Bookwire #7

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

»Siebbier« – das war das Zeug, das die Leute in der Lailac-Straße getrunken hatten. Was würde sie geben, um jetzt schon sechzehn zu sein. Sie wollte alles probieren, was die Welt zu offerieren hatte, jetzt, wo das Schicksal ihr den Weg in den Laternenwald eröffnet hatte. Ursprünglich war es – im Gegensatz zu Loyd – Kelis Absicht gewesen, für immer in Hildenberge zu bleiben und die Arbeit ihrer Familie fortzuführen, doch der Ausblick auf die Vielfalt und schiere Größe des Laternenwalds ließen diesen Lebensweg das erste Mal in ihrem Leben in Vergessenheit geraten. Sie würde alles versuchen, von allem kosten, die Zeit als Prominente bis zum Äußersten ausschöpfen, und Siebbier gehörte ab sofort ganz oben auf ihre Prioritätenliste. Und Loyd würde ihr ihre neuen Vorsätze mit seiner schlechten Laune nicht verderben.



Der Zug begann, langsamer zu werden. Die Lautsprecher ertönten erneut: »Endstation – Lichterloh-Hauptbahnhof. Willkommen in der Stadt der grünen Tugend. Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt. Bitte achten Sie darauf, kein Gepäck im Zug zurückzulassen. Wir bedanken uns, dass Sie heute mit der Intercity-Wasserbahn gefahren sind und freuen uns, Sie bald wieder begrüßen zu dürfen.«



Kelis Herz begann, schneller zu pochen. Sie waren in Lichterloh angekommen, in der Stadt, von der aus das Abenteuer seinen Lauf nehmen würde.




Tiefschwarzer Abgrund



Die himmlischen Scheiben schütteten ein angenehmes, dunkles Mittagsrot auf die Stadt. Die Zweige der vielen Bäume an Straßenecken und Alleen tanzten glitzernd im kühlen Wind. Es war ruhig in Lichterloh – viel ruhiger als sonst, bemerkte Loyd, als die Gruppe die Rolltreppen hinauf in die Hauptetage des Hauptbahnhofs nahm, auf der es zwischen den hunderten von Läden normalerweise nur so von Touristen und Businessleuten wimmelte. Auch die breiten Boulevards, die sich vom Bahnhof in alle Himmelsrichtungen erstreckten und auf denen sonst fast kein Durchkommen war, offenbarten sich den dreien fast leer. Der Raum zwischen den prächtigen, mehrere Jahrhunderte alten Hochhäusern der Altstadt kam einem an diesem Tag viel zu geräumig vor; weit und ausgestorben. Hier und dort waren Grüppchen von Stadtwachen mit ihren geschwärzten Holzschwertern und dunkelblauen Filzhüten, an denen je nach Rang eine größere und buntere Feder steckte, unterwegs.



Das noch unvollständige Expeditionsteam traf kurz darauf am Greenhill Luxury-Resort ein, wo sie diese Nacht zu verbringen beabsichtigten. Anker verschwand rasch im Eingangsbereich des Hotels, um sich zu erkundigen, ob sie ihr Gepäck schon auf die Zimmer bringen konnten. Es stellte sich jedoch heraus, dass die Gäste vom Vorabend – wahrscheinlich wegen der erhöhten Vigilanz-Stufe – noch nicht abgereist waren. Da es Anker als zu riskant einstufte, ihre Habseligkeiten an der Rezeption zu deponieren, mussten sie ihre schweren Rucksäcke wohl oder übel auf ihren Schultern mitschleppen, bis sie mit Naomi später zurückkehren würden.



Kaum hatten sie Kurs auf den Lichterloh-Campus genommen – Anker hatte die beiden Geschwister zuvor wiederholt darauf hingewiesen, die Augen nach verdächtigen Personen und Objekten offen zu halten –, als aus einer Nebenstraße eine einzelne Stadtwache gebogen kam.



»Hey, ihr da!

Stehen geblieben!

«, bellte die grau uniformierte Wache ihnen rau entgegen. Dem jungen Mann stand eine große, gelbe, schwarz gepunktete Feder vom Hut ab.



