Anna Göldi - geliebt, verteufelt, enthauptet

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Kapitel 2 – Die Glarner Justiz trotzt Hexerei und Zauberei – vorerst

Anders als etwa das benachbarte Bündnerland blieb das Land Glarus vom Hexenwahn während Jahrhunderten verschont. Jedenfalls ist bis zum Prozess gegen Anna Göldi kein Fall bekannt, bei dem glarnerische Richter in einem Hexenprozess ein Todesurteil gefällt oder dieses gar vollzogen hätten. Der Glaube an Hexen und Teufel war zwar auch im Land Glarus verbreitet und löste richterliche Ermittlungen aus, wie mehrere Fälle aus dem 16. Jahrhundert belegen. Aber offensichtlich waren die Strafbehörden wenig geneigt, Prozesse dieser Art bis zur letzten Konsequenz durchzuziehen.

Dafür gibt es mehrere Gründe. Der Landsgemeindeort legte Wert auf eine eigenständige und unabhängige Rechtssetzung. Er anerkannte nur die klassischen, weltlich fassba­ren Straftatbestände wie Mord, Totschlag, Diebstahl oder Betrug, Unzucht und so weiter. Magische Delikte wie Hexerei oder Zauberei gehörten nicht dazu und spielten deshalb als Strafgrund in der glarnerischen Gerichtspraxis keine Rolle.

Zudem verfügte das Land Glarus seit dem Spätmittelalter über ein erstaunlich gut entwickeltes Strafprozesssystem. Schon die Landessatzungen von 1387 enthielten zum Beispiel Bestimmungen zum Recht von Angeklagten, sich von einem Verteidiger vertreten zu lassen. Die Bürger achteten darauf, dass ihre Rechte vor Gericht gewahrt wurden, und erliessen schon früh strafprozessuale Regelungen – zum Schutz vor staatlicher Willkür, wie sie gerade bei Hexenprozessen üblich war.

Es gibt eine weitere mögliche Erklärung für die Zurückhaltung gegenüber der Hexenverfolgung: Das Glarnerland war konfessionell in einen reformierten und einen katho­lischen Landesteil gespalten. Doch im Gegensatz etwa zu ­Ap­penzell wurde eine gemeinsame Behördenorganisation aufrechterhalten. Es gab katholische, reformierte aber auch gemeine Landsgemeinden; ebenso katholische, reformierte, und gemeine Gerichte. Deshalb waren beide Landesteile selbst in Zeiten religiösen Hasses gezwungen, gemeinsame Lösungen zu suchen. Dieses Zusammenwirken der beiden Landesteile verhinderte eventuell, dass sich der Hexenwahn sowohl auf katholischer wie auch protestantischer Seite entfalten konnte.

Nicht der glarnerischen Justiz anzulasten ist übrigens der Hexenprozess gegen drei Frauen, die in Uznach 1695 ange­klagt und zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt wurden. Die Verfahrensherrschaft übten in diesem Fall nicht die Glarner aus, sondern die Schwyzer, wie der Uznacher Historiker Kilian Oberholzer in seinem 2019 veröffentlichten Buch Uznach in seiner farbigen Vergangenheit schreibt. Das Städtchen gehörte zum Untertanengebiet von Schwyz und Glarus, die im Turnus abwechselnd den Landvogt stellten. Im Jahr des Hexenprozesses war Schwyz am Zug. Initiator und treibende Kraft war der als Hexenjäger gefürchtete Schwyzer Landvogt Josef Anton Stadler (1661–1708). Er klagte die Frauen an, auf Besen durch die Lüfte geflogen und mittels Zauberei Tiere und Menschen krank gemacht zu haben. Der Stand Glarus wurde zwar als Partnerort einbezogen und nahm im Urteilsverfahren Stellung. Doch der Prozess lief weder vor glarnerischen Gerichten noch nach glarnerischen Verfahrensregeln ab.

