Wahre Liebe ist himmelblau

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Wahre Liebe ist himmelblau
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Wahre Liebe

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet oder http//dnb.d-nb.de abrufbar.

Impressum:

© 2013 Walter Christiansen & Marianne Strolz

Herstellung und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Lektorat: Walter Christiansen & Marianne Strolz

Satz und Layout: Walter Christiansen

Coverillustration/Textillustrationen: Marianne Strolz

Autorenfoto: Jürgen Drexel

ISBN 978-3-8442-6612-2

Alle Rechte, auch das des auszugsweisen Nachdrucks,

der auszugsweisen oder vollständigen Wiedergabe, der Speicherung

in Datenverarbeitungsanlagen und der Übersetzung

vorbehalten. Die Wiedergabe der Texte des gesamten Werkes

oder Teile daraus, soweit solche Wiedergabe über das

allgemeine Zitatrecht hinausgeht, ist ohne vorherige

Zustimmung der Autoren nicht gestattet.

Walter Christiansen (*1938 in Tondern/Dänemark)

war früher ein passionierter „Jünger der schwarzen Kunst“, d.h. gelernter Schriftsetzer. Arbeitete die meisten Jahre seines beruflichen Lebens als Maschinensetzer an der deutschen Tageszeitung in Apenrade/Nordschleswig. Im Zuge seiner nebenher laufenden spirituellen Erfahrungen ließ er sich 1990 in der Schweiz nieder und entwickelte in komplementärem Zusammenwirken mit seiner Frau in zweiter Ehe eine überkonfessionell-religiös geprägte und zugleich psychologisch nachvollziehbare Erzählkunst, wie sie im vorliegenden Werk eindrucksvoll zum Ausdruck kommt.

Marianne Strolz (*1945 in Vetlanda/Schweden)

machte eine Lehre zur Dekorateurin, bildete sich weiter zur Töpferin/Kunsthandwerkerin und etablierte sich in den 1970er Jahren in Goldingen/Schweiz als selbständig erwerbende Kursleiterin in eigener Werkstatt, weithin bekannt unter dem Namen „Töpferei Blaue Taube“. 1990 heiratete die von Jugend an künstlerisch und spirituell motivierte Töpferin in zweiter Ehe den mittlerweile langzeitarbeitslosen Poeten Walter Christiansen aus Dänemark und entwickelte sich über mehr als 20 Jahre an seiner Seite zur leidenschaftlich engagierten Ko-Autorin des vorliegenden Werkes.

Einstimmung

Die Seele jedes Menschen ist wie ein tiefes Wasser, ein Meer von Gefühlen und Empfindungen, Gedanken und Vorstellungen, Gegebenheiten und Möglichkeiten. Durch längst vergessene Zeiten sind wir aus unserer seelischen Tiefe aufgestiegen, angetrieben von himmlischen Sehnsüchten. An der schillernden Oberfläche unseres Seelenmeeres haben wir zum ersten Mal den blauen Himmel gesehen, so nah – und doch so fern. Beglückt haben wir unsere Hände nach ihm ausgestreckt. Aber bisher blieb der Himmel uns fern.

Heutzutage leben wir gleichsam entzaubert an der Oberfläche unseres Seelenmeeres. Unser märchenhafter Tiefgang von einst hat sich unserer Wahrnehmung entzogen. Und mit der Ferne des blauen Himmels haben wir uns abgefunden. So haben wir nicht nur die Rückverbindung zu unserem Lebensursprung aus den Augen verloren. Auch unser kindliches Vertrauen in die Zukunft ist verblasst. Dies tut uns nicht gut. Mit dem Mut der Verzweiflung suchen wir, den Verlust an Tiefe in unserer Wahrnehmung auszugleichen, indem wir mit den sich uns bietenden Mitteln der Oberflächlichkeit sehnsuchtsvoll nach den Wurzeln unserer Existenz tasten.

Zum Glück sind wir nicht hoffnungslos der sich uns bemächtigenden Oberflächlichkeit ausgeliefert. Denn unser Dasein an der Oberfläche unseres Seelenmeeres beinhaltet eine lückenlose Fortsetzung unserer evolutionären Bewegung von unten nach oben, was wiederum eine befreiende Loslösung unseres Wesens von Vergangenem bewirkt – und uns dadurch eine heilsame Annäherung an Zukünftiges garantiert. Tiefe und Oberfläche sind ganz und gar aufeinander angewiesen Wo Tiefe und Oberfläche sich gegenseitig suchen, rückt der blaue Himmel uns näher.

