Öffentliches Recht im Überblick

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Erstes Kapitel Europarecht › V. Grundfreiheiten

V. Grundfreiheiten

1. Allgemeine Grundsätze

Vertiefungshinweis:

Fischer/Fetzer, Europarecht, Rn. 414-468.

a) Funktion

234

Die vier Grundfreiheiten tragen wie kein anderes Instrument zur Verwirklichung des Binnenmarktziels (s.o., Rn. 78 ff.) bei. Dies bringt Art. 26 II AEUV klar zum Ausdruck:

„Der Binnenmarkt umfasst einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist.“

Damit werden zum einen Sinn und Zweck der Grundfreiheiten betont: Kraft dieser Freiheiten sollen die zwischenstaatlichen Hemmnisse, die der Verwirklichung des freien Binnenmarkts entgegen stehen, beseitigt werden. Und zum anderen sind die vier Bezugspunkte der Grundfreiheiten benannt, nämlich der Warenverkehr, der Personenverkehr, der Dienstleistungsverkehr und der Kapitalverkehr.

235

Alle Grundfreiheiten sind grundrechtsähnlich angelegt und haben daher eine subjektive Rechtsqualität. Sie stellen also nicht nur hehre Ziele dar, die die Unionsorgane und Mitgliedstaaten anzustreben haben, sondern stehen auch betroffenen Einzelpersonen als subjektives Recht zu.

236

Aus dieser subjektiven Rechtsqualität folgt auch das Recht zur gerichtlichen Geltendmachung. So kann (mindestens) jeder EU-Bürger alle rechtlichen Maßnahmen, die seitens eines Mitgliedstaates ihm gegenüber ergehen, vor jedem zuständigen nationalen Gericht direkt oder indirekt am Maßstab der Grundfreiheiten messen lassen. Wenn eine mitgliedstaatliche Maßnahme, die gegen eine Grundfreiheit verstößt, durch eine Regelung des EU-Sekundärrechts gedeckt ist, muss der Bürger einen Verstoß des Sekundärrechts gegen die Grundfreiheit geltend machen. Gibt es eine solche sekundärrechtliche Regelung nicht, kann der Bürger einen direkten Verstoß der mitgliedstaatlichen Maßnahme gegen die Grundfreiheit rügen.

b) Anwendungsvoraussetzungen

aa) Markt- bzw. Wettbewerbsbezug

237

Aufgrund der genannten Hauptfunktion, den Binnenmarkt zu verwirklichen und abzusichern, gelten die Grundfreiheiten (allerdings lediglich in ihrem Kern) für wirtschafts- und wettbewerbsbezogene Sachverhalte. Die Anforderungen daran – und damit auch die Bedeutung dieser Anwendbarkeitsvoraussetzung – sind jedoch kontinuierlich gesunken. Mittlerweile reicht es aus, wenn der Sachverhalt einen auch nur geringfügigen Bezug zum Wirtschaftsleben hat. So sind auch sportliche oder kulturelle Tätigkeiten von den Grundfreiheiten erfasst, sofern dabei Geldzahlungen erfolgen, die keinen völlig untergeordneten Umfang haben (z.B. Gastkonzert eines fremden Orchesters).[1]

Beispiel:

Dies hat der EuGH im Bosman-Fall klargestellt: Hier ging es um einen belgischen Profi-Fußballer, der von seinem belgischen zu einem französischen Verein wechseln wollte. Dies scheiterte aber an den – durch den abgebenden Verein nicht erfüllten – Transferregeln des belgischen Fußballverbandes (v.a. bezüglich der Ablösesumme). Obwohl der Sport – auch der Profisport – zumindest bei kleineren Vereinen (wie hier) traditionell nicht als Gegenstand wirtschaftlicher Tätigkeit angesehen wurde, hat der EuGH hier die Anwendbarkeit des Unionsrechts wegen der Auswirkungen dieser Transferregeln das Zustandekommen eines solchen Profi-Arbeitsvertrags bejaht.[2]

bb) Grenzüberschreitender Charakter

238

Außerdem kann eine unionsrechtliche Grundfreiheit grundsätzlich nur bei grenzüberschreitenden Fragestellungen geltend gemacht werden. Wenngleich auch dieses Merkmal mittlerweile – nicht zuletzt durch die Einführung der Unionsbürgerschaft im Jahr 1993 (s.o., Rn. 55 ff.) – in einem sehr weiten Sinne verstanden wird, kann darauf noch nicht – wie teilweise aber schon vertreten wird – völlig verzichtet werden, solange in den Verträgen dies vorausgesetzt wird (vgl. z.B. Art. 34 I AEUV: „zwischen den Mitgliedstaaten“; Art. 49 I AEUV: „eines anderen Mitgliedstaates“; Art. 56 I AEUV: „in einem anderen Mitgliedstaat“).[3] Allerdings soll laut EuGH (zumindest bei der Warenverkehrsfreiheit) eine hypothetisch-potenzielle Auswirkung grenzüberschreitender Art für die Anwendbarkeit ausreichen.[4] Dieser Gedanke ließe sich auch auf die anderen Grundfreiheiten übertragen.