Auch das Beispiel von Susanna Ackermann aus Kerenzen, die 1771 als «Hex und Unholdin» angeklagt wurde, kann nicht als Hexenprozess herangezogen werden, der mit dem Fall Göldi vergleichbar wäre. Ein nur wenige Zeilen umfassender Protokolleintrag lässt vermuten, dass es sich um einen Ba­gatellfall handelte. Offensichtlich wurden die Vorwürfe nicht weiterverfolgt und das Verfahren gegen die unter Vormundschaft stehende Frau schon bald fallen gelassen beziehungsweise einge­stellt.

Beständig hatte das Land Glarus dem Hexenhammer getrotzt. Es war mithin immun geblieben gegen gewalttätige Exzesse der Teufelsbekämpfung. Doch als am Ende des aufgeklärten 18. Jahrhunderts der Glaube an Hexen und Dämonen, just als er überwunden schien, ringsum nochmals aufflammte, ritt plötzlich auch das Land Glarus auf der Welle mit und wurde Schauplatz des letzten aktenkundigen Hexenprozesses in Europa.

Kapitel 3 – Anna Göldis Leben vor der Verhaftung: eine Frau auf der Flucht

Am 24. Oktober 1734 wurde Anna Göldi in Sennwald als viertes Kind der Eheleute Adrian Göldi und Rosina Büeler geboren. Ein Detail, das juristisch von Belang ist: Der Ge­­burts­ort Sennwald, im St. Galler Rheintal gelegen, gehörte damals zum zürcherischen Untertanengebiet Sax-Forsteck.

Anna Göldis Vater war Mesner oder Sigrist in der Dorfkirche und musste acht Kinder versorgen. Die Göldis waren zwar keine Leibeigenen wie andere Bewohner des Untertanengebietes, aber sie lebten in ärmlichen Verhältnissen.

Schon früh musste Anna Göldi selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen und als Dienstmagd in verschiedenen Haushalten der Region arbeiten, was damals für junge Frauen ihres Standes üblich war. Glaubt man einem Teil der Ge­schichts­schrei­bung, soll Anna Göldi bereits 1759, im Alter von 25 Jah­­ren, ihr erstes Kind geboren haben. Der Vater sei ihr Dienstherr Adrian Bernegger gewesen. Dies würde heissen, dass Anna Göldi insgesamt drei Kinder zur Welt gebracht hätte. Doch die Mutterschaft von Anna Göldi aus der Verbindung mit Adrian Bernegger ist unter Familienforschern bis heue umstritten. Fest steht: 1762, im Alter von 28 Jahren, wechselte sie als Hausangestellte ins Pfarrhaus von Sennwald, bis sie schwanger wurde und 1765 ein Kind gebar.

Gemäss Taufschein war dieses ihr erstes Kind. Dessen ­Va­ter war ein gewisser Jakob Rhoduner, der sich noch vor der Geburt des Kindes als Söldner ins Ausland absetzte. Das Neugeborene starb in der ersten Nacht. Das hatte für die Mut­­ter schwerwiegende Konsequenzen.


Schloss Forstegg-Salez, zwischen 1720 und 1768. Zeichnung, Zürich, ZB, Graphische Sammlung, STF Ulinger, Johann ­Caspar, XVII, 26

Ob das Kind eines natürlichen Todes starb oder von der Mutter getötet wurde – allenfalls in einer Panikreaktion –, konnte nie sicher geklärt werden. Bundesrat Joachim Heer schrieb 1865 im Jahrbuch des Historischen Vereins des Kantons Glarus: «Sie wickelte das Kind in einige Lumpen und verbarg es unter der Decke. Als sie von der Pfarrfrau aufge­sucht und im Bette gefunden wurde, bekannte sie Alles; das Kind aber war todt.» Im Schlussverhör des Hexenprozesses, am 6. Juni 1782, sagte Anna Göldi, das Kind sei «ersteckt», also erstickt. Anna Göldi verneinte, dass das Kind gewaltsam ums Leben gekommen sei.