»Was soll das? Haben wir etwas verbrochen?«, warf Anker zurück, wobei er verwirrt umherblickte.



»Sie wissen, dass den Bürgern Lichterlohs geraten wurde, zu Hause zu bleiben. Ihre Ausweise bitte,

zack-zack

«, befahl die Wache heiser.



»Wer glauben Sie eigentlich, wer wir sind!«, entrüstete sich Anker mit zunehmend zorniger Stimme. »Wir sind Professor und Studenten der HHF und Gäste in diesem Hotel. Sollte daran etwas verboten sein?«



Der Groll in Ankers Stimme ließ Keli und Loyd hinter ihm kleiner werden. Der Wachmann hob die Augenbrauen und seine Gesichtszüge schienen sich zu versteinern.



»Ich bin Prorektor der HHF, erhabener Vorsprecher des Regierungsrats und Gründer, sowie Leiter des Gurkenclubs: Don Loglovski Ankerbelly von Lichterloh, von Morimura! Und das«, er wies mit der offenen Hand auf Loyd und Keli, »sind meine werten Botschafterkollegen. Wenn Sie darauf bestehen, jetzt noch unsere Pässe einzusehen, dann fühle ich mich gezwungen, nach Ihrem Namen, Ihrer Einheitsnummer und dem Namen Ihres Kommandanten zu fragen.«



»Schon gut, gehen Sie weiter«, sagte der Mann in gedämpftem Ton. Ein eisiges Grinsen machte sich auf seinem Gesicht bemerkbar, dann schritt er mit gesenktem Kopf an ihnen vorbei und verschwand in einer Gasse hinter dem Hotel.



Die drei sahen ihm verblüfft hinterher, bis er aus ihren Augenwinkeln verschwunden war. Außer Hörweite zog Anker über die Wache her: »Das ist mir ja noch nie untergekommen. Was glauben diese Kerle eigentlich, wer sie sind? Zuerst belästigen sie uns auf dem Intercity und jetzt auch noch inmitten der Hauptstadt – und dann noch frech grinsen. Also wirklich«, dröhnte Ankers Stimme empört durch die leere Straße.



Während die Gruppe ihren Marsch Richtung Lichterloh-Campus fortsetzte und Anker seiner Missstimmung weiterhin Luft machte, blickte Loyd immer wieder wachsam über die Schulter. Nach einer Weile schwächte sich Ankers schmähender Monolog endlich ab, bis man nur noch hie und da Bemerkungen wie »diese respektlosen Hohlköpfe« und »Wenn mir dieser Kerl noch einmal unter die Augen tritt, dann setzt es was«, vernahm.



Loyd ärgerte sich darüber, dass Anker so unvorsichtig war und mit seinem unbeherrschten Wutausbruch einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Glücklicherweise kamen sie zehn Minuten später ohne weitere Zwischenfälle am Wachhäuschen des Lichterloh-Campus der Hochschule von Herbstfeld an. Wie in Herbstfeld selbst, war eine massive stählerne Einfriedung um das Areal herum angelegt. Anker schien vorübergehend seinen Spaß mit dem Diplomatenausweis verloren zu haben und zeigte dem Beamten an den Schranken lediglich sein Professorenkärtchen. Anker winkte die beiden Lanthorn Geschwister, die vor dem Häuschen warteten, in seine Richtung. Zusammen betraten sie jenen Stadtteil Lichterlohs, dessen Zugang nur autorisierten Personen der Universität vorbehalten war.



Die Gebäude ringsum erinnerten an jene des Hauptcampus in Herbstfeld, mit dem Unterschied, dass die Bauten hier einerseits viel neuer und gepflegter erschienen und sich andererseits zwischen den Gebäudefassaden im Luftraum kreuz und quer von Kletterpflanzen umwachsene Glasübergänge erstreckten.



Keli musste zweimal hinblicken, um die eigentümliche Architektur der Anlage zu erfassen. Manche Glaspassagen waren gerade ausgelegt, manche hatten schon eine gewisse Steigung und schienen ein Stockwerk des einen Gebäudes mit demjenigen eines anderen zu verbinden. Abermals andere Luftbrücken enthielten offensichtlich steile Rolltreppen, mit denen die extreme Steigung überwunden werden konnte. Keli staunte nicht schlecht, als sie vor der präfekturalen Bibliothek angekommen waren. Sie hatte sich unter der größten Bücherei Lichterlohs etwas anderes vorgestellt. Das Gebäude, oder vielmehr das strukturlose ›Gebilde‹, ähnelte eher einem mächtigen, hölzernen Iglu, aus dessen Fassade kleine Oasen von Wildblumen herauswuchsen, was Keli an Ankers recht lückenreichen Schädel erinnerte.



Die Botschafter durchschritten die auf Hochglanz polierte, automatisierte Glastür und betraten die Eingangshalle der Bücherei. Drinnen, so schien es Keli, war es sogar noch ruhiger als auf den leeren Straßen draußen. Keli trottete hinter Loyd her, der wiederum hinter Anker herschritt. In einer kleinen Karawane zogen sie an einer langen Theke vorbei, wo die kleine Besuchergruppe von mehreren Rezeptionisten mit einer tiefen, tonlosen Verbeugung begrüßt wurde. Als sie an den Regalen, in welchen die aktuellste Lektüre ausgestellt wurde, vorbei waren, betraten sie durch ein mächtiges Holztor die eigentliche Bibliothek.



Keli fielen schier die Augen aus dem Kopf, so überwältigend war der Anblick: Hunderte Bücherregalreihen aus dunklem Holz türmten sich terrassenförmig von allen Seiten des Saales bis zur gewölbten Decke hinauf. In der Mitte der Halle waren rund drei Dutzend Holztische aufgestellt, an denen Leute lasen, auf ihren Lichttafeln schrieben oder ihren Kopf umarmend auf den Tischflächen vor sich hindösten. Anker drehte sich vor einer mit weinrotem Teppich ausgelegten Treppe um und wartete, bis Loyd und Keli nahe genug waren, um leise mit ihnen sprechen zu können.



»Ich sehe, die Bibliothek gefällt dir«, sagte Anker leise, weil er Keli ihre Begeisterung vom Gesicht ablesen konnte.



»Sie ist fantastisch. Ich wusste nicht, dass es sooo viele Bücher gibt. Ich wünschte, ich könnte sie alle lesen«, flüsterte Keli, die seit kurzem einen zunehmenden Drang verspürte, sich neues Wissen anzueignen. In Ankers Gegenwart erschien auch alles viel interessanter, da er einfach auf jede Frage eine lehrreiche Antwort wusste. Vor einer Woche noch hätte sie nicht im Traum daran gedacht, bei der Aussicht auf ein Meer von Büchern so berührt zu sein. Auch die Anwesenheit von all den in den Wissensschatz der Vergangenheit versunkenen Lernenden ließ ihre Seelenkerze weiter aufflammen. Was sie wohl alle studierten und welche Weltanschauungen sie wohl vertraten? Irgendwann würde sie hierher zurückkommen und dieser Frage auf den Grund gehen.



»Ich freue mich, dass du solchen Gefallen am Bewusstsein der Welt findest. Wisst ihr, es gab nicht immer so viele Bücher in der Neuzeit. Lange brauchte man Licht, um Informationen zu lagern, was ebenfalls zur Überschwärzung von Kael beigetragen hat – erst seit sich Lichterloh seine Unabhängigkeit erstritten hat, wurde man in dieser Präfektur dazu angehalten, Wissen wieder vermehrt auf Buchseiten festzuhalten und es durch lesen zu erlangen. Dieser Ort, Keli, ist der wahre Schatz von Lichterloh«, flüsterte Anker nun wieder gut gelaunt wie eh und je.

 



»Das sehe ich auch so«, pflichtete ihm Keli bei, die mit vor Staunen offenem Mund und funkelnden Augen dastand. Sie blickte der hohen, mit detaillierten Schnitzereien verzierten Holzdecke entgegen und drehte sich dabei leicht im Kreis.



»Keli, wenn wir aus unserer Mission erfolgreich zurückgekehrt sind«, sagte Anker plötzlich etwas lauter, »werde ich persönlich dafür sorgen, dass du an der HHF einen Studienplatz deiner Wahl bekommst.«



Keli strahlte über das ganze Gesicht und Loyd, dem die Bemerkung keineswegs entgangen war, zog eine beleidigte Schnute.



»Gut. Als nächstes ist ›Naomi suchen‹ angesagt. Sie muss hier irgendwo sein. Wer sie zuerst findet, kriegt von mir am Abend ein Siebbier spendiert«, ließ Anker schelmisch verlauten.



Beide Lanthorn Geschwister stürmten sofort los: Keli, weil sie sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen wollte, ein Siebbier zu probieren, und Loyd weil er nicht zulassen konnte, dass Keli mit ihren dreizehn Jahren in den Genuss von Alkohol kam. Eigentlich hatte Loyd Ankers wettkämpferische Ansage verbal anfechten wollen, doch hatte er es sich in der Gegenwart von den hunderten konzentriert arbeitenden Studenten ringsum anders überlegt und lief in Kelis entgegengesetzte Richtung los. Dann fiel ihm ein, dass Keli ja gar nicht wissen konnte, wie Naomi aussah. Loyd verlangsamte seinen Schritt und durchstreifte die erste Hochebene der Bibliothek. Wie konnte Anker Keli mir nichts dir nichts einen Studienplatz versprechen – und dann noch »nach ihrer Wahl«. Was sollte dieses karitative Getue?



Er beobachtete, wie Keli auf der anderen Seite der Ebene durch die Sitzbänke und Regalblöcke sauste. Ob Anker Keli vielleicht irgendeinen Hinweis zu Naomis Erscheinung gegeben hatte? Loyd ließ seinen Blick über die Fläche schweifen und nahm auch alle Personen, die an den vielen Tischen ganz unten arbeiteten, ins Visier, dann stapfte er die nächste Treppe hinauf. Er war gerade an der zweitobersten Hochebene angekommen, als er auf der anderen Seite der Halle Keli aufgeregt mit den Armen herumfuchteln sah. Loyd traute seinen Augen nicht. Als er bei Keli ankam, erkannte er einen Schemen bei einer Tischreihe, der ihm bekannt vorkam. Der halbe Oberkörper der Person war unter mehreren Stapeln Bücher begraben und ihr Kopf war erst gar nicht zu sehen. Anscheinend hatte sie sich auf der Tischfläche ein kleines Zimmer aus Büchern geschaffen, in welches sie ihren Kopf gebettet hatte. Warum Loyd Naomi überhaupt erkennen konnte, war zum einen, weil sie wie immer barfuß unterwegs war, und zum anderen wegen des größten Buchs im Umkreis, das neben ihr auf dem Teppichboden stand und an die Tischkante angelehnt war. »Die Artenfibel« war eines jener Mysterien des Biodiversitätsstudiums. Jeder Student in jener Akademie trug eines dieser Dinger umher, so klobig und schwer sie auch sein mochten.



»Du ewige Schlaubergerin. Woher hast du gewusst, dass das hier Naomi ist?«, fragte Loyd gegen seinen Willen beeindruckt.



»Ich habe nach der Person gesucht, die ich mir als Naomi vorgestellt habe«, antwortete Keli lässig. »Und die Bücher über Landgurken haben sie auch verraten. Anker hat mir nämlich erzählt, dass sie auch ein Fan dieser Wesen ist.«



Ehe Loyd dazu etwas erwidern konnte, öffnete sich neben ihnen ein Fahrstuhl und Anker kam herausgeschlurft.



»Gut gemacht, Keli. Jetzt muss ich mir ernsthaft überlegen, was ich deinen Eltern sagen werde, wenn wir sie aus dem Sonnenloch geborgen haben. Am besten bleibt das mit dem Siebbier unser kleines Geheimnis, nicht?«



Loyd sah bestürzt drein. Wie konnte Anker seine kleine Schwester zu gesetzeswidrigen Handlungen verführen?



»Loyd, mach kein solches Gesicht. Keli ist die klare Siegerin und daran gibt’s nichts zu meckern.« Loyd verspürte einen schmerzhaften Stich in seinem inneren Selbst. Verloren? Er? Moment mal – darum ging es doch gar nicht! Er wollte bloß verhindern, dass Keli einer strafbaren Situation ausgesetzt würde. Oder trog ihn sein Gewissen etwa? Konnte es sein, dass er eifersüchtig auf seine Schwester war?



Anker war unterdessen vor Naomi getreten und stupste sie, während Loyd etwas abseits noch mit seinem Gewissen haderte, am Rücken an, der von ihrem langen, kastanienroten Haar fast komplett verdeckt war. Sie rührte sich nicht; nur ihr Oberkörper bewegte sich im gleichen Rhythmus kaum merklich auf und ab.



»Es sieht so aus, als müssten wir wohl andere Saiten aufziehen«, sagte Anker vergnügt. Er neigte sich vor und streckte seine Hand nach der Artenfibel aus, als ein erstickter Schnarcher zu hören war und Naomis Hand blitzschnell Ankers Handgelenk ergriff. Keli sah dem Geschehen mit angehaltenem Atem zu.



»Was soll das, du Schuft?«, kam es dumpf aus dem Bücherhaufen.



Anker grinste verwegen. »Das Band der Bücher«, erklärte er an Keli gewandt. »Diese Biodiversitätsstudenten sind so mit ihren Fibeln verheiratet, dass man sie ihnen nicht einmal, während sie schlafen, abluchsen könnte.



»Anker, bist du das?«, schmatzte Naomi schlaftrunken.



Sie richtete sich auf, wobei einige Bücher vom Tisch rutschten, und begann müde blinzelnd mit der Hand, ihr zerzaustes, mahagonibraunes, fast hüftlanges Haar zu kämmen. Sie hatte ein gutmütiges Gesicht und trug eine grasgrüne Brille mit dicken Rändern, die ihr, wie Keli fand, ziemlich gut stand. Naomi sah in die Runde, wobei ihr Blick an Keli hängen blieb und sich ihre Augen weiteten.



»Nanu, wer bist denn du?«, fragte sie verwirrt lächelnd.



»Das ist Keli, von Herbstfeld, Hildenberge«, erklärte Anker mit der Hand auf Kelis Schulter. »Sie ist Loyds Schwester, von der ich dir im Lichtmail erzählt habe, und wird uns auf die Expedition begleiten.«



Naomi tippte sich an die Schläfe. »Natürlich, jetzt fällt es mir wieder ein. Freut mich, Keli, Naomi ist mein Name. Naomi Gildenhof von Solaspitz.«



Sie streckte ihr die linke Hand hin und Keli tat es ihr gleich, wenn auch mit einigen Sekunden Verzögerung.



»Naomi ist unsere Spezialistin im Bereich Biodiversität. Sie ist auf unserer Mission zuständig dafür, die Wesen und Pflanzen im Zentrum zu untersuchen und auffällige Veränderungen in der Biosphäre zu dokumentieren.



»Freut mich auch«, stammelte Keli auf Naomis tiefschwarze Augen fixiert. Der Glanz in ihren Augen erinnerte Keli an das dunkle Gletschereis in Hildenberge und hatte etwas undefinierbar Trauriges an sich. Dann spürte Keli, wie Naomi ihre Hand unvermittelt zu sich hinzog.



»Mensch! Das gibt’s doch nicht. Du hast tatsächlich auch nur vier Finger an der Hand«, flüsterte sie aufgeregt in die Runde.



»Warum hast du uns das nie erzählt?«, zischte sie Loyd zu, der ebenfalls nähergetreten war.



»Mir wurde immer gesagt, wir hätten einen Geburtsfehler – darum«, gab Loyd säuerlich zurück.



»Wahnsinn!«, sagte Naomi, Kelis Hand von allen Seiten bestaunend.



Keli starrte ein bisschen weggetreten in die Ferne. Die warmen, zarten Hände, welche die ihren umschlangen, fühlten sich seltsam benebelnd an.



»Reiß ihr mal nicht die Hand ab, Naomi. Wenn sie ein Erbe Lailacs ist, sollten wir das lieber unterlassen, nicht?«, sagte Anker und grinste noch breiter.



Naomi lockerte ihren Griff und Keli zog ihre Hand ernüchtert wieder zurück.



»Jetzt sind wir ja schon zu viert«, sagte Anker leise, aber mit heraushörbarem Enthusiasmus. Ich habe zwei große Suiten im Greenhill reserviert – die besten, die ich kriegen konnte. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, Naomi, mit Keli heute Abend die Räumlichkeiten zu teilen. Es ist eine Ambassador-Suite mit zwei separaten Schlafzimmern – daher denke ich nicht, dass ihr euch gegenseitig stören werdet.«



Naomi deutete mit einem freundlichen Nicken an, dass sie nichts einzuwenden hatte und lächelte Keli fürsorglich zu. Keli jedoch, in deren Brust sich gerade ein anschwellender Ballon breitmachte, hatte keiner gefragt. Sie sollte mit dieser jungen Frau, mit der sie gerade erst Bekanntschaft geschlossen hatte, in denselben vier Wänden schlafen?



Ohne Kelis fassungsloser Gebärde Beachtung zu schenken, fuhr Anker fort: »Ich schlage vor, wir kehren jetzt mal alle ins Hotel zurück, um unser Gepäck abzulegen, machen uns frisch und gehen dann im Abendlokal in der obersten Etage des Hotels schön dick Abendessen. Dort können wir unseren Schlachtplan für die kommenden Wochen besprechen, und ich kann Keli ihren Preis zukommen lassen.«



Anker, der Kelis fiebrigen Zustand als Zeichen der Vorfreude auf das Siebbier interpretierte, zwinkerte ihr ermunternd zu.



Loyd hatte bislang geschwiegen. Es gab einiges, womit er nicht einverstanden war, aber er wollte diplomatisch bleiben. Er konnte dem Team nicht andauernd in den Rücken fallen, doch musste er dringend mit Keli über ihre Einstellung sprechen. Das war zwingend.



»Morgen, in aller Frühe, treffen wir uns mit der Expeditionsgarde, die uns auf unserer Mission auf Schritt und Tritt schützen wird. Dieselben netten Leute, die uns schon auf der letzten Expedition in den Sternenwald begleitet haben«, meinte Anker vielversprechend, doch Naomis wohlwollende Miene verfinsterte sich schlagartig.



»Nein, Anker. Bitte sag mir nicht, dass Sumire wieder mitkommt. Du weißt doch, was dabei rauskommt, wenn sie wegen der Insekten rumnörgelt.«



Loyd, der bis jetzt all seinen Ärger hinuntergeschluckt hatte, konnte bei dieser Bemerkung nicht mehr anders, als ebenfalls seinen Senf dazuzugeben: »Jetzt hör aber auf. Sowas wie das perfekte Team gibt es schließlich nicht. Wenn ihr euch wieder über Kram wie: ›Ist das Zerquetschen einer Fliege eine Todsünde oder nicht?‹ streitet, dann werdet ihr mir ein paar Ohrenschützer kaufen müssen, bevor wir aufbrechen. Ich habe in den letzten Tagen genug …«



Loyd brach mitten im Satz ab. Der Boden erbebte und ein greller Lichtblitz durchflutete den Saal. Reflexartig warfen sich alle vier auf den Boden. Knapp drei Sekunden später gab es einen gewaltigen Knall, der einige der Fenster der Halle in Scherben zersplittern ließ. Durch die zerborstenen Fenster waren Panikschreie zu hören. Auch unter den Studierenden in der Bibliothek erhob sich ein angespanntes Summen. Nach einigen Augenblicken des furchtsamen Schweigens sprach eine Frauenstimme aus mehreren Lautsprechern über ihnen: »Bitte bewahren Sie Ruhe und bleiben Sie auf ihren Plätzen. Verlassen Sie auf keinen Fall das Gebäude. Wir versuchen, die Situation zu klären und melden uns, sobald wir mehr wissen. Ich wiederhole: Bleiben Sie ruhig und warten Sie auf ihren Plätzen.«



Loyd half Anker, der Mühe hatte, selbst wieder aufzustehen, auf die Beine.



»Da-danke«, sagte Anker zu seiner Stimme findend. »Kommt. Wir gehen nachsehen, was los ist.«



Anker stapfte voran, Keli, Loyd und Naomi zögernd hinterher. Naomi warf sich die Artenfibel mit einem daran befestigten Band über die Schultern und buckelte darüber noch einen gigantischen, grünen Rucksack. In einer Reihe – das Schlusslicht machte Naomi – schritten sie treppab.



Keli sah links und rechts Studenten unter den Tischen kauern. Am Fuß des untersten Treppenabschnitts kam ihnen eine kreideweiße Bibliotheksangestellte entgegen.



»Wir sagten doch, man soll auf den Plätzen warten … oh, Anker, du bist es«, sagte sie am ganzen Leib schlotternd.



»Hallo, Tanja. Was ist denn da draußen los?«, erkundigte sich Anker, der die Frau anscheinend gut kannte und ihr brüderlich die Hand auf den Nacken legte.



»I-ich habe eben eine Lichtmail von einem Freund erhalten, der in der Nähe des Stadtzentrums arbeitet, und er meint, es habe vor dem Greenhill Hotel eine Explosion gegeben und Terroristen hätten die Stadtwachen angegriffen. Er riet mir zu flüchten, da eine ganze Armee auf den Straßen sein soll«, sagte Tanja angsterfüllt, während sie sich die Magengegend massierte, als wäre ihr übel.



»Mist. Ausgerechnet jetzt!«, fluchte Anker und begann unruhig, seinen struppigen Bart zu befingern.«



Er wandte sich abrupt zu Naomi und den Lanthorn Geschwistern um. »Hört zu. Dies ist ein Zeitpunkt, an dem wir flexibel denken und rasche Entscheidungen treffen müssen. Die Zukunft des Laternenwalds hängt womöglich vom Erfolg unserer Mission ab. Deshalb schlage ich vor, wir verstecken uns vor den Angreifern, bis die Stadtwachen die Lage unter Kontrolle gebracht haben und wir sicher aufbrechen können. Als Botschafter sind wir besonders gefährdet. Am besten verstecken wir uns in den Tresorräumen unter dem Forschungszentrum nebenan. Mit meiner Professorenkarte kommen wir dort rein und drinnen sollten wir bis auf weiteres sicher sein. Los, los, auf zu den Übergängen«, keuchte Anker und setzte den Trupp in Bewegung.

 



Tanja blieb zuerst stehen, senkte ihren Blick auf die raschelnde Lichtkugel auf ihrer Hand, welche die Botschaft ihres Freundes trug, dann folgte sie der Gruppe über die Fläche mit den vielen Tischen.



Sie begaben sich, so schnell es ging, auf die erste Hochebene der Bibliothek, von wo es zur Linken eine Passage ins Erdgeschoß des Forschungszentrums gab und zur Rechten eine mit Rolltreppe ins fünfte Stockwerk hinauf, wo sich laut Wegweiser das »Abteil B2« der Professorenbüros befand. Anker stand bereits schwer atmend vor den Verweistafeln und wartete ungeduldig auf die Ankunft der anderen. Überall waren um die Fenster herum Glasscherben auf dem Teppichboden verstreut. Die Gefechtsgeräusche von draußen wurden immer lauter. Besonders dem jüngsten Mitglied der Gruppe, Keli, die an die Stille und den Frieden von Hildenberge gewohnt war, machte der Tumult Angst. Keli zitterte am ganzen Körper und atmete viel zu schnell. Naomi, die hinter Keli her schritt, bemerkte, wie sie zu hyperventilieren begann.



»Keli, ruhig atmen«, sagte sie und rieb ihr beruhigend den Rücken, als sie bei Anker angekommen waren. »Wir sind für brenzlige Situationen ausgebildet. Mit uns wird dir nichts geschehen.«



»Ok, sind alle da? Tanja, du kommst mit uns?«, sagte Anker knapp, der Tanja hinter Loyd entdeckt hatte. Es war mehr eine Feststellung, als eine Frage.



»Mh – geht das für euch in Ordnung?«, nuschelte sie kaum hörbar.



»Ich persönlich würde es nicht wagen, mich in so einer Situation meiner Pflicht als Aufsichtsperson der Bibliothek zu entziehen, aber das musst du für dich selbst entscheiden«, sagte Anker kühl und wandte sich von ihr ab. Als er sich versichert hatte, dass sie vollzählig waren, sagte er: »Also, weiter geht’s.«



Er wollte eben in die Glaspassage einbiegen, die hinunter ins Erdgeschoß des benachbarten Forschungszentrums führte, wo sich der Eingang in die Tresorräume befand, als vom Ende des Übergangs Schreie zu ihnen hochhallten. Loyd sprang vor, an Anker vorbei, strich sich mit einem kleinen Stein über die linke Handfläche und wurde augenblicklich von der umliegenden Atmosphäre verschluckt. Nur Loyds Stimme gellte noch durch die Passage zu ihnen empor: »Fahrt hinauf zu den Büros und steigt dann die Feuertreppen runter. Ich komme gleich nach.«



»Dieser Idiot. Was macht er jetzt wieder?«, fauchte Naomi schroff.



»Er wird schon wissen, was er tut. Folgt mir«, raunte Anker ernst und begab sich auf die Rolltreppe.



»Was hat er gemacht? Wieso ist er verschwunden?«, wandte sich Keli aufgewühlt an Naomi, während sie sich von den automatisierten Stufen nach oben befördern ließen.



»Das nennt man ›Lichtschatten‹«, erklärte ihr Naomi im Flüsterton. »Diese Lichttechnik ist vor allem in der Exploration ganz wichtig, wenn man gefährliche Gebiete erforscht, in denen unberechenbare Wesen lauern könnten. Das Licht, das von dir an die Umgebung abgegeben wird, wird in einem kleinen Kristall gefangen und gebündelt, was bewirkt, dass dein Körper sich hinter der sichtbaren Umwelt versteckt. Wenn du ein bisschen übst, kannst du diese Technik vielleicht bis zum Ende der Expedition erlernen.« Hiermit drückte sie Keli einen kleinen, glühenden Stein in die Hand und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.



»Still jetzt«, ermahnte sie Anker leise mit dem Zeigefinger auf den Lippen.



Auf der fünften Etage war es gespenstisch ruhig. Weder Lehrpersonal, Studenten, noch Angreifer waren zu sehen. Sie huschten in leisem Laufschritt an den Bürotüren vorbei bis ans Ende des Ganges, wo sich eine kleine gläserne Notfall-Tür befand, die jederzeit von innen geöffnet werden konnte. Als Anker die Tür am Griff öffnete, schwappte von draußen der Gestank von verbrannten Chemikalien in den Korridor herein. Anker hatte wegen seines Umfangs ein wenig Mühe, durch die schmale Türöffnung zu kommen, schaffte es aber mit der vereinten Hilfe seiner Begleiter, die ihm mit Stoßen und Ziehen halfen. Als Tanja hindurch war – sie hatte sich nun doch entschieden, mitzukommen –, überprüfte Anker noch einmal den langen, soeben passierten Durchgang hinter dem Türbogen. Niemand war zu entdecken.



Sie befanden sich nun in einem Treppenhaus aus Metallgittern zwischen dem Forschungszentrum und einem Studentenwohnungskomplex. Beide Gebäude waren durch drei Glaspassagen miteinander verbunden. Unmittelbar links neben den Bauten befand sich der hohe Schutzzaun, hinter d