c) Schutzbereich

aa) Personeller Schutzbereich

239

Um sich auf eine Grundfreiheit berufen zu können, muss zunächst ihr personeller Schutzbereich eröffnet sein. Dieser erfasst alle Unionsbürger und in der Union ansässigen Unternehmen (vgl. Art. 54, 62 AEUV), teilweise sogar darüber hinaus auch sonstige Personen (bei der Waren- und Kapitalverkehrsfreiheit oder im Rahmen von Assoziierungsabkommen mit Drittstaaten).[5]

bb) Sachlicher Schutzbereich

240

Ebenso muss eine der vier Grundfreiheiten inhaltlich betroffen sein:


Freier Warenverkehr, Art. 28-44 AEUV (s.u., Rn. 252–256),
freier Personenverkehr, Art. 45-55 AEUV (s.u., Rn. 257–263),
freier Dienstleistungsverkehr, Art. 56-62 AEUV (s.u., Rn. 264–272) und
freier Kapitalverkehr, Art. 63-66 AEUV (s.u., Rn. 273–278).

cc) Keine Bereichsausnahme

241

Die Grundfreiheiten gelten nicht für hoheitliche Tätigkeiten (Art. 45 IV, 51 I, 62, 65 AEUV). Diese Ausnahmen werden sehr eng verstanden und umfassen lediglich Aufgaben, bei denen das staatliche Gewaltmonopol in besonderer Weise in Anspruch genommen wird. Hierzu zählen die innere und äußere Sicherheit (Polizei, Verteidigung), die Tätigkeit der Justiz (bis hin zu Urteilen mit Haftstrafen) und die Steuerverwaltung. Neben dem hoheitlichen Eingriffscharakter dieser Funktionen spricht die erforderliche engere Verbindung zwischen Funktionsträger und Staat (kraft Staatsangehörigkeit) für diese Sonderbehandlung. Soweit der Staat aber quasi als Dienstleister auftritt (z.B. bei Forschung und Lehre an den Hochschulen), gelten diese Bereichsausnahmen nicht. Demnach könnte sich ein italienischer Polizist bei seiner Bewerbung in Deutschland nicht auf die Personenverkehrsfreiheit berufen, ein Lehrer dagegen schon.[6]

d) Eingriff

aa) Maßnahme eines Verpflichteten

242

Der bereits erwähnte grundrechtsähnliche Charakter führt dazu, dass die Grundfreiheiten primär im Verhältnis zwischen Bürgern und hoheitlich agierender Obrigkeit wirken. Deshalb kann ein Eingriff nur durch die EU selbst oder einen Mitgliedstaat der Union erfolgen. Zu Letzteren zählen auch deren hoheitliche Substrukturen wie Kommunen und andere Selbstverwaltungsträger (z.B. Handwerks- oder Industrie- und Handelskammern), ja sogar Unternehmen, die unter einem beherrschenden Einfluss des Staates stehen. Eine unmittelbare Drittwirkung gegenüber anderen Bürgern bzw. Unternehmen kommt den Grundfreiheiten dagegen grundsätzlich nicht zu, wobei der EuGH verschiedene Ausnahmen zugelassen hat. So können beispielsweise Regularien eines nationalen Fußballverbands für Spielerwechsel, die einem grenzüberschreitenden Transfer entgegen stehen, gegen die Personenverkehrsfreiheit verstoßen, obwohl der Verband eine privatrechtliche Einrichtung ist.[7]

bb) Diskriminierung

243

Der Eingriff in eine Grundfreiheit kann zum einen in einer staatsangehörigkeits- oder herkunftsbedingten Diskriminierung bestehen. Insofern stellen die Grundfreiheiten auch eine Konkretisierung des allgemeinen Diskriminierungsverbots gem. Art. 18 AEUV dar, wonach „unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge […] in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten [ist].“ Das bedeutet, dass z.B. Holländer in Deutschland in keiner Hinsicht – d.h. weder offen noch verschleiert – schlechter behandelt werden dürfen, als eben Deutsche behandelt werden.[8] Umgekehrt bedeutet dies ein Inländergleichbehandlungsgebot, wonach alle nichtdeutschen EU-Bürger in Deutschland wie die deutschen Staatsbürger behandelt werden müssen – oder sogar besser, weil das Unionsrecht der sogenannten Inländerdiskriminierung nicht entgegen steht (die allerdings mit dem Gleichbehandlungs-Grundrecht gem. Art. 3 I GG kollidieren kann).