Obwohl früher Kindstod damals verbreitet war, stand für die Leute in Sennwald ausser Zweifel, dass Anna Göldi ihr Kind umgebracht habe. Sie wurde wegen Kindsmordes an die Schandsäule gestellt und zu sechs Jahren Hausarrest verurteilt. Doch Anna Göldi kam vorzeitig frei und ging ins Glarnerland, wo sie im Haushalt eines der geachtetsten Politiker des Landes, Landamman Cosmus Heer, eine Anstellung fand. Heer war ein gemässigter Konservativer, bekannt für seine aufgeschlossene und soziale Gesinnung. Bei ihm in Glarus arbeitete Göldi drei Jahre lang, ehe sie 1768 zur reichsten Familie des Glarnerlandes, zu den Zwickys, nach Mollis wechselte: Im Zwicky-Haus, das heute noch als eines der feudalsten Herrschaftshäuser des Glarnerlandes bewundert werden kann, arbeitete sie sechs Jahre lang als Magd. Anna Göldi sprach im späteren Gerichtsverfahren von der «schönsten Zeit ihres Lebens».

Für Anna Göldi waren die Jahre in Mollis auch eine beweg­te Zeit: Mit Doktor Johann Melchior Zwicky (1745–1821), dem Sohn des Dienstherrn, ging sie eine Liebesbeziehung ein und wurde vom elf Jahre jüngeren Arzt schwanger. Doch allein der Standesunterschied zwischen der Magd und dem Spross einer der reichsten und mächtigsten Glarner Familien machte eine Heirat und damit die «Legalisierung» des Kindes unmöglich. Beide hatten sich des ausserehelichen Beischlafs strafbar gemacht und hielten die Schwangerschaft geheim. Als alleinstehende und schwangere Frau war Anna Göldi gezwungen, die Stelle bei den Zwickys aufzugeben und Mollis zu verlassen.

Ziel ihrer Flucht war Strassburg, wo sie im Jahr 1775 nach ihren eigenen Angaben einen gesunden Knaben zur Welt brachte und taufen liess. Die Stadt im Elsass war grosszügig im Umgang mit der Taufe, auch uneheliche Kinder konnten den Segen der Kirche erhalten. Melchior Zwicky, der Vater des Kindes, kannte sich zudem in Strassburg aus. Er hatte dort Medizin studiert. Über das Schicksal des Kindes ist nichts be­­kannt. Nachforschungen vor Ort verliefen ergebnislos. In den Taufregistern ist um die Zeit 1774/75 kein Neugeborenes verzeichnet, das den Namen Göldi oder Zwicky trägt.

Über die Jahre nach Anna Göldis Niederkunft ist wenig bekannt. Da sie und Melchior Zwicky weiterhin befreundet waren, kehrte sie möglicherweise vorübergehend nach Mollis zurück, ehe sie im September 1780 eine neue Stelle als Magd antrat, beim Ratsherrn und Richter Doktor Johann Jakob Tschudi in Glarus.

Tschudi war verheiratet mit Elsbeth, geborene Elmer, aus dem glarnerischen Ennenda, einer Frau aus gutem Haus. Obwohl sie bei Anna Göldis Dienstantritt erst 27 Jahre alt war, hatte sie bereits zehn Kinder zur Welt gebracht. Nur fünf da­­­von wurden gesund geboren, was für die damalige Zeit je­doch nichts Aussergewöhnliches war. Im Arzthaus in Glarus wohnten im Herbst 1780 nebst der Familie von Doktor Tschudi dessen Bruder Peter sowie mehrere Angestellte, dar­unter Anna Göldi.


Das Zwicky-Haus in Mollis. © Ingo Rasp, Chur

Als die Sennwalderin die Stelle bei der Familie Tschudi antrat, war sie 46 Jahre alt. Sie war wohl eine stolze, attraktive und intelligente Frau, die auf ihren 13 Jahre jüngeren Dienstherrn anziehend wirkte. Nach der Schilderung von Heinrich Ludwig Lehmann (1754–1828) war sie eine «verwel­kende Schönheit», «wohl gewachsen» und «ziemlich gebildet».

 

Ein Jahr lang arbeitete Anna Göldi im Haushalt des Doktors, als plötzlich eine dramatische Wende eintrat und sich ein heftiger Streit entlud. Am 25. Oktober 1781 führte er zu Göldis sofortiger Entlassung.

Anna Göldi gelangte tags darauf an Landammann Johann Heinrich Tschudi und Pfarrer Johann