Bookwire #7

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Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Die Fraktion, die später die Präfektur Lichterloh gründete, wollte dem unmoralischen Treiben der Gesellschaft ein Ende setzen. Sie wollten sich schon sehr früh vom Rest von Kael abspalten und nach ihren eigenen ethischen Maßstäben existieren; also weniger ressourcenreich leben, um der Schwärzung entgegenzuwirken. Sie zogen in den Norden von Kael, wo später auch viele Zweigstädte und Zweigdörfer von Lichterloh entstanden –«

»Wie Hildenberge?«, vermutete Keli.

»Genau. Herbstfeld ist eine Zweigstadt von Lichterloh und Hildenberge ein Zweigdorf von Herbstfeld. Obwohl es die Hochschule von Herbstfeld schon seit dem Beginn der Neuzeit gibt, wurde die Stadt selbst erst Jahrhunderte später als Zweigstadt Lichterlohs anerkannt. ›Atlas‹ wurde die Präfektur im Westen von Kael. Diese Gruppierung wollte stets zusammenhalten und legte alles daran, alle separierten Partien nach der ideologischen Teilung wieder zu vereinen. Im Osten wurde die Präfektur ›Solaspitz‹ gegründet und im Süden ›Wesenend‹, sowie ›das Fürstentum Nihilis‹, welches sich abermals durch ideologische Differenzen von Wesenend distanziert hatte. Es wurde ein viele Kilometer hoher und hunderte Meter breiter Wall um Kael herum gebaut: der Schwarze Vorhang. Nur wenige Leute blieben im Zentrum zurück. Heute können nur noch die wenigsten Wesen, die sich der überschwärzten Umgebung angepasst haben, dort bestehen. Da allgemein angenommen wird, die universale Fusion habe die Masse der Erde in einer Art und Weise gekrümmt, sodass deren Oberfläche sich heute ins Unendliche erstreckt, war die Evakuierung des Zentrums für die beiden Präfekturen Atlas und Solaspitz nicht weiter schlimm gewesen. ›Die Höhere Macht hat uns ja schließlich unendlich viel Spielraum verschafft‹, so der erste Präsident von Atlas. Er und seine Gefolgsleute interpretierten das Unlicht als eine Art ›göttliche Herausforderung‹ und meinten, eine immerzu in die Weite wachsende Ringstadt um Kael herum sei die Lösung für das Problem, und so könnten alle Leute auf der Welt in einer Gemeinschaft leben. Wir in Lichterloh waren vom Streben nach Tugend und Wahrheit geleitet und setzten alles daran, das Unlicht zu studieren und zu eliminieren. Statt wie die Atlassen Weltpolizei zu spielen, versuchten wir den Ursprung von all dem Unheil zu ergründen. Es bildete sich eine Forschungsallianz aller größerer Hochschulen der Präfekturen, die unter transnationalem Gesetz das Unlicht studieren dürfen. Tja – und trotz intensiver Forschung ist es uns bis heute nicht gelungen, eine Lösung für Kael und die Unlichtplage zu finden. Lichterloh investiert, seit seiner offiziellen Gründung im Jahr 502 ab Neuzeit, Unmengen an Zeit und Licht in die Erforschung des Laternenwalds. Seit etwa dreihundert Jahren haben wir unser Forschungsgebiet bis weit in den Sternenwald ausgeweitet. Bis heute gibt es allein 254 durch Lichterloh unterhaltene Forschungsstationen, die vom Zentrum Kaels über tausende Kilometer des Laternenwalds, bis weit in den Sternenwald hinein verteilt sind. In Lichterloh überwiegt im Volksglauben die Idee, dass die Antworten auf all unsere Fragen vielleicht irgendwo da draußen auf uns warten und von uns entdeckt werden müssen. Darum habe ich mich in meinen jungen Jahren entschieden, Exploration zu studieren und bin dann auch auf diesem Gebiet geblieben. Die Frage nach Wahrheit und Existenz hat mich bis hierher geführt, und ich werde niemals aufgeben, nach Antworten zu suchen.«

Anker stieß einen tiefen Seufzer aus. Seine Stimme war während seiner Rede immer leiser geworden – oder war es der Wind, der lauter geworden war? Ein großer Regentropfen zerbarst auf Kelis Nase. Sie hob den Kopf. Es war düster geworden, und hie und da konnte man das Aufklatschen schwerer Tropfen vernehmen. Anker schwankte geistesabwesend von einem Fuß auf den anderen.