Darüber möchten wir eine Geschichte erzählen, die uns jener Wind zugeflüstert hat, von dem niemand so recht weiß, woher er kommt und wohin er geht.

Die Autoren


1
Entdeckungen im Wasser meiner Seele

Ich bin Anders Andersen, im Grunde ein namenloser Schöngeist auf der Suche nach sich selbst und seiner Bestimmung. Meine große Leidenschaft ist die Erforschung meiner Seele. Manche halten mich darum für ein wenig kurios oder gar wunderlich, um nicht zu sagen schrullig. Da ist sicherlich etwas Wahres dran. Ich selbst erlebe mich allerdings eher als ein wenig entrückt. Das klingt in meinen Ohren um einiges besser – und ist wohl auch zutreffender. Aber urteilen Sie selbst.

Als ein Kind des just zu Ende gegangenen, von dramatischen Weltereignissen äußerlich wie innerlich zutiefst erschütterten Jahrtausends stehe ich nachdenklich an der Schwelle eines neuen Zeitalters. Dort stehe ich nicht allein. Ich befinde mich inmitten unzähliger Brüder und Schwestern. Die meisten von ihnen schauen mit fernem Blick vor sich hin. Ihre Augen suchen etwas Unbestimmtes, Verborgenes, Zukünftiges, dessen reale Existenz sie untergründig spüren. Es zieht ihre Aufmerksamkeit magisch auf sich. Aber sie können es nicht konkretisieren. Folglich schauen sie aneinander vorbei. Ihr suchender Blick trennt sie voneinander, statt sie zusammenzuführen.

Nachdenklich betrete ich die Schwelle. Einerseits möchte ich sie fröhlich und unbeschwert passieren. Andererseits hält irgendetwas mich zurück. So verharre ich auf der Schwelle, um mich zu sammeln, innerlich aufzuladen. Ich möchte meine ersten Schritte ins Neue und Ungewisse segensreich beflügelt wissen.

Während ich zögerlich um mich schaue, wird mir bewusst, dass ich die nächsten vielen Schritte nicht allein gehen möchte. Warum nicht versuchen, das Unbestimmte, Verborgene, Zukünftige, wonach meine Brüder und Schwestern gleichsam paralysiert Ausschau halten, in meiner Person Gestalt zu geben und ihnen somit sichtbar und greifbar zu machen. So könnte ich ihren isolierten Fernblick unterbrechen, ihn umlenken auf die Nähe des lebendigen Augenblicks. Sie würden nicht mehr aneinander vorbei schauen, sondern zuerst mich und das mir kurios Anhaftende – und dadurch sich selbst sowie jeden Bruder und jede Schwester um sich herum wahrnehmen. Dieser kleine pädagogische Dreh könnte uns näher miteinander verbinden, unsere ersten gemeinsamen Schritte neuartig beflügeln.

Also greife ich tief hinein in meine Seele, um dem dort Verborgenen Gestalt zu geben. In meinem Inneren erkenne ich eine unendliche, mehr oder weniger fassbare Vergangenheit, die mich wohlweislich zu dem gemacht hat, was ich heute bin. Teilweise tritt meine Vergangenheit sogar gestochen scharf in Erscheinung. Nach vorn, über die Schwelle hinaus, sehe ich hingegen nichts entsprechend Klares und Erforschbares, erahne aber eine Zukunft, die mich liebevoll in die Arme nimmt, ohne mich wissen zu lassen, was sie mit mir vor hat.

Hilfreiche Gefühle und Gedanken durchströmen mein Herz und meine Sinne in diesem heiligen Augenblick auf der Schwelle. Erhabene Sehnsüchte steigen in mir auf. Ich wünsche mir, Vergangenheit und Zukunft miteinander zu versöhnen und zu verknüpfen. Dazu muss ich die vielfältigen Vorkommnisse meiner Gegenwart neu begreifen; denn in ihnen begegnen sich Vergangenes und Zukünftiges. – Nicht, dass solches ausgerechnet auf der Schwelle eines neuen Jahrtausends geschehen muss. Nein, es kann jederzeit geschehen; denn jeder Mensch steht in jedem Augenblick seines Lebens auf einer Schwelle zwischen alt und neu. Dass ich ausgerechnet auf der Schwelle zum neuen Jahrtausend besonders nachdenklich geworden bin, damit hat es eine eigene Bewandtnis. Mein Nachsinnen dauert nämlich schon recht lange – und scheint gerade jetzt zu kulminieren. So bietet sich mir die genannte Schwelle auf natürlichste Weise an, um mich meinen Brüdern und Schwestern gegenüber zu erklären.

Indem ich nun das vielfältige Leben um mich herum aufmerksam betrachte, vernehme ich von meinen Brüdern und Schwestern her sowohl Herzerquickende Lebensfreude wie auch Herzbeschwerende Bedrängnis. Die Kontraste unserer gemeinsamen Gegenwart greifen ineinander auf eine Weise, die mein Herz konstruktiv erschüttert. Dies umso mehr, als die Schattenwirkungen zuzunehmen scheinen und vielerorts in der Welt alle Lebensfreude zu ersticken drohen.

Wie ich verspüre, haben solche Erfahrungen damit zu tun, wie jeder von uns mit seinen Gefühlen und Gedanken umgeht. Darauf möchte ich etwas näher eingehen. Am besten bleibe ich erstmal bei meinen eigenen Gefühlen und Gedanken!

*

Ich erlebe meine Gefühle und Gedanken als das Wasser meiner Seele. Mich interessierte schon immer, die geheimnisvolle Tiefe meiner seelischen Innenwelt näher kennen zu lernen. So dachte ich viel nach über mich selbst und mein Leben. Dabei entdeckte ich, dass das Wasser meiner Seele sich regelrecht erforschen lässt.

Wenn ich mich dabei von preschender Neugier und Abenteuerlust antreiben ließ, war es allerdings schwierig, die Wassertiefe meiner Seele auszuloten und so zu erforschen, dass ich mich dadurch erbaut und erfüllt fühlte. Mein Leben schien sich zu komplizieren. Meine gewollte Umarmung der mir begegnenden Zukunft verkrampfte sich, lähmte meine Glieder, ließ Ängste in mir aufsteigen.

Dies änderte sich, sobald ich meine Neugier und Abenteuerlust zurückstellte und meine Sehnsucht nach höherem Wissen und höherer Liebe als alleinigen Antrieb meiner Forschung benutzte. Das trübe Wasser meiner Seele klärte sich dann überraschend schnell und offenbarte mir einige weitere seiner vielen Geheimnisse. Die mich zuweilen heftig umklammernden Arme der Zukunft wurden mit einem Mal weich und wohltuend. Meine Glieder streckten sich wohlbehaglich. Alle untergründigen Ängste verflüchtigten sich.

 

So wurde mir klar, dass ich hier und jetzt nicht nur ein Stück Vergangenheit bin. Mir wurde bewusst, dass ich nicht nur das bin, was meine Vergangenheit aus mir gemacht hat, sondern dass ich auch etwas bin, was meine Zukunft mit mir vorhat. Denn meine veränderte Forscherhaltung – von alleiniger Neugier zu höherem Wissensbedürfnis und von isolierter Abenteuerlust zu höherem Liebesbedürfnis – erzeugt eine besondere Strömung, die das Wasser meiner Seele neuartig in Bewegung setzt und die Energieströme meiner Zukunft, die mich in der Gegenwart ständig berühren, harmonisierend beeinflusst.

Ich musste jedoch auch erfahren, wie schwierig es sein kann, bei wankelmütig-schwachem Glauben an höheres Wissen und höhere Liebe die Erforschung meiner Seele erfolgreich zu betreiben. Immer wieder stiegen aufdringliche Neugier und preschende Abenteuerlust in mir auf, trübten das Wasser meiner Seele und reflektierten schattenhafte Vorkommnisse, die ich vorerst als wertvolle Errungenschaften einschätzte. Folglich war meine Seelenforschung lange Zeit nicht nur von glückseliger Erkenntnis, sondern auch von schmerzlicher Ernüchterung geprägt gewesen, was mich allmählich begreifen ließ, dass ein Übermaß an Neugier und Abenteuerlust meine Sinne getäuscht und das Wasser meiner Seele getrübt hatten.

Bis auf weiteres schien mir nichts anderes übrig zu bleiben als immer wieder von vorn über meinen vermeintlich allzu schwachen Willen nachzusinnen. Mithilfe gebündelter Willenskraft müsste sich wohl am ehesten herausfinden lassen, nach welchen Gesetzen mein Fühlen und Denken sich einfärbt und formiert.

Es kam dann aber ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich begann einzusehen, dass gebündelte Willenskraft grundsätzlich nicht ausreicht, wo es darum geht, in meiner Seele nachhaltige Klarheit zu schaffen. So kam ich auf die gute Idee, meinem energisch gebündelten Forscherwillen ein gewisses Maß an Zurückhaltung und Unbestimmtheit entgegenzusetzen, einen gefügigen Willen zum Guten, der von vornherein auf jegliche Druckmittel verzichtet. Das bewirkte Erfolge, die ich kaum zu erhoffen gewagt hatte.

Also setzte ich meine Beobachtungen in den verborgenen Gefilden meines Seelenmeeres fort, ausgerüstet mit soviel gutem Willen der erwähnten Art, wie ich aufzubringen vermochte. Wir gern hätte ich mich nicht in klarem Wasser befunden, um alles unbeschwerter betrachten und studieren zu können. Aber das Oberflächenwasser meines Seelenmeeres ließ nicht viel Licht durch. Das lag an dem Staub, Schlamm und Schutt, der meinen Seelengrund über weite Strecken bedeckte und durch willkürliche Strömungen immer wieder aufgewirbelt und nach oben getragen wurde.

Ich begriff allmählich, dass Staub, Schlamm und Schutt im Wasser meiner Seele Abfallprodukte sind, die überall entstehen, wo ungezügelte Neugier und Abenteuerlust am Werke sind. Denn ich brauchte nur ein klein wenig aufdringliche Neugier sowie preschende Abenteuerlust in mir Raum zu geben, dann war ich sofort in einer undurchdringlichen Wolke drin. Alle Substanzen in meinem Seelenwasser schienen deutlich auf mein Fühlen und Denken zu reagieren. Mit Hilfe meines guten Willens gelang es meistens, die mich umwirbelnden Schlammwolken so weit zu zerstreuen, dass ich mich orientieren und somit eigentliche Forschung betreiben konnte.

Während ich auf diese Weise schwimmend und forschend dem Terrain meines Seelengrundes folgte, erblickte ich dann und wann unförmige Gegenstände, die aus dem Schlamm hervorragten oder in den Schlammwolken eine irgendwie bedrohliche Gestalt annahmen. Manchmal gelang es mir, ihre Identität festzustellen. Wunderbarerweise gingen sie im Augenblick der Identifikation in Auflösung, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Ein weiteres Stückchen Klarheit entstand dadurch in meiner Seele.

Zum Glück sind meine Tauchgänge nicht nur von Schlammwolken begleitet. Zwischendurch stoße ich auf unterseeische Landschaften, die in großer Klarheit und Schönheit leuchten. Gleich Oasen der Reinheit und Fruchtbarkeit liegen sie dort unten in der Tiefe meiner Seele, in Licht gebadet. Denn die trüben Wassermassen über ihnen werden von geheimnisvollen Seelenkräften in strömender Bewegung gehalten, sodass Lichtdurchflutete Korridore sich bilden. Die Lichtwände dieser Korridore vibrieren in schillernden Farben. Winzige Elementarwesen in strahlend weißen Gewändern huschen umher. Sie reflektieren das ihnen innewohnende Licht in alle Richtungen und schaffen so in der tiefsten Tiefe meiner Seele Lebensbedingungen für herrlichste Lebensformen und Lebensnuancen.

In solcher von Licht durchfluteten Seelenlandschaft wandelt sich mein Lebensgefühl. Intensive Lebensfreude und tiefe Erfüllung überkommen mich. Die Schwere in mir und um mich herum scheint sich zu verflüchtigen. Ich bewege mich in leichtfüßig schwebendem Gang statt in Kraft fordernder schwimmender Aktion. Außerdem gibt es bei solcher Lichtintensität kaum etwas zu erforschen. Denn alles erstrahlt in beeindruckender Klarheit und beantwortet sich gleichsam von selbst.

Wenn ich mich in solcher Oase aufhalte, kann mich das Bedürfnis überkommen, mich dorthin zurückzuziehen. Bei solchen Gedanken erheben sich jedoch alsbald dunkle Schlammwolken gleich außerhalb der Oase, und eine kühle Strömung berührt mich. So werde ich ermahnt, dass ich nicht lebe, um mich genüsslich in Oasen niederzulassen, sondern um die noch trüben Regionen meines Seelenmeeres in blühende Gärten umzugestalten.

*

Eines Tages hatte ich gerade eine besonders bezaubernde Oase verlassen, um ein angrenzendes halbdunkles Gebiet näher zu untersuchen, als ich unversehens in eine schlammige Vertiefung trat und dabei gegen etwas Hartes stieß. Ich beugte mich hinunter und griff beherzt hinein in den Schlamm, um das gewisse Etwas abzutasten und eventuell herauszuziehen.

Das gelang auch. Doch musste ich den Gegenstand sogleich wieder fallen lassen; denn etwas Scharfes an ihm verpasste mir beim Greifen eine Schnittwunde in den Zeigefinger. Ein Hauch von Neugier musste mich wohl gepackt haben, so dass ich mich ein wenig über die gebotene Vorsicht hinweggesetzt hatte. Auf dem sandigen Meeresboden neben der schlammigen Vertiefung lag jetzt ein kreisrunder, flacher, leicht gewölbter Gegenstand, einem Spiegel ähnlich, nur ohne Griff. Eine markant hervortretende, wunderbar gearbeitete Einfassung aus Kristall glitzerte mir bläulich entgegen. Die Spiegelfläche selbst trat dunkel, matt und unergründlich hervor. Sie reflektierte kein Licht, sondern schien die sie treffenden Lichtstrahlen zu absorbieren. Ein Blutstropfen aus der Schnittwunde meines Zeigefingers haftete für einen Augenblick auf der leicht gewölbten Spiegelfläche, löste sich aber alsbald in Nichts auf.

Vorsichtig umfasste ich nun mit beiden Händen den spiegelähnlichen Gegenstand, auf welchem keinerlei Widerspiegelung zu erkennen war. Ich spürte die Schärfe der Kristallfacetten des Spiegelrandes auf meiner Haut. Und ich vernahm, dass es eine lebendige Schärfe war, eine, die mit meinen Gefühlen und Gedanken korrespondierte. Denn als ich den Gegenstand ehrfürchtig wieder aufgehoben hatte, legte er sich in meinen Handflächen gleichsam zurecht, ohne mir irgendwelches Unbehagen zuzufügen.

Verwundert betrachtete ich meinen ungewöhnlichen Fund. Im Augenblick des Aufhebens waren alle Schlammpartikel von ihm abgefallen, so als würden sie von seiner irgendwie aktivierten Oberfläche abgestoßen. Wie war es möglich, im Schlamm meines eigenen Bewusstseins einen solchen Gegenstand zu finden? Was war sein Geheimnis? Was könnte er mir widerspiegeln?

Zuerst schien sich auf der matten, tiefschwarzen Oberfläche, die den Eindruck eines schwarzen Loches erweckte, nichts zu regen. Nachdem ich aber dreimal nacheinander unausgesprochen sowie in natürlicher Ehrfurcht eine Frage in den Raum gestellt hatte, bewegte sich etwas auf der dunklen Wölbung. Licht und Schatten huschten hin und her und formierten sich schließlich zu einem lebendigen Bild – einem prächtigen Palast aus funkelndem Kristall, umgeben von einer glitzernden Natur, die ebenfalls aus Kristall zusammengesetzt schien.

Mauern, Türme und Nischen des Palastes reflektierten ein bezauberndes Licht, das in allen Farben des Regenbogens glitzerte. Und über dem märchenhaften Gebäude wölbte sich ein prächtiger Nachthimmel, von unzähligen funkelnden Sternen übersät, die sich zu Sternbildern formierten, wie ich sie von nirgendwo her kenne.

Überwältigt von der schweigsamen und doch so lebendigen Sprache der bezaubernden Kristallwelt öffnete ich alle meine Sinne, beseelt von dem innigsten Wunsch, den Sinn dieser geheimnisvoll auf mich gerichteten Bildsprache ungeteilt in mich aufnehmen und vollständig begreifen zu können. Denn der unbekannte Sternenhimmel flößte mir sofort ein tiefes Vertrauen ein – und funkelte mir entgegen, als wolle er mich irgendwie informieren.



2
Ein Herrscher jens eits von Raum und Zeit

Beim Anblick des märchenhaft glitzernden Kristallpalastes und der sich über demselben wölbenden Sternenpracht verlor ich für eine Weile mein Raum- und Zeitgefühl. Denn aus dem Kristallspiegel in meinen Händen strömten geheimnisvolle Energieimpulse in mich hinein und belebten meine Gefühle und Gedanken auf eine Weise, wie ich es bisher noch nie erlebt hatte. Der Kristallpalast und seine zauberhafte Umgebung vibrierten in mir – nicht nur als ein Bild, sondern als etwas absolut Wirkliches. Kristallwinde rauschten dezent durch meine Innenwelt. Sphärische Musik drang aus weiter Ferne an mein Ohr. Und dann erhob sich eine kristallklare und sehr milde Stimme, die aus dem Inneren des Palastes zu kommen schien:

„Gesegnet seiest du auf deinem langen Weg, du unermüdlich Suchender! Bis zu dieser Stunde warst du in deinem Bemühen um höheres Wissen und höhere Liebe überwiegend auf dich selbst und deinen anhaltend guten Willen angewiesen. Das soll jetzt anders werden; denn um deine Zukunft sinnvoll gestalten zu können, benötigst du – mehr als bisher – auch mich als deinen täglichen Begleiter, weshalb ich von jetzt an mehr an deiner Seite sein werde.

Die Anforderungen des Lebens an dich werden sich zusehends mehren. Um ihnen gerecht zu werden, benötigst du neuartige Erkenntnisse, die du nur in deinem eigenen Inneren erwirken kannst, und dies auch nur mit besonderer Hilfe meinerseits. Deshalb begegnen wir uns hier und heute auf dem Meeresboden deiner Seele, wo du jetzt stehst, am schlammigen Rand jener Oase, die du gerade durchquert hast.

Der Kristallspiegel, den du in deinen Händen hältst, hat schon lange auf dich gewartet. Er gehört ganz zu dir und wird jetzt dein täglicher Begleiter sein. Niemand kann ihn dir nehmen. Denn mit dir zusammen ist er gewachsen. Er ist eine Kristallisierung deines unermüdlich guten Willens. Deshalb kannst nur du allein ihn aktivieren – mit Hilfe deiner reifenden Gefühle und Gedanken. Er wird dich fester als bisher mit mir verbinden und dir eine unentbehrliche Hilfe sein in deinem fortgesetzten Bemühen um höhere Wahrheit und höhere Liebe …“

Es entstand eine Pause, derweil erfrischende Kristallwinde mich heimelig umschmiegten. Himmlische Töne aus unendlicher Ferne schwankten sanft im Takt mit den Winden, von denen sie getragen schienen. Und der unbekannte Sternenhimmel über dem Kristallpalast sprühte sein funkelndes Licht noch tiefer in meine Seele hinein.

So konnte ich meinen Blick gar nicht vom Kristallspiegel abwenden, der heilsam in meinen Händen lag und gleichsam eins geworden war mit dem, was ihnen und mir innewohnte. Erfrischt bis auf den Grund meiner Seele lenkte ich meine Aufmerksamkeit erneut der verborgenen und doch so offenherzigen Stimme zu, die meine Bereitschaft zu spüren schien und abermals das Wort ergriff:

„Ich bin der Herrscher des unendlichen Weltalls und residiere abwechselnd in unterschiedlichen Palästen, die jeweils ein besonderes Gepräge haben. Mein Aufenthalt ist stets dort, wo ich von Zeit zu Zeit Aufgaben zu erfüllen habe.

Heute spreche ich zu dir aus einem Kristallpalast, der am weitesten außerhalb von Raum und Zeit liegt – und doch wahrhaftig existiert, Aus dem Reich der Kristalle hast du einst deine millionjährige physische Existenz angetreten. Aus dem Licht der himmlischen Welt kamst du zu mir in den Kristallpalast, um von hier aus dein mitgebrachtes Liebeslicht in die physische Materie einzubringen.

 

Das Reich der Kristalle ist, wie alles Existierende, ein Teil meines Wesensinneren. In mir lebt eine kristallklare Gedächtniswelt, die aus sich heraus nicht nur Geistdurchdrungene physische Materie hervorkristallisiert, sondern vor allem luftige Erinnerungen in bildhafter Bewegung festhält und bewahrt, um aus ihnen neues Leben und neue Erinnerungen entstehen zu lassen.

Meine Gedächtniswelt ist nicht nur hier, von wo ich zu dir spreche. Sie vibriert sehr stark in jedem Bergmassiv, in jedem Stein, ja, in jedem Sandkorn am Meeresstrand. Ein Abglanz von ihr lebt auch in dir, in deinem Bewusstsein. Sonst könntest du nicht lebendes Fazit deiner ewigen Vergangenheit sein. Eben so wenig könntest du dich an Vergangenes überhaupt erinnern. Du hättest keine Lebensperspektive. Und ich könnte dich nicht so inniglich umsorgen, berühren und umarmen, wie ich es am liebsten tue; denn die Erinnerungsresonanz zwischen uns würde fehlen.

Zwischen dir und mir bahnt sich ab heute eine wiedererkennende Resonanz an, eine Resonanz mit großer Spannweite, die weit über das hinausgeht, was uns an Erinnerung verbindet. Denn dein anhaltend guter Wille hat mich gerufen, um in deinem Herzen diese Resonanz wiederzuerwecken.

Obwohl mein allumfassendes Gedächtnis außerhalb von Raum und Zeit sein eigentliches Zuhause hat, reichen seine konstruktiv bindenden Kräfte doch weit hinein in den Raum und in die Zeit. Ich erinnere mich deshalb jedes noch so kleinen Geschöpfes in der physischen Welt. Ebensowohl durchdringt mein wiedererkennendes Gedächtnis die Zukunft, wobei ich die Herzen der Menschen verheißungsvoll und beglückend berühre, auch deines.

Gedächtnis ist eine universelle Energie. Sie bewirkt den konstruktiven Zusammenhalt aller Dinge. Nun denke aber nicht, dass ich aus dem Kristallpalast zu dir spreche, um den in dir vorhandenen Abglanz meines universellen Gedächtnisses zu stärken. – Nein, mit einem solchermaßen gestärkten Gedächtnis könntest du zurzeit nicht viel anfangen. Für dich in deiner jetzigen Situation ist etwas ganz anderes viel wichtiger, als sich erinnern zu können oder zu wollen. Die Gedächtniskraft ist zwar sehr nützlich und notwendig. Da und dort auch bei isolierter oder einseitiger Anwendung. Über solches Maß hinaus aber führt sie dich in die Täuschung. Je stärker du als geistig ausgerichteter Mensch die Kräfte deines Gedächtnisses bündelst, statt sie – durch zurückhaltende Anwendung – der höheren Wahrheit und höheren Liebe in dir vertrauensvoll unterzuordnen, desto größerer Täuschung setzt du dich aus.

Ich erwarte von dir, dass du dich Schritt um Schritt über alle schmerzliche und begrenzende Täuschung erhebst. Dafür benötigst du jenen Kristallspiegel, der in der Verborgenheit deines Bewusstseins Gestalt angenommen hat und dir jetzt in die Hände gegeben worden ist. Seine vornehmste Eigenschaft besteht nicht darin, dein Gedächtnis zu stimulieren und zu stärken, sondern dich dazu zu bewegen, deine einseitige Anlehnung an Gedächtnisfunktionen bewusst zu lockern – um dadurch deine Intuition zu fördern.“

Abermals entstand eine Pause. Es hatte damit zu tun, dass immer mehr Fragen sich in mir auftürmten und meine Aufnahmefähigkeit beeinträchtigten. Der unsichtbare Herrscher des Weltalls schien dies zu wissen, bevor es mir selbst bewusst wurde. Denn er ließ mir Zeit und erhob erst dann wieder seine tiefgehend beruhigende Stimme:

„Ich möchte dir noch vieles mitteilen. Denn ich sehe, dass du eine beginnende vertrauliche Kommunikation zwischen uns sehr gut verkraften und ausbauen kannst. Sonst wären wir uns nicht hier und jetzt begegnet. Dadurch, dass wir uns näher kommen, wird deine Empfangsbereitschaft und Kommunikationsfähigkeit zunehmen. Du hast dafür alle Zeit, die du benötigst. Denn weil du ein Teil von mir bist, hört deine Existenz niemals auf. Sie wandelt sich lediglich, wechselt von einer abgelaufenen physischen Form in eine nachfolgende.

Was mich betrifft, muss ich an Zeit erst recht nicht denken, da ich im Eigentlichen außerhalb von Raum und Zeit beheimatet bin. So vergesse ich niemals, woher ich komme oder was ich bin, auch nicht, indem ich innerhalb von Raum und Zeit wirke. Folglich kann ich immerzu und überall da sein für jeden, der mich braucht.

Also artikuliere dich stets frei, wie deine individuelle Seele es dir auf die Lippen legt …“

Während die Worte des unsichtbaren Herrschers verhallten, kamen die in mir aufgestauten Fragen in eine ruhigere Bewegung. Sie bedrängten mich nicht mehr, wurden gefügig, ordneten sich neu. Ich hatte ja so viel Zeit wie nötig, um Antworten zu finden auf alles, was mir klärungsbedürftig erschien.

Das galt auch jenen Aussagen des Herrschers, die einige nahezu unaussprechliche Fragen in mir ausgelöst hatten. Wie konnte es wohl sein, dass ein souveräner Herrscher des Weltalls ein geradezu inniges Bedürfnis habe, mir winzigem Menschen immer näher zu kommen, mit mir zu kommunizieren, mich inniglich zu umarmen, dies gar in einem Schlammloch inmitten von Raum und Zeit? Müsste er nicht logischerweise so erfüllt sein von seinem überirdischen Leben, dass es ihm eine gewisse Überwindung koste, sich mit mir abzugeben?

Die Göttliche Liebe! – Gewiss, sie dürfte auch solche Fragen souverän beantworten können! – Aber inwiefern sei diese Liebe verbunden mit einem innigen Bedürfnis, ausgerechnet mir näher zu kommen, sich an mir zu erfreuen? Was gäbe es da an Erfreulichem, verglichen mit dem Göttlichen Leben außerhalb von Raum und Zeit?

Bevor ich mich daran machen konnte, diesen Fragenkomplex dem Herrscher des Weltalls gegenüber hörbar auszusprechen, erhob sich wieder die warmherzige Stimme aus dem Kristallpalast:

„Obwohl ich uneingeschränkter Herrscher des unendlichen Weltalls bin, lebe ich doch in einer Art Abhängigkeit. Ich lebe in Abhängigkeit zu meiner Schöpfung, die im Grunde ohne Anfang und ohne Ende ist. Sie ist das Kernstück meiner Lebensfreude.

Ebenso wie du ohne mich nicht glücklich werden könntest, könnte ich ohne dich nicht glücklich sein. Ich benötige die Nähe zu dir, weil du Gegenstand meiner schöpferischen Lebensfreude bist. Die Nähe zu dir und die zunehmende Wechselbeziehung zwischen uns stimulieren und erneuern meine Lebensfreude. Meine Lebensfreude hält nur deshalb ewig an, weil ich bis hinein in den Raum und in die Zeit mit dir verbunden sein kann.

Meine innigste Lebensfreude bist du. Dieser Gedanke ist dir noch neu und ungewohnt. Aber bald wirst du ihn voll und ganz begreifen. Dann wirst du mich zutiefst wiedererkennen, und wir werden uns gegenseitig mit Lebensfreude aufladen. Bis dahin erlebe ich sehr viel Vorfreude, die ich mit dir teilen möchte, so oft es geht.

Bei einer späteren Gelegenheit möchte ich dir weitere Informationen über meine ewige Schöpfungsaktivität zukommen lassen. Du wirst dann vieles von dem begreifen, was für dich heute noch im Dunkeln liegt oder halb verborgen ist …“

Die göttliche Stimme aus dem fernen Kristallpalast ging in lebendes Schweigen über . Die klaren und freudevollen Gedanken des himmlischen Herrschers taten mir unendlich gut. Aufklärend und tief beruhigend zugleich durchströmten sie die trüben Gewässer meiner Seele und lösten dort manche Widerstände auf, an denen ich bisher immer wieder unverrichteter Dinge vorüber geschwommen war, weil mein Forschergeist noch zu schwach gewesen war, um sie zu identifizieren und zu entmachten. Ich verstand mit einem Mal, was der Herrscher des Weltalls gemeint hatte, als er sagte, dass ich neuartige Erkenntnisse bräuchte, die ich nur mit besonderer Hilfe von ihm in meinem Seelenwasser finden könnte.

Mir wurde ganz ruhig bei diesem Gedanken, während meine Augen gebannt am märchenhaften Panorama auf der Wölbung des Kristallspiegels hingen. Das Funkeln des Kristallpalastes und des unbekannten Sternenhimmels über ihm durchwirkte meine Wahrnehmung überaus erhebend. Die glitzernde Stimmung aus der Unendlichkeit legte sich über meine innere Stille, wie herabschwebende weiße Blütenblätter sich an einem herrlichen Pfingstmorgen auf der spiegelblanken Oberfläche eines Waldsees niederlassen.