Öffentliches Recht im Überblick

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b) Verfahren

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Das Primärrecht kennt für die Schaffung des Sekundärrechts zwei verschiedene Verfahrensarten: Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren gem. Art. 289 I AEUV und das besondere Gesetzgebungsverfahren gem. Art. 289 II AEUV. Welches Verfahren beim Erlass einer Verordnung, einer Richtlinie oder eines Beschlusses anzuwenden ist, ergibt sich jeweils aus der inhaltlichen Kompetenznorm. Meist gilt das ordentliche Gesetzgebungsverfahren (z.B. in der Agrarpolitik beim Arbeitnehmerfreizügigkeitsrecht: Art. 43 II, 46 AEUV), während das besondere Gesetzgebungsverfahren nur in relativ seltenen Ausnahmefällen gilt (z.B. für das bisher nicht verwirklichte EP-Wahlrecht gem. Art. 22 II AEUV).

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aa) Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren ist in Art. 294 AEUV relativ detailliert ausgestaltet.

Abbildung 23:

Ordentliches Gesetzgebungsverfahren der EU


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In allen Verfahrensstadien wirkt die Kommission mit, sei es durch Abgabe einer eigenen Stellungnahme am Ende der Ersten Lesung oder zu den Änderungswünschen des EP in der Zweiten Lesung, sei es durch die Teilnahme an der Arbeit des Vermittlungsausschusses. Formal hat sie nur die Rolle des Unterstützers und Ermöglichers, politisch-faktisch aber eines (Mit-)Entscheiders. Dies liegt insbesondere daran, dass die Kommission in jedem Stadium des Verfahrens ihre Initiative wieder zurücknehmen und damit den Verfahrensabbruch in der Hand hat.

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bb) Das besondere Gesetzgebungsverfahren ist demgegenüber nicht so stark standardisiert. Hier hat entweder der Rat oder das EP „den Hut auf“, während das jeweils andere Organ nur eine Mitwirkungsrolle hat (näher dazu s.o., Rn. 135). Diese Mitwirkung kann entweder in einer bloßen Anhörung bestehen (Anhörungsverfahren), oder in einem Zustimmungsvorbehalt (Zustimmungsverfahren).

3. Verhältnis zwischen europäischem und nationalem Recht

Vertiefungshinweis:

Fischer/Fetzer, Europarecht, Rn. 328-367.

a) Vorrangstellung des Unionsrechts

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Eine zentrale Besonderheit des Unionsrechts liegt in seiner Supranationalität. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass das Unionsrecht eine dem nationalen Recht der EU-Mitgliedstaaten übergeordnete und unmittelbare Rechtsgeltung – sei es gegenüber den Mitgliedstaaten, sei es gegenüber den Unionsbürgern und Unternehmen – beansprucht. Daraus folgt, dass das Unionsrecht nicht nur von den Unionsorganen und -behörden zu beachten ist, sondern auch von allen Behörden und Gerichten der Mitgliedstaaten. Besonders relevant wird dies, wenn nationale und europäische Normen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. In solchen Fällen sind alle mitgliedstaatlichen Stellen verpflichtet, unionsrechtskonform zu entscheiden und die nationale Vorschrift zu missachten (sog. Anwendungsvorrang, s. nachf. Rn.). Der EuGH leitet aus dem Gesamtsystem der EU zudem ab, dass in einer solchen Konfliktsituation das Unionsrecht besonders wirkungsvoll durchgesetzt und ihm nützlich gehandelt werden muss (Grundsatz des „effet utile“).[19] Die Letztentscheidung über die Richtigkeit der Anwendung oder Beachtung des Unionsrechts liegt beim EuGH, der die europaweit einheitliche Rechtsanwendung gewährleistet.[20]

225

Der Vorrang des europäischen Rechts wird als Anwendungsvorrang bezeichnet, was von einem (z.B. bundesstaatlichen) Geltungsvorrang zu unterscheiden ist.



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So unstrittig der Vorrang europäischen Rechts gegenüber dem einfachen nationalen Recht ist, so problematisch war zunächst das Verhältnis von Unionsrecht und nationalem Verfassungsrecht. Dieser Konflikt hat sich anhand des Grundrechtsschutzes entzündet und ist in der berühmten Solange-Rechtsprechung des BVerfG aufgearbeitet worden. So hat das BVerfG in der Solange I-Entscheidung von 1974 einen europäischen Rechtsakt den deutschen Grundrechten unterworfen, weil es damals noch keinen ausgebauten „eigenen“ Grundrechtsschutz im Unionsrecht gab. Dies war verbunden mit der Ankündigung stets so zu verfahren, solange es noch keinen dem GG entsprechenden Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene gibt.[24]

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Die Solange I-Entscheidung hat zu merklichen Aktivitäten zur Stärkung und Verbesserung des Grundrechtsschutzes auf europäischer Ebene geführt, weshalb das BVerfG in der Solange II-Entscheidung 1986 „Entwarnung“ geben und seinen Vorbehalt der Überprüfung europäischer Rechtsakte am Maßstab der deutschen Grundrechte wieder aufheben konnte. Dort erklärte es, dem EuGH im Rahmen eines „Kooperationsverhältnisses“[25] die Überprüfung der Grundrechtskonformität europäischer Rechtsakte zu überlassen, solange in der EG (heute EU) ein wirksamer und dem GG adäquater Grundrechtsschutz gewährleistet ist.[26] Seither sieht sich das BVerfG nur noch in einer Reservefunktion zur Gewährleistung der Grundrechte. Allerdings hat es sich 2019 in einem kühnen Akt der Selbstermächtigung auch für Verletzungen von Unionsgrundrechten für zuständig erklärt, soweit diese bei deutschem Hoheitshandeln maßgeblich sind (näher dazu unten, Rn. 295).[27]

b) Begründung des Unionsrechtsvorrangs

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Diese weitreichende Einwirkungsmöglichkeit des Unionsrechts in die nationalen Rechtsordnungen setzt voraus, dass die Mitgliedstaaten diesen Souveränitätsverlusten zugestimmt haben. Da die rechtliche Quelle dieser Supranationalität in den (primärrechtlichen) europäischen Verträgen liegt, müssen diese einschließlich ihrer Änderungen und Weiterentwicklungen stets von allen EU-Mitgliedstaaten mitgetragen werden. Und genau aus diesem Grund verlangt das BVerfG, dass die (souveränen) Mitgliedstaaten „Herren der Verträge“ bleiben müssen.[28] Die verfassungsrechtliche Grundlage im deutschen Recht für diese Souveränitätsübertragungen bildet Art. 23 GG, wonach Deutschland „bei der Entwicklung der Europäischen Union mit[wirkt], die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet“ und dafür „durch Gesetz […] Hoheitsrechte übertragen“ kann.

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Der Vorrang des Unionsrechts vor den 27 nationalen Rechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten ist im Ergebnis unstreitig. Dies gilt allerdings nicht für die rechtsdogmatische Begründung dieses Vorrangs: Während der EuGH auf den Charakter der Union als Rechtsgemeinschaft – wozu auch eine einheitliche Rechtsanwendung zählt – abstellt, sieht das BVerfG hauptsächlich die Akzeptanz, Rechtsübertragung und Umsetzung durch die Mitgliedstaaten als Grund dafür an.[29]

Abbildung 24:

Begründung des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts


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c) Problem der Kompetenzgrenzen (Ultra-vires-Kontrolle)

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Damit diese europäischen Rechtsakte rechtliche Geltung (und damit auch den Vorrang) beanspruchen können, müssen sie sich innerhalb der der EU übertragenen Kompetenzen bewegen. Da das BVerfG das Unionsrecht aus der mitgliedstaatlichen Perspektive betrachtet, behält es sich als nationales Gericht die Entscheidung darüber vor, ob ein solcher Rechtsakt aus den Grenzen der Hoheitsübertragung ausbricht (sog. „ultra-vires-Akt“).[30] Darauf aufbauend hat das BVerfG die Anforderungen an eine solche Ultra-vires-Kontrolle 2010 weiter konkretisiert. Danach kommt dies nur in Frage, wenn der Kompetenzverstoß eines EU-Organs besonders offensichtlich und gravierend ist; außerdem muss zuvor der EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 267 AEUV Gelegenheit zur Korrektur der Kompetenzüberschreitung gehabt haben.[31]

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Zum Schwur gekommen sind diese Grundsätze im Zusammenhang mit geldpolitischen Entscheidungen der EZB. So war bereits der OMT-Beschluss[32] von 2012 nach Auffassung des BVerfG nicht mehr vom Mandat der EZB gedeckt.[33] Nachdem der EuGH diese Meinung im Vorabentscheidungsverfahren jedoch nicht teilte,[34] hat das BVerfG dies akzeptiert und (mit einschränkenden Auslegungsvorgaben für die Mitwirkung der Bundesbank beim OMT-Programm) von einer Ultra-vires-Feststellung abgesehen.[35] Zum offenen Konflikt kam es dann im Zusammenhang mit dem PSPP-Anleihenprogramm[36] der EZB. Wieder sah das BVerfG darin eine Überschreitung des EZB-Mandats und legte dies dem EuGH vor, der dem nicht folgte.[37] Diesmal jedoch hat das BVerfG die Entscheidung des EuGH nicht akzeptiert, sondern als „nicht mehr nachvollziehbar und objektiv willkürlich“ bezeichnet. Ein solches EuGH-Urteil sei nicht mehr von seinem Rechtsprechungsauftrag gedeckt und daher – jedenfalls für Deutschland – nicht mehr hinreichend demokratisch legitimiert. Der Kernkonflikt zwischen dem BVerfG und EuGH besteht darin, ob die Grenzen der Unionszuständigkeiten „von unten“ aus Sicht des kompetenzübertragenden Mitgliedstaats und damit der obersten nationalen Gerichte zu beurteilen sind, oder ob sie „von oben“ als Frage der – dem EuGH vorbehaltenen – Auslegung der dem Unionsrecht zugehörigen Primärrechtsverträge anzusehen sind.

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Da der EuGH in seiner Rechtsprechungsgeschichte viele Jahre nicht als neutraler Mittler zwischen unionalen und mitgliedstaatlichen Kompetenzen aufgetreten ist, sondern sich als Integrationsmotor verstanden und folglich meist stark EU-freundlich entschieden hat,[38] steht die europäische Rechtsgemeinschaft insoweit vor einem Dilemma. Dieses ist unauflöslich mit der Frage des Rechtscharakters der EU (s.o., Rn. 52 f.) verbunden, nämlich ob man die EU als Zusammenschluss der Mitgliedstaaten („von unten“) definiert, oder als supranationale Organisation („von oben“), die aus Mitgliedstaaten besteht. Aus diesem Dilemma führt auch der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht heraus, da dieser Vorrang denklogisch nur für kompetenzgerecht erlassenes Unionsrecht gelten kann, was wieder nur zu der Frage zurückführt, wie und wo diese Frage zu klären ist.

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Verständnisfragen:


1. Erläutern Sie die Stufen der Normenhierarchie im europäischen Recht. (Rn. 182–185, 191, 205)
2. Nennen Sie die drei wichtigsten sekundärrechtlichen Rechtsakt-Formen und erklären Sie, inwiefern sich diese Formen voneinander unterscheiden. (Rn. 192–203)
3. Erläutern Sie die verschiedenen Arten von Rechtssetzungskompetenzen der EU. (Rn. 209 f.)
4. Erläutern Sie die Rolle des EP und der Kommission im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren der EU. (Rn. 217–222)
5. Was bedeutet „Supranationalität“ in Bezug auf das Unionsrecht? (Rn. 224)
6. Zeigen Sie anhand des Europarechts, was man unter Anwendungsvorrang und Geltungsvorrang versteht. (Rn. 225)

Anmerkungen

[1]

Das sind Verträge, die von mehr als nur zwei Staaten abgeschlossen worden sind. Beispiele dafür sind der NATO-Vertrag oder das Pariser Klimaschutz-Abkommen.

[2]

Fischer/Fetzer, Europarecht, Rn. 161 ff.

[3]

Vgl. Eichholz, Europarecht, Rn. 94.

[4]

Fischer/Fetzer, Europarecht, Rn. 176 f.

[5]

Fischer/Fetzer, Europarecht, Rn. 190 ff.

[6]

Eichholz, Europarecht, Rn. 103; Fischer/Fetzer, Europarecht, Rn. 196 ff.

[7]

Fischer/Fetzer, Europarecht, Rn. 642 ff.

[8]

Eichholz, Europarecht, Rn. 101; EuGH Slg. 1991, I-5357.

[9]

Fischer/Fetzer, Europarecht, Rn. 205.

[10]

Fischer/Fetzer, Europarecht, Rn. 206; Eichholz, Europarecht, Rn. 109; EuGH, Slg. 1970, 825; die damals noch anderen Begrifflichkeiten EG (EU) und Entscheidung (Beschluss) wurden entsprechend der heutigen Rechtslage angepasst.

[11]

Eichholz, Europarecht, Rn. 187.

[12]

Da das BVerfG im Lissabon-Urteil das Verfahren gem. Art. 352 AEUV einem Vertragsänderungsverfahren gleichgestellt hat, darf der deutsche Vertreter im Rat nur bei Vorliegen einer gesetzlichen Ermächtigung zustimmen, vgl. Streinz, Europarecht, Rn. 551.

[13]

Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 59-67.

[14]

Streinz, in: Streinz, EUV/AEUV, Art. 352 AEUV Rn. 13.

[15]

Rat der EU: Leitfaden für das ordentliche Gesetzgebungsverfahren (https://www.consilium.europa.eu/media/29854/qc0415816den.pdf), S. 22.

[16]

Zu den Mitgliederbegriffen im Zusammenhang mit dem Bundestag s.u., Rn. 389 ff.

[17]

 

Das ohnehin seltene Vermittlungsverfahren ist seit 1999 nur in zwei Fällen gescheitert.

[18]

In diesem Stadium ist ein Gesetzgebungsverfahren nur in sehr seltenen Fällen – und dann stets an einer Ablehnung des Parlaments – gescheitert.

[19]

Streinz, Europarecht, Rn. 465.

[20]

Schwarze/Wunderlich, in: Schwarze u.a. (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 267 AEUV Rn. 2 f.

[21]

Eichholz, Europarecht, Rn. 80.

[22]

EuGH, Urteil vom 8.4.2014 – Az. C-293/12 und C-594/12.

[23]

Eichholz, Europarecht, Rn. 74 f.

[24]

BVerfGE 37, 271 (Ls.) – Solange I.

[25]

BVerfGE 89, 155 (Ls. 7) – Maastricht.

[26]

BVerfGE 73, 339 (Ls. 2) – Solange II.

[27]

BVerfGE 152, 216 – Recht auf Vergessen II.

[28]

BVerfGE 123, 267 (348 f.) – Lissabon.

[29]

Näher dazu Hatje, in Schwarze u.a. (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 4 EUV Rn. 47, wonach auch der französische Verfassungsrat und weitere nationale Verfassungsgerichte den Anwendungsvorrang im jeweiligen nationalen Recht begründet sehen; Fischer/Fetzer, Europarecht, Rn. 343 f.; Eichholz, Europarecht, Rn. 76-78.

[30]

BVerfGE 123, 267 (353) – Lissabon.

[31]

BVerfGE 126, 286 – Honeywell.

[32]

OMT steht für „Outright Monetary Transactions“; der OMT-Beschluss der EZB ermöglicht das unbegrenzte Aufkaufen von Staatsanleihen ausgewählter EU-Mitgliedstaaten, solange diese zugleich an einem näher definierten Reformprogramm teilnehmen, um eine einheitliche Geldpolitik sicherzustellen.

[33]

BVerfGE 134, 366 (Rn. 69 ff.) – OMT-Beschluss I.

[34]

EuGH, Urt. v. 16.6.2015 – Az. C-62/14.

[35]

BVerfGE 142, 123 (204 ff.) – OMT-Beschluss II.

[36]

PSPP steht für „Public Sector Purchase Programme“.

[37]

BVerfGE 146, 216 (264 ff.); EuGH, Urt. v. 11.12.2018 – Az. C-493/17.

[38]

Vgl. Streinz, Europarecht, Rn. 628, mit Hinweis auf eine Entwicklung zu einer neutraleren Haltung der EuGH in der jüngeren Vergangenheit; ebenso Schwarze/Wunderlich, in: Schwarze u.a. (Hrsg.), EU-Kommentar, Art. 19 EUV Rn. 37.