 

cc) Beschränkungsverbot

244

Aber die Grundfreiheiten gehen noch darüber hinaus: Ein Eingriff liegt auch bei nichtdiskriminierenden Regelungen und Maßnahmen der Mitgliedstaaten vor, mit denen die Beschränkung einer Grundfreiheit – unterschiedslos für eigene und fremde Staatsangehörige – verbunden ist (sog. Beschränkungsverbot). Das ist zum Beispiel der Fall, wenn in Griechenland gesetzlich festgelegt ist, dass ein diplomierter Optiker nicht mehr als ein Geschäft betreiben darf. Diese Regelung gilt unterschiedslos für In- und Ausländer. Zugleich ist sie aber geeignet, die Ausübung der Niederlassungsfreiheit für ausländische Optiker in Griechenland „zu behindern oder weniger attraktiv zu machen“. Diese freiheitsbeschränkende Wirkung hat der EuGH als Verstoß gegen Art. 49 AEUV angesehen. Freilich gilt dieses Beschränkungsverbot für nichtdiskriminierende Regeln nur beim „ob“ das Marktzugangs, nicht aber beim „wie“ der Berufsausübung.[9]

dd) Schutzpflichten

245

Der EuGH leitet aus den Grundfreiheiten in Verbindung mit dem Handlungsgebot in Art. 4 III UA 2 EUV schließlich auch die Verpflichtung der Mitgliedstaaten ab, in ihrem Gebiet die Wahrnehmung der Grundfreiheiten auch aktiv zu unterstützen und – namentlich gegenüber Konkurrenten – zu schützen. So muss beispielsweise ein EU-Staat gegen „eigene“ Bauern vorgehen, die eine Lieferung von Obst und Gemüse aus anderen Mitgliedstaaten durch eine Straßenblockade behindern.[10] Daher kann auch die Nichterfüllung einer solchen Schutzpflicht einen Eingriff begründen.

e) Rechtfertigung (Schranken)

246

Wie jedes Recht sind auch die Grundfreiheiten nicht schrankenlos. Deshalb gibt es (wie bei den Grundrechten, s.u. Rn. 617–625) Schranken, die einen Eingriff in eine Grundfreiheit rechtfertigen können. Teilweise sind diese in verschiedenen AEUV-Bestimmungen ausdrücklich geregelt. So erlauben die Art. 45 III, 52 I AEUV Einschränkungen der Personenverkehrsfreiheiten „aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit“ (sog. ordre public-Vorbehalt); für die Warenverkehrsfreiheit kommen als geschriebene Schranken noch der Schutz der öffentlichen Sittlichkeit, der Tier-, Pflanzen- und Kulturgüterschutz und der Schutz des gewerblichen und kommerziellen Eigentums hinzu (Art. 36 AEUV).

247

Außerdem gibt es immanente Schranken, die der EuGH aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls abgeleitet hat, wenn die geschriebenen Rechtfertigungsgründe lückenhaft sind. Diese Schranken sind dadurch gekennzeichnet, dass sie zwingende Erfordernisse mit nicht-wirtschaftlichem und diskriminierungsfreiem Charakter darstellen müssen. Dies ist bislang für den Umwelt-, Verbraucher- und Arbeitnehmerschutz sowie für die Lauterkeit des Handelsverkehrs, die Wahrung der Kohärenz des Steuersystems, das finanzielle Gleichgewicht der Sozialsysteme, Grundrechte Dritter und für zwingende Gründe des Allgemeinwohls anerkannt.[11]

248

Alle Schranken müssen – um der Effektivität der Grundfreiheiten willen – eng ausgelegt werden und müssen in ihrer Anwendung stets dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen (Schranken-Schranken).[12] Ein besonders schönes Beispiel ist dafür das Reinheitsgebot des deutschen Bieres:

249

Beispiel:

Nach dem deutschen Reinheitsgebot darf Bier nur bestimmte Zutaten enthalten (Gerstenmalz, Hopfen, Hefe und Wasser). Alle anderen Brauereiprodukte durften zwar in Deutschland auch verkauft werden, aber eben nicht unter der Bezeichnung „Bier“. Darin sah der EuGH eine Handelsbeschränkung für ausländische Bierprodukte, die eine andere Zusammensetzung haben. Als Rechtfertigung für diesen Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit berief sich Deutschland auf den Verbraucherschutz. Denn der deutsche Bierkonsument erwarte unter der Bezeichnung „Bier“ nur Brauereiprodukte nach dem Reinheitsgebot. Würde man auch andere „Biere“ unter dieser Bezeichnung zulassen, führe dies zu einer Täuschung des Verbrauchers. Der EuGH hat diese Schrankenargumentation zwar akzeptiert, aber nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf das unabdingbar Nötige reduziert: Damit der deutsche Verbraucher nicht getäuscht wird, reicht bei Bierprodukten mit anderer Zusammensetzung eine Zutatenangabe auf dem Flaschenetikett aus; das weitergehende Verbot der Bezeichnung als „Bier“ ist dagegen nicht erforderlich.[13] Es gilt also zum einen der Grundsatz „Etikettierung vor Verbot“, weil der EuGH vom „mündigen Verbraucher“ ausgeht, sowie zum anderen das sog. Ursprungslandprinzip. Danach darf jedes Produkt, das in einem Mitgliedstaat nach den dortigen Gesetzen rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden ist, grundsätzlich frei in der gesamten EU vertrieben werden.

f) Untersuchungsaufbau

250

Aus Vorstehendem ergibt sich demnach folgender Untersuchungsaufbau, mit dem die Verletzung einer Grundfreiheit festgestellt werden kann:

Abbildung 25:

Verletzung einer Grundfreiheit (Prüfungsschema)


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g) Folgen bei einem Verstoß gegen eine Grundfreiheit

251

Gelangt die vorstehende Prüfung zu dem Ergebnis, dass eine Grundfreiheit verletzt ist, dürfen die zu diesem Verstoß führenden nationalen Vorschriften im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr innerhalb der EU nicht angewendet werden. Weil insoweit aber nur ein Anwendungsvorrang besteht (s.o., Rn. 225), bleiben dieselben nationalen Normen insbesondere bei rein inländischen Wirtschaftsvorgängen – jedenfalls aus unionsrechtlicher Sicht – anwendbar.

Beispiel:

So kann der französische Käsehersteller F einen Käse mit 30 % Fettanteil nach Italien exportieren, obwohl für den dortigen Vertrieb ein Fettanteil von mindestens 45 % vorgeschrieben ist. Der italienische Kollege von F hingegen bleibt – mangels grenzüberschreitenden Charakters – an die inneritalienischen Vorschriften gebunden.[14]

2. Warenverkehrsfreiheit

Vertiefungshinweis:

Fischer/Fetzer, Europarecht, Rn. 469-501.

252

Abbildung 26:

Warenverkehrsfreiheit


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253

Die Warenverkehrsfreiheit der Art. 28–37 AEUV geht von einem weit gefassten Begriff „Ware“ aus. Dazu zählen alle Erzeugnisse mit Geldwert. Dabei kann es sich – je nach Lage der Dinge – sogar um Abfälle handeln, wenn sie Handelsgegenstand sind. Auch unkörperliche Handelsgüter wie Strom oder Gas gelten als Ware.[15] Um unter die Warenverkehrsfreiheit zu fallen, muss die Ware außerdem entweder aus einem Mitgliedstaat stammen (Unionsware) oder aus einem Drittland ordnungsgemäß verzollt in die EU eingeführt worden sein (Drittlandsware). Um als Unionsware anerkannt zu sein, muss das Produkt zumindest eine wesentliche Be- oder Verarbeitung in der EU erfahren haben. Das wäre beispielsweise bei einem in Portugal (mit fachlichem Spezialwissen)[16] zusammengebauten Videorecorder der Fall, auch wenn seine Einzelteile aus Japan stammen. Diese Geräte können dann als portugiesische Waren in der EU frei vertrieben werden, auch wenn zollrechtliche Obergrenzen japanischer Waren schon erreicht sind.[17]

254

Konkret hat die Warenverkehrsfreiheit zur Folge, dass mengenmäßige Ein- und Ausfuhrbeschränkungen[18] sowie sog. „Maßnahmen gleicher Wirkung“ zwischen den Mitgliedstaaten verboten sind (Art. 34 f. AEUV). Nach der „Dassonville“-Formel des EuGH ist „jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu behindern, […] als Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Beschränkung anzusehen“.[19] Da es dabei nicht mehr auf die Frage einer Ausländerdiskriminierung ankommt, fallen letztlich alle in irgendeiner Weise beschränkenden Handelsvorschriften darunter.

255

Um diesen zu weiten Anwendungsbereich der Warenverkehrsfreiheit einzuhegen, hat der EuGH im Keck-Urteil die Dassonville-Formel etwas eingeschränkt. Danach sollen nichtdiskriminierende Verkaufsmodalitäten wie das britische Sonntagsverkaufsverbot oder das deutsche Ladenschlussrecht keine „Maßnahmen gleicher Wirkung“ sein, weil sie nur das „wie“ und nicht das „ob“ des Marktzugangs regeln und diskriminierungsfrei für alle gelten.[20] Anders sieht es aus, wenn die Verkaufsmodalitäten faktisch oder rechtlich diskriminierend wirken. So hat der EuGH das deutsche Verbot, Arzneimittel im Internetversandhandel zu vertreiben, als diskriminierende Verkaufsmodalität angesehen (DocMorris-Entscheidung). Denn damit werden die deutschen Apotheken gegenüber ausländischer Konkurrenz faktisch geschützt.[21]

256

Das Gegenstück zur Warenverkehrsfreiheit „nach innen“, also innerhalb des gemeinsamen Binnenmarktes, bildet die Zollunion. Danach bemessen sich die Zölle der Mitgliedstaaten „nach außen“, also gegenüber Drittstaaten, nach einem Gemeinsamen Zolltarif. Dieser kann zwischen verschiedenen Drittstaaten variieren, muss aber EU-weit je Drittstaat identisch sein. Deshalb werden die Außenzölle vom (Minister-)Rat auf Vorschlag der Kommission für alle Mitgliedstaaten verbindlich festgelegt (Art. 31 AEUV). Dadurch unterscheidet sich die EU von einer bloßen Freihandelszone, die nur nach innen wirkt, aber keine gemeinsamen Außentarife hat.[22]

3. Personenverkehrsfreiheiten

Vertiefungshinweis:

Fischer/Fetzer, Europarecht, Rn. 502-554.

257

Abbildung 27:

Personenverkehrsfreiheiten


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258

Die Personenverkehrsfreiheiten umfassen die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit. Ihr Zweck besteht darin, dass ein Angehöriger eines EU-Mitgliedstaates in einem anderen (fremden) EU-Staat arbeiten kann und – wenn er dort auf Dauer arbeitet – in das Rechts-, Sozial-, Steuer- und Wirtschaftssystem dieses anderen EU-Staates mit allen Rechten und Pflichten integriert und insoweit den dortigen Staatsangehörigen gleichgestellt werden soll (Art. 45 III lit. c, 49 II AEUV). Bereichsausnahmen gelten allerdings für die Ausübung hoheitlicher Tätigkeiten (Art. 45 IV, 51 I AEUV). Ebenso fallen generell strafbare Tätigkeiten (z.B. die Übernahme der abhängig beschäftigten Position eines Mafia-Bandenmitglieds oder die selbstständig-freiberufliche Tätigkeit als Berufskiller) nicht mehr in den sachlichen Schutzbereich der Personenverkehrsfreiheiten.

a) Arbeitnehmerfreizügigkeit

259

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit der Art. 45–48 AEUV sichert das Recht der lohnabhängig beschäftigten Arbeitskräfte, sich auf Stellen in der ganzen EU zu bewerben und diese auch wahrzunehmen. Damit ist automatisch die Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis verbunden.[23]

 

260

Der hierfür maßgebliche Arbeitnehmerbegriff ist (wie schon der Warenbegriff) weit auszulegen und erfasst jeden, der


eine wirtschaftliche Leistung für einen anderen erbringt (was beispielsweise bei Studierenden nicht der Fall ist),
Weisungen eines anderen – z.B. bezüglich Zeit, Ort, Inhalt sowie Art und Weise der Tätigkeit – unterliegt und

Nicht relevant für den Arbeitnehmerbegriff sind nationale Regelungen oder Vorstellung von Moral und guten Sitten. Denn sonst wäre die Effektivität der Grundfreiheit nicht sichergestellt. Deshalb können z.B. auch Prostituierte Arbeitnehmerinnen i.S.v. Art. 45 AEUV sein.