»Und nun – zum Schluss noch etwas ganz Wichtiges und gleichzeitig philosophisch Tiefgründiges. Also mach dir nichts draus, wenn du es nicht auf Anhieb verstehst. Danach gehen wir zu meinem Haus. Dort kannst du eine Nacht darüber schlafen. Meine Gürkchen sind sicher schon am Verhungern. Ich hoffe, du bist noch nicht zu müde, um dem spannendsten Teil meines Vortrags zu lauschen, denn jetzt kommt deine Hand nämlich ins Spiel.

Man weiß, dass es nach der Universalen Fusion immer wieder mal vierfingrige Personen gegeben hat, und auch, dass das Phänomen der Vierfingrigkeit von Generation zu Generation immer seltener wurde. Doch Beachtung fand die Gabe erst Jahrhunderte später, als sich das Unlicht in Kael zu vermehren begann und bekannt wurde, dass die Vierfingrigen das Unlicht wegschaffen konnten. Bald schon schlossen sie sich zu einem Bündnis zusammen und nannten sich: ›die Unlichtbändiger‹. Wenn in Kael jemand der Überschwärzung erlegen war, wurden sie gerufen, um das Unlicht aus den Siedlungsgebieten zu transportieren und es an einen sicheren Ort zu bringen. Anders als Lailac konnten sie das Unlicht aber nicht in sich aufnehmen, es formen und wieder auf die Umwelt anwenden. Dazu hätten sie gemäß Blausternenschrift nämlich den Kaelischen Index gebraucht, den sie zwar auch rigoros suchten, ihn aber nie fanden. Du siehst das Problem: Auch damals konnten die Unlichtbändiger das Unlicht nur an einen anderen, für die Bevölkerung weniger gefährlichen Ort befördern. Dort vermehrte es sich aber trotzdem weiter. Es wäre also zwingend gewesen, den Unlichtschlüssel zu finden. So wäre es wenigstens vorübergehend im Körper eines Unlichtbändigers gefangen gewesen. Ab hier treten die Präfektur Wesenend und die Halbpräfektur Nihilis auf den Plan. Sie sind die Fraktionen, die in Unlicht von jeher etwas ganz anderes sahen als die übrigen Nationen. In beiden Staaten wird am Glaubenssatz festgehalten, das Unlicht verkörpere die ›Nichtexistenz‹. Jetzt wird es richtig kompliziert, aber ich versuche, es in einfache Worte zu fassen: Der Unterschied zwischen den Ansichten von Wesenend und Nihilis, der die beiden Gruppen einst sogar in den Krieg geführt hat, besteht darin, dass in Wesenend geglaubt wird, das materielle Universum sei eigentlich nur eine Zwischenform der Existenz und irgendwann würde alles zu Unlicht zerfallen. Für Wesenend ist die Ausbreitung des Unlichts ein natürlicher Prozess; das ist ganz wichtig. Das Fürstentum Nihilis hingegen glaubt an das ›Garnichts‹.«

Anker prustete, als er Kelis immer länger werdendes Gesicht sah.

»Jaja, so komplex ist die Welt heutzutage, und glaub mir, das ist noch lange nicht alles. Kurzum, was du dir für jetzt merken solltest, ist: Wesenends Doktrin besagt, alles wird irgendwann zu Unlicht, und dagegen kann man nichts machen. Im Fürstentum ist man noch eine Spur extremer und glaubt einerseits, Existenz habe keinerlei Bedeutung und andererseits, die Unlichtbildung müsse vorangetrieben werden, damit alles zu nichts werde – so abstrus es auch klingen mag. Bei denen ist sozusagen bereits Hopfen und Malz verloren. Und hier kommt der springende Punkt: Das Fürstentum sah es damals gar nicht gerne, dass die Vierfingrigen das Unlicht einzäunen konnten. Als dann noch rauskam, dass die Unlichtbändiger den Kaelischen Index suchten, ließ Nihilis die Mitglieder der Gruppe von einer Bande Auftragsmörder ausfindig machen und meucheln. Der versprochene Schutz der Unlichtbändiger von Lichterloh kam zu spät und man dachte lange Zeit, Nihilis hätte sie alle erwischt. Doch wie es aussieht, könnte man sich getäuscht haben.« Anker blickte unruhig umher. »Bei allen zuckenden Landgurken. Wenn das rauskommt«, raunte er leise. »Wir müssen Loyd und dich unbedingt schützen, falls sich herausstellen sollte, dass ihr tatsächlich Unlicht berühren könnt. Ich muss Loyd gleich morgen darauf hinweisen, sich bis auf Weiteres von Wesenend und dem Fürstentum fernzuhalten.«

Beide hatten die Zeit und das aufziehende Unwetter vergessen. Es begann in Strömen zu regnen.

»Keli, ich denke, es ist genug für heute. Meine Güte, es ist ja auch schon elf Uhr! Komm, ich habe ein tolles Gästezimmer, das für dich bereitsteht. Meine Haustiere werden auch begeistert sein, Besuch zu haben. Falls Loyd morgen schon wieder auf den Beinen ist, geht es auf nach Lichterloh, wo wir uns mit dem Rest des Expeditionsteams treffen werden.«

Keli nickte mit einem erschöpften Lächeln. In Wirklichkeit war sie todmüde. Auch wenn sie angestrengt versucht hatte, Ankers Lektionen zu folgen, war kaum die Hälfte davon bei ihr hängen geblieben. Anker, aus dessen großem, grauem Bart ein kleiner Wasserfall hervorgequollen kam, verschwand hinter den knorrigen Wurzeln Shidares. Das Plätschern des Regens schwoll zu einem Tosen an. Blitze zuckten und Donner gellte bedrohlich über die Dächer. Keli schnappte sich Ankers Papiertüte, die vergessen auf der Sitzbank lag. Sie hielt sie sich über den Kopf und folgte Anker in Richtung Aufzug. Als sie an der Hängekirsche vorbeischritt, schien es Keli, als ob sie noch einmal die Stimme des Baumes hören würde: »Folge nur dem Licht«, glaubte sie zu hören, doch es konnte auch das Echo des sich zurückziehenden Stadtlebens unten an der Lailac-Straße gewesen sein. Keli gab sich einen Ruck und trat auf die nassen Setzsteine in der Wiese. Ihr halbverzehrter Strudel lag vergessen vor der Bank und begann allmählich, im Regen zu zerfallen.

Die drei Botschafter von Lichterloh

Keli schlief in dieser Nacht sehr unruhig und wälzte sich von einer Seite auf die andere. Als es draußen noch stockdunkel war und der Regen kräftig an die Fenster peitschte, wachte sie kurz auf, da sie meinte, eine Tür aufgehen zu hören, doch dann schlief sie wieder ein, bis am nächsten Morgen die ersten Strahlen bunten Lichts auf ihren buschigen, schwarzen Haarschopf fielen. Sie konnte fühlen, dass etwas angenehm Weiches über ihre Nase wischte. War dies das Kitzeln der ersten Lichtstrahlen des Tages, das oft so schön in Büchern beschrieben war? Sonst wachte sie immer in blauglimmender Düsternis auf. Ja … so musste es sich wohl anfühlen, wenn man morgens von Licht begrüßt wurde.

 

Als sie die Augen aufschlug, schrie Keli vor Schreck laut auf. Drei oder vier oberarmgroße, madenartige Kreaturen mit kreisrunden Öffnungen als Mäuler hatten ihr das Gesicht von oben bis unten vollgesabbert. In Panik sprang sie vom Bett, wobei die seltsamen Wesen mit einem ekelerregenden Aufquietschen von ihrem Brustkorb herunterkullerten. Keli befand sich in einem modern eingerichteten Raum, in dem die Wände entlang mehrere gut gefüllte Bücherregale aufgereiht standen. Außerdem befanden sich zwei Topfpflanzen in den Ecken des Zimmers, an denen große, magentafarbene Blüten prangten, die ausziehbare Couch, auf der sie geschlafen hatte und ein kleines, gläsernes Tischchen. Keli dröhnte der Kopf. Es war das erste Mal in zwei Tagen, dass sie Schlaf gefunden hatte. All die schauerlichen Dinge, die in den letzten achtundvierzig Stunden geschehen waren – sie erschienen ihr wie ein schlechter Traum. Keli rieb sich mit dem Ellbogen die glitschige Nase ab und sah böse auf die Viecher hinunter, die wie Raupen Richtung Ausgang davonrobbten. Die Tür des Zimmers, die einen Spaltbreit offenstand, ging auf und Anker platzte herein.

»Was ist denn … Oho! Guten Morgen Keli.« Anker stand bereits angezogen im Türrahmen. Er sah aus, als wäre er schon wieder seit einiger Zeit auf den Beinen.

»Pitt, Pott, Patty und Putt. Was habt ihr im Gästezimmer verloren?«, sagte Anker ermahnend. Diese Worte waren an die vier gurkenähnlichen Geschöpfe gerichtet, die gerade Hals über Kopf und mit schrillem Gequietsche über die Türschwelle krochen.

»Das ist ›pfui‹«, rief er ihnen mit erhobenem Zeigefinger hinterher.

»Keli, bitte entschuldige. Das sind meine Haustiere. Ich hoffe, sie haben dich nicht belästigt«, sagte Anker munter.

»Nein, ist schon in Ordnung. Ich habe mich nur erschreckt. Was sind denn das für Wesen?«, erkundigte sich Keli halb verärgert, halb belustigt.

»Landgurken werden sie im Volksmund genannt und es gibt sie nahezu überall. Es sind bereits 42 Arten entdeckt worden, und durch die Erforschung des äußeren Sternenwalds kommen stets neue dazu.«

»Oh – verstehe«, grummelte Keli, die ihre glitschigen Ärmel beäugte.

»In der Regel sind sie ganz lieb und den Menschenwesen gegenüber wohlgesinnt«, fügte Anker hinzu, während er sich vor dem gläsernen Tischchen in einen Sessel fallen ließ. »Wenn Loyd schon wieder auf den Beinen ist, können wir uns vielleicht heute Nachmittag schon mit Naomi in Lichterloh treffen. Sie ist eine gute Kollegin von mir und absolviert derzeit ihr Zweitstudium im Fach Biodiversität – öh, das heißt so viel wie das Erforschen von verschiedenen Wesen- und Pflanzenarten«, fügte Anker rasch hinzu, als er Keli die Stirn runzeln sah. »Naomi ist auch ganz angetan von den Gürklein. Ich bin übrigens der Leiter des Gurkenclubs, einer gemeinnützigen Organisation, die das Verständnis für die tollen Wesen fördert. Die Gürkchen sind zutiefst missverstandene Geschöpfe und verdienen unsere Aufmerksamkeit. Sind sie nicht putzig?«

Keli blickte argwöhnisch zur Tür, wo Pitt, Pott, Patty und Putt hinter dem Türrahmen lauerten und mit ihren kleinen, schwarzen Knopfaugen verstohlen ins Zimmer linsten. Keli wusste noch nicht genau, was sie von den Kreaturen halten sollte. Irgendwie fand sie sie zwar witzig, aber ein bisschen widerlich sahen sie ja schon aus. Von den Landgurken abgelenkt, hatte Keli nicht bemerkt, wie Anker seine Hand in die Innentasche seiner Jacke gesteckt und auf der Oberfläche des Tischchens einen handflächengroßen Umschlag abgelegt hatte.

»Was fressen diese Gurken denn? Sie scheinen Hunger zu haben«, wollte Keli wissen, die das Verhalten der Gurken an Haustiere erinnerte, die am Morgen ihre Herrchen wachleckten.

»Öh – nun. Die Landgurken gehören zu den ›Koprophagen‹«, sagte Anker flüchtig.

Zum Glück wusste Keli nicht, was das bedeutete und ging nicht weiter auf das Thema ein. Ihr Blick war auf das Kuvert gefallen, das Anker mit einem dicken Zeigefinger auf der Glasplatte des Tischchens fixierte. Dann schob er dieses zu Keli hinüber.

»Das ist dein Diplomatenpass. Gratuliere – du bist jetzt offiziell Mitglied einer staatlich fundierten Expedition und akkreditierte Vertreterin der Nation.«

Keli schaute überrascht drein. Vertreterin der Nation – sie? Sie wusste nicht einmal recht, was das bedeutete. Anker sah mit Genugtuung, wie sich Kelis Miene ins Unfassbare verzog und fuhr dann mit ernstem Tonfall fort: »Der Ausweis ist ein überaus wichtiges Dokument und darf auf keinen Fall in die falschen Hände gelangen. Schütze ihn wie deinen Augapfel. Er gewährt dir diplomatische Immunität und Zugang zu allen Präfekturen des Laternenwalds und den meisten Zweigstädten der Provinzen. Ausgenommen sind einige Orte, denen wir nicht zu nahe kommen wollen; wie zum Beispiel das Fürstentum Nihilis, wo der Ausweis zwar vor 35 Jahren anerkannt wurde, trotzdem aber immer mal wieder Botschafter aus anderen Staaten festgenommen werden. Dieser Pass darf in keiner Weise weder missbraucht, noch vervielfältigt werden oder abhandenkommen. Nur ganz wenige hochrangige Individuen in Lichterloh sind im Besitz eines solchen Dokuments: die Direktoren der Lichtwirtschaft, einige bedeutende Politiker und dann noch eine Handvoll ausgesuchter Unlichtforscher und Fachwissenschaftler. Deinen Pass konnte ich allein deshalb beantragen, weil ich der Prorektor der HHF bin und die Hochschule und deren Studien im Regierungsrat vertrete.«

Keli hob den Umschlag ehrfurchtsvoll auf und zog ein kleines, nachtblaues Büchlein hervor, auf dem in goldenen Lettern »Diplomatenpass« geschrieben stand. Der Ausweis schien aus hochwertigem Material zu bestehen. Keli öffnete die erste Seite und sah sich selbst aus einem kleinen Foto zulächeln. Alle ihre persönlichen Daten waren korrekt aufgelistet; selbst die vier Fingerabdrücke ihrer linken Hand waren darauf zu sehen.

»Woher kommen denn all diese Angaben und das Foto?«

Anker grinste breit. »Es ist dir vielleicht nicht bekannt, aber in Lichterloh werden die persönlichen Informationen aller Staatsangehöriger regelmäßig eingefordert und ausgewertet. Auch die Bürger, die in Zweigdörfern der Zweigstädte von Lichterloh wohnen, sind dieser Meldepflicht unterstellt. Alle weiteren Zweiggemeinden oder Siedlungen sind von dieser Obliegenheit befreit und gehören nicht mehr offiziell zur Präfektur. Auch du und dein Bruder – da die Gemeinde Hildenberge ein Zweigdorf der Zweigstadt Herbstfeld ist – müsstet in den letzten Jahren einmal nach Lichterloh vorgeladen worden sein – oder etwa nicht?«

Nun fiel es Keli wieder ein: Das war es also, was sie damals in Lichterloh getan hatten und warum sie keine bedeutsamen Erinnerungen an den Besuch bei ihrem Onkel hatte.

»Stimmt, wir haben vor ein paar Jahren mal meinen Onkel in Lichterloh besucht. Aber mir war damals nicht klar, dass das Ziel der Reise die Abgabe von persönlichen Daten war. Ich weiß nur noch, wie wir mit Onkel Nonpe ein amtliches Gebäude besuchten, wo wir zuerst lange anstehen mussten. Ich kann mich aber noch erinnern, dass die Frau, die Loyds und meine Fingerabdrücke nahm, ganz aus dem Häuschen war, als sie bemerkte, dass uns beiden die Zeigefinger an der linken Hand fehlen. Und jetzt weiß ich auch warum«.

»Siehst du«, sagte Anker selbstzufrieden und stand mit einem Ruck aus dem ächzenden Sessel auf. »Das Ganze hat vor etwa vierzig Jahren angefangen. Bis dahin gab es dieses Überwachungsprogramm noch nicht. Ist dir ›die Schmelzfront‹ ein Begriff?«, fragte Anker, während er einen Arm auf der Lehne des Sessels abstützte.

Keli hatte diesen Namen schon mal irgendwo gehört.

»Ich glaube, Loyd hat diese Leute einmal erwähnt. Sind das nicht Terroristen, die andere Wesen umbringen?«, spekulierte Keli, der es peinlich war, so wenig zu wissen, etwas steif.

»Mhm – ja, etwas in der Art. Die Schmelzfront ist eine extremistische Organisation mit Sitz in Atlas, deren Ziel es ist, mit Gewalt die physischen, wie auch geistigen Grenzen der Gesellschaft zu untergraben, um Kael als einen homogenen Staat, wieder aufblühen zu lassen. Der Name kommt von ›Front‹ – also Armee, und ›schmelzen‹. In diesem Fall: eine Milizarmee, die alle Gemeinden im Laternenwald wieder zu einem Volk verschmelzen will. Sie sind sozusagen diejenige Fraktion, die es satt hat, auf verbaler Basis eine Lösung auszufeilen. Sie greifen zu harten Mitteln, um ihren Zielen näher zu kommen«, erklärte Anker ganz diplomatisch.

»Ja, daran kann ich mich noch erinnern. Gerade als Loyd das erste Mal in Kael war, gab es damals einen Anschlag in Lichterloh. Ich glaube, diese Typen spinnen ziemlich.«

»Nun, wo Meinungen an Grenzen stoßen, folgt oft nur rohe Gewalt. Das zeigt uns auch unsere lange Menschheitsgeschichte mehr als nur einmal. Wenn die Gesetze, die falsches Verhalten einschränken sollen, zugleich auch den freien Willen der Bevölkerung unterbindet, dann greifen Minderheiten, die sich unterdrückt fühlen, bekanntlich schnell mal zu extremeren Maßnahmen, die Aufmerksamkeit erregen sollen – das ist nicht unverständlich.«

Keli wusste nicht, was sie darauf zur Antwort geben sollte und eine Diskussion mit einem der größten Professoren der Zeit zu starten, schien ihr so zwecklos wie töricht. Sie senkte den Blick wieder auf den edel glänzenden Diplomatenpass in ihren Händen.

»Keli, ich will dich keiner falschen Wahrheiten belehren, aber ich rate dir, Ethik und Tugend immer als relativ zu betrachten. Was für die einen richtig ist, mag für die anderen falsch sein. Ich sage meinen Studenten bei Kursbeginn immer: Alles, was ihr zu meinem Unterricht mitbringen müsst, ist der Wille, mich zu kritisieren und meinen Vortrag zu hinterfragen. Kritisches Denken ist die einzige wahre Fähigkeit, die du an der Uni brauchst. Und wenn ich mitbekomme, dass ein Professor nicht auf die Fragen und Kritik der Studenten eingehen kann, dann wird er von mir höchstpersönlich auf die Straße gestellt. Denn nicht die Vorlesung ist lehrreich, sondern die Diskussion zwischen denjenigen, die die Botschaft verschieden interpretiert haben. Einfach aus einem Buch vorlesen könntest nämlich sogar du. Ho-ho-ho.« Anker gluckste laut auf. »Wie dem auch sei«, fügte er schließlich an, als er Kelis große Augen bemerkte und gab ihr einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter.

Keli, von der Wucht des Schlages überrascht, fiel beinahe von der Couch. Sie fing sich aber rasch wieder und erwiderte Ankers intensive Geste mit einem matten Lächeln.

»Tja, und der Schmelzfront und unseren langjährigen, misslichen Beziehungen zu Atlas haben wir es zu verdanken, dass Lichterloh strenge Grenz- und Personenkontrollen verhängt hat. Um die Hauptstadt Lichterloh herum wurde eine hohe Grenzsperre errichtet, damit keine Schmelzfrontterroristen und andere unerwünschte Minderheiten ins Stadtzentrum reinkommen. Bei den anderen Präfekturen sieht die Lage ähnlich aus. Du wirst allerdings feststellen, dass der Diplomatenausweis uns das Leben beim Grenzübergang um einiges erleichtern wird. Ich zeige dir später, was ich damit meine«, sagte Anker nun breit grinsend, als würde er etwas aushecken. »Komm, du musst sicher einen gewaltigen Hunger haben. Jetzt essen wir zuerst mal einen Happen, und dann gehen wir ins Krankenhaus und sehen, ob unser guter Loyd schon wieder fit ist.«

Anker hielt Keli die Tür auf und zusammen betraten sie das Esszimmer.

Sie frühstückten an einem langen, gläsernen Tisch, der wie die Großform des Tischchens aussah, das im Gästezimmer stand. Obwohl Anker eine Menge interessanter Dinge aufgetischt hatte, begnügte sich Keli mit einer Schale weißen Reises, einem Mundvoll Fisch und fermentierten Bohnen. Das Trauma der letzten Tage verkrampfte ihr noch immer den Magen. Anker hatte Pitt, Pott, Patty und Putt in die Küche gesperrt, da sie versucht hatten, auf Kelis Schoss zu klettern, während sie aßen. Grelles Gejaule hinter der Küchentür machte verständlich, dass die Gurken mit dem Verlauf der Dinge nicht glücklich waren. Nachdem sie fertig gegessen hatten, ließ Anker sie wieder raus und die beiden machten sich, während die Gurken frohsinnig über jedes bekriechbare Etwas purzelten, bereit für die Abreise. Es war selbsterklärend, dass Keli nichts außer den Sachen, die sie gerade trug, einer Zahnbürste, die ihr Anker am Vorabend gegeben hatte und dem Diplomatenpass besaß. Deshalb stand Keli nach dem Frühstück vor dem Badezimmer nicht recht wissend, was sie ohne frische Kleider tun sollte. Vielleicht sollte sie Anker mitteilen, dass sie für die Expedition noch ein oder zwei Paar Socken brauchen würde, doch danach zu fragen, war ihr peinlich.

Anker war in den Keller verschwunden, doch seine sich nähernden, polternden Schritte kündigten bereits seine Rückkehr an.

 

Anker kam mit drei üppig bepackten, dunkelfarbenen Rucksäcken zurück. Einen davon streckte er Keli hin.

»Hast wohl geglaubt, du müsstest die nächsten Wochen mit derselben Unterhose verbringen?«, gluckste Anker, der sich über Kelis Unbeholfenheit amüsierte.

»Wow, vielen Dank. Wann hast du das denn alles vorbereitet?«

»Nicht der Rede wert. Das bisschen Zeit, das ich für den zusätzlichen Pass und Proviant einbüßen musste, ist es allemal wert, gut vorbereitet zu sein. Das Schlimmste auf einer Expedition ist es nämlich, nicht zu wenig Schlaf gehabt zu haben, sondern schlecht auf das vorbereitet zu sein, was möglicherweise schiefgehen könnte – und davon gibt es eine ganze Menge. In deinem Rucksack findest du ein kleines Zelt für zwei Personen, Kleider für eine Woche in einer universalen Größe – sodass jeder, der sie braucht, sie tragen kann –, Nahrungsmittel für eine Woche, eine gefüllte Wasserflasche, einen Regenmantel, ein paar Gummistiefel, allerlei Toiletten-Artikel, ein Allzweckmesser, ein Stahlstäbchen mit Flint – um Feuer zu machen –, Zunder, ein paar Meter Seil – ist immer gut –, und zuletzt noch ein Steinvoll gebündeltes Altes Sonnenlicht, um der Überschwärzung in Kael standhalten zu können, bis wir bei der Forschungsstation ankommen. Damit du im Notfall informiert bist: In meinem und Loyds Gepäck befindet sich das Gleiche nochmal.«

Keli wurde nun auf einmal ein wenig zappelig. Erst jetzt begriff sie so richtig, wofür sie sich da entschieden hatte. Sie würde zum berüchtigten Schwarzen Zentrum reisen, wo nur die allerwenigsten Wesen jemals einen Fuß hineinsetzen. Was sie dort wohl erwartete? Ein aufgeregtes Kribbeln irgendwo tief in ihrer Brust machte sich bemerkbar.

Ein wenig später trat Keli erfrischt und in ihrem neuen Outfit aus dem Badezimmer, gerade als die Türglocke klingelte. Anker warf sich die restlichen zwei Rucksäcke über die Schulter und schlurfte zur Eingangstür, die er prompt mit seinem Ranzen aufstieß. Eine ältere, aber gepflegt aussehende Frau trat herein. Sie hatte graues, gescheiteltes Haar und trug teuer aussehende Edelsteine in Form von Ringen an der Hand und als Kette um den Hals.

»Ah, Kanako, die Dirigentin! Schön, dich zu sehen«, sagte Anker, der seine Arme weit ausbreitete, die Frau umschlang und ihr einen saftigen Kuss auf die Wange drückte.

»Ganz meinerseits«, entgegnete Kanako vergnügt. Wo sind denn die süßen Viechlein? Puu–tzi, putzi, putz«, dudelte sie durch das Esszimmer.

Keli, die sich im selben Augenblick umschaute, bemerkte, dass die Landgurken verschwunden waren. Bevor es geklingelt hatte, waren sie noch quietschvergnügt auf dem Esszimmerboden herumgetollt.

»Keli, das ist meine Kollegin Kanako Hopkins, von Atlas, von Adelgrund. Sie ist eine Gastprofessorin aus der Hochschule von Adelgrund und ebenfalls leidenschaftliches Mitglied des Gurkenclubs. Sie wird während meiner Abwesenheit auf meine Babys aufpassen«, erklärte Anker, der sich nun Kanako zudrehte: »Kanako, das ist Keli von Lichterloh, von Herbstfeld, von Hildenberge. Sie ist die Schwester eines Explorationsstudenten von mir und interessiert sich ebenfalls für ein Studium an der HHF.«

Kanako ging auf Keli zu und streckte ihr die linke Hand hin, wie es in Lichterloh üblich war. Keli hob die ihre und streckte sie aus. Als sich Hand und Hand trafen, stahl sich Kanakos Blick für den Bruchteil einer Sekunde über Kelis Hand, an welcher der Zeigefinger fehlte, dann sah sie rasch wieder auf und meinte freundlich: »Es ist mir eine Freude, Sie kennen zu lernen. Das Schicksal Hildenberges betrübt mich zutiefst. Wenn es etwas gibt, womit ich Ihnen behilflich sein kann, dann lassen Sie es mich bitte wissen.«

Keli sah, wie Anker sich für einen Moment auf die Unterlippe biss.

»Ja, dann. Kanako, wir sind schon einige Tage im Rückstand und müssen aufbrechen. Hier ist der Schlüssel für das Haus. Das Futter für die Gürklein findest du auf dem Balkon, wie immer«, sagte Anker mit bemerkenswerten Schweißperlen auf der Stirn.

»Keine Sorge. Ich werde auf die Lieben aufpassen, genauso wie auf den ›überschwänglichen Verein‹, den ich zu leiten habe. Bald geht es los.« Kanako lächelte Anker zu und zwinkerte dabei. »Ich wünsche dir viel Erfolg in Kael und, dass du auch in einem Stück, und vielleicht ein paar Stückchen mehr, wieder zurückkommst. Sonst werden die Gürkchen nämlich zu mir umziehen müssen.«

Anker erwiderte ihr Zwinkern mit einem verschmitzten Nicken, dann öffnete er die Tür und trat in das frische, grünliche Morgenbunt hinaus. Keli, die nicht begriffen hatte, warum Anker so gestresst aussah, betrat nach ihm den gepflegten Garten, als ein ohrenbetäubendes Kreischen sie herumfahren ließ. Pitt, Pott, Patty und Putt sausten mit unwahrscheinlicher Geschwindigkeit aus der Küche auf die Eingangstür zu. Anker ließ die zwei Rucksäcke, die er trug, auf den Boden sinken, kniete nieder und hob alle vier Gürkchen behutsam vom Boden hoch. Sie wanden sich in seinen Armen, quietschten herz- und trommelfellzerreißend und besprühten Ankers Bauch mit glänzendem Sabber.

»Nicht doch, nicht doch. Ich bin doch bald wieder zurück. Seid brav und macht nichts Unanständiges, während ich weg bin.«

Er gab jeder einzelnen Gurke einen schallenden Schmatz über die kleinen Äuglein und übergab sie dann Kanako, die sie fest an sich pressen musste, damit sie nicht Reißaus nehmen konnten. Beim Gartentor drehten sich Anker und Keli nochmal um, um Kanako und den laut jaulenden Haustieren zum Abschied zu winken. Erst jetzt fiel Keli auf, wie riesig das Anwesen von Anker war, und das war gerade mal sein Zweithaus, in dem er lediglich ein paar Tage die Woche verweilte.

Bis zum Universitätsklinikum war es nicht weit. Sie passierten einige Seitenstraßen in einem Quartier, wo es nur prunkvolle Einfamilienhäuser mit stilvoll kultivierten Gärten gab. Auf dem Hinweg letzte Nacht hatte Keli von der Umgebung nicht viel mitbekommen, da es einerseits stockdunkel gewesen war, und sie andererseits wegen des Wolkenbruchs den ganzen Weg bis zum Haus hatten laufen müssen. Keli fragte sich gerade, wieviel Lichtbit Anker wohl auf der Bank angehäuft hatte. Er sah nicht aus, als würde er mit Licht um sich werfen, und viel davon schien er auch nie in seinem Körper bezogen zu haben. Jedenfalls erstrahlte er nicht grell, wie man sich jemanden vorstellte, der mit Altem Sonnenlicht bis unter die Fingernägel vollgesogen war. Es schien wirklich zu stimmen, dass er seine Lebensziele verfolgte und nicht, wie viele andere Leute, von denen Keli wusste, allein für Lichtbit arbeiteten, um danach alles wieder für irgendwelche überflüssigen Dinge auszugeben. Anker schien die Sorte Mensch zu sein, der einen Traum hegte und nicht aufgab, bis er dort war, wo er sich immer hingewünscht hatte. So eine Person wollte Keli auch werden: immerzu die unumstrittenen Tatsachen der Welt hinterfragend, nach Wahrheit suchend und fortwährend nach vorne blickend.

Unterdessen hatten sie die Lailac-Straße erreicht. Es waren längst nicht so viele Passanten unterwegs wie am Vorabend und auch die Rollläden vieler Geschäfte waren heruntergelassen. Als sie jedoch an der Strudelbude vorbeikamen, machte Keli große Augen. Eine Schlange von Wesen, länger noch als diejenige des Vortags, erstreckte sich aus dem Gebäude bis weit über den Bürgersteig hinaus.