorräte waren aufgebraucht, und außerdem wusste er nicht, wo er schlafen sollte. Das Leben in der großen Stadt hatte er sich wirklich anders vorgestellt!

Eine Zeitlang hatte Quentin Straße um Straße abgesucht, aber mittlerweile irrte er ziellos in der Stadt umher und entfernte sich dabei immer weiter vom Zentrum. Die Geschäfte waren spärlicher geworden. Längst war der Abend angebrochen.

Quentin kam an einem riesigen neuen Kornspeicher vorbei, an dem emsig gebaut wurde. Fragen kostet nichts, dachte er bei sich und suchte nach einem Handwerksmeister. Aber leider bekam er auch hier keine Arbeit. Enttäuscht ging er weiter.

Neben dem neuen Kornspeicher war ein älteres, viel kleineres Gebäude. Auch hier wurde Getreide gelagert. Quentin setzte sich an die Wand des kleinen Speichers und dachte nach. Er war müde. Seine Füße taten weh. Er lehnte den Kopf an die Wand und schloss die Augen.

Da hörte er leise ein ihm wohlbekanntes Geräusch. Es war der Klang von aufeinanderreibenden großen Steinscheiben. Quentin sprang auf und schaute suchend umher. Dann hatte er nur wenige Häuser entfernt sein neues Ziel entdeckt.

Aus einem aufgestauten Bach floss Wasser auf ein großes Schaufelrad, das sich gemächlich drehte. Dieses Schaufelrad lief auf einer Welle, die durch ein Mauerloch im Inneren des Hauses verschwand. Quentin wusste genau, wie es drinnen aussehen würde: Auf der Welle würde ein senkrechtes Zahnrad befestigt sein, das in ein waagerechtes Zahnrad griff und dieses drehte. Unterhalb des waagerechten Zahnrades würde sich eine mächtige Steinscheibe befinden, die über eine andere, noch größere Steinplatte mit den ihm so wohlvertrauten Geräuschen immer im Kreis herum rieb. Und zwischen den beiden Steinen wurde Korn zu dem gemacht, was er kannte, solange er denken konnte: Mehl.

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Eine Mühle! Hoffnungsvoll ging Quentin auf die Eingangstür zu und trat ein. Er sah einen kräftigen Mann oben auf einer Bühne über den Mühlsteinen stehen. Der Mann schüttete gerade Korn in einen Trichter, an dessen unterem Ende es aus einem kleinen Loch zwischen die Mühlsteine rieselte.

Außer dem Mann war niemand zu sehen. Quentin wartete geduldig, bis der Müller den Sack in den Trichter geleert hatte und wieder von der Bühne herunterstieg. Dann sprach er ihn an. „Guten Tag, Müllermeister! Ich bin Quentin und suche Arbeit. Habt Ihr vielleicht etwas für mich zu tun? Ich bin schon seit vielen Tagen auf Wanderschaft, habe nichts mehr zu essen und auch kein Dach über dem Kopf.“

Der Müller schaute Quentin grübelnd an. „So so. Du bist wohl zuhause ausgerissen, was?“ „Nein, so ist es nicht“, widersprach Quentin und erzählte dem Müller, warum er auf Wanderschaft war. Die Sache mit den Gegenständen, die ihm Geschichten erzählten, ließ er allerdings aus. Als er geendet hatte, sah ihn der Müller nachdenklich an.

„Also gut“, sagte er, „Ich denke, ich kann es mit Dir versuchen. Mein zweiter Geselle Cedrik hat mich heute Morgen Hals über Kopf verlassen. Seine Großmutter ist schwer erkrankt, und er wollte unbedingt zu ihr. Also kann ich im Moment zwei helfende Hände gut gebrauchen! Ich werde Dich in die Lehre nehmen. Du bekommst freie Kost und Unterkunft, dazu gebe ich Dir zuerst einmal einen halben Taler in der Woche. Wenn Du geschickt und fleißig bist, können wir in ein paar Wochen noch einmal über Deinen Lohn reden. Einverstanden?“

Quentin nickte heftig, weil er vor lauter Freude keinen Ton herausbekam. Der Müller fuhr fort: „Komm mit, ich zeige Dir, wo Du schlafen kannst. Danach wasch Dich ordentlich, das Essen ist bald fertig!“ Mit diesen Worten verließen sie die Mühle und gingen in das angebaute Wohnhaus.

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Samuel, Mearas alter Lehrer, hatte die Koordination der Vorbereitungen übernommen. Als Erstes hatte er alle Lehrlinge zusammengerufen, die die Betriebe in Filitosa leiteten. Denen hatte er genauestens erläutert, was als Nächstes zu tun war.

Alle mussten mit Proviant ausgerüstet werden, damit bei der Suche möglichst wenig Zeit verschwendet wurde. Alle brauchten eine Decke, Kochutensilien, nützliche Werkzeuge. Eben alles, was man für eine mehrwöchige Reise einpacken musste. Und natürlich auch einen Rucksack, worin alles Platz fand.

Dann hatte der erste Tag einer arbeitsreichen Woche begonnen. Die Lehrlinge hatten wieder ihre Betriebe aufgesucht. Wer aus seinem eigenen Betrieb nichts beitragen konnte, half an anderer Stelle. Auch dies wurde von Samuel koordiniert. Von frühmorgens bis tief in die Nacht wurde die größte Suchaktion vorbereitet, die die Magier jemals durchgeführt hatten.

Amina war mit ihrer Metzgerei mit am härtesten betroffen. Normalerweise musste sie nur einen kleinen Teil unverderblicher Waren vorhalten, um Reisende ausstatten zu können. Jetzt sollte innerhalb von nur einer Woche eine Meute von über zweihundert Magiern, Gesellen und Lehrlingen ausgerüstet werden!

Der Bestand an Schweinen und Rindern würde in den nächsten Tagen spürbar abnehmen. Im Schlachthaus, in der Metzgerei und in der Räucherkammer herrschte Hochbetrieb.

Amina gönnte sich kaum eine Pause. Spät abends ging sie noch die Listen mit den aktualisierten Warenbeständen durch. Erst als sie sah, dass sie ganz gut im Zeitplan lag, beschloss sie, Feierabend zu machen.

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Nach dem Abendessen ging Quentin noch einmal allein hinaus in die Mühle. Er strich sanft mit den Fingern über die großen schweren Mühlsteine, die ihm von einem ruhigen und ausgeglichenen Leben erzählten.

Nach einer Weile ging er wieder ins Haus zurück und wünschte allen eine gute Nacht. Dann ging er ins Bett. An diesem Abend schlief Quentin seit langer Zeit wieder als glücklicher Junge ein.

 

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Meara sank todmüde ins Heu. Sie hatte mindestens einen halben Tag verloren, weil sie auf ihrem Weg auf ein großes Moor gestoßen war. Der Schutzschild funktionierte zwar bei Hindernissen, die ihr im Weg waren, aber festen Boden brauchte sie trotzdem unter den Füßen. Es war Meara nichts anderes übrig geblieben, als um das Moor herumzuwandern.

Mehrmals war sie bis über die Knie in den tückischen Grund eingesunken, weil sie dachte, der Boden sei fest. Irgendwann hatte sie sich dann entschieden, langsamer zu gehen und genauer auf die Stellen zu schauen, auf die sie ihren Fuß setzen wollte. Ab diesem Zeitpunkt ging es wesentlich besser, und im Ergebnis kam sie so schneller voran, als wenn sie sich alle Stunde mühsam aus dem Morast herausarbeiten musste.

Bei Einbruch der Nacht war sie dann auf die Hütte eines Torfstechers gestoßen. Für ein paar Münzen war dieser bereit, ihr etwas zu essen und einen Schlafplatz zu geben.

Nun lag sie also im Heu und war wütend auf sich selbst. Dabei konnte sie ja eigentlich gar nichts dafür, dass das Moor auf ihrem Weg lag. Aber wenn das noch ein paar Mal passierte, würde sie niemals rechtzeitig ankommen!

Auch Meara machte sich schon den ganzen Tag Gedanken darüber, was in Filitosa wohl vorgefallen sein würde. Aber sie konnte sich ebenso wenig wie Milan einen Reim darauf machen. Während sie noch vor sich hingrübelte, fiel sie in einen tiefen und traumlosen Schlaf.

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Am nächsten Tag waren Filitosas Hähne auf ihren Misthaufen ziemlich erbost über die Magier: Als sie gerade anfangen wollten zu krähen und das Dorf zu wecken, mussten sie feststellen, dass die Arbeit überall bereits wieder begonnen hatte.

Amina hatte sich am Vormittag mit Adina zum Frühstück verabredet. Sie tauschten sich über ihre jeweiligen Fortschritte aus. Es war alles sehr aufregend, da waren sich die Zwillinge einig.

Amina war allerdings noch ein klein wenig aufgeregter als Adina. Sicher würde Milan auch kommen! Sie mochte den hochgewachsenen Schmiedegesellen schon seit langer Zeit. Leider hatte sie sich nie getraut, ihn anzusprechen, sondern ihn immer nur aus der Ferne bewundert. Wenn er in die Metzgerei kam, musste ihn sogar immer jemand anderes bedienen, weil Amina vor Aufregung keinen einzigen Ton herausbrachte. Dann war er auf Wanderschaft gegangen, und Amina war wochenlang untröstlich gewesen. Und nun würde sie ihn nach zwei Jahren endlich einmal wiedersehen!

Adina war die Aufregung ihrer Schwester nicht entgangen. Sie freute sich für sie, konnte es aber auch nicht lassen, Amina aufzuziehen.

Nachdem die beiden noch ein wenig herumgealbert hatten, ging jede wieder an ihre Arbeit. Ein weiterer langer Tag musste so gut es ging genutzt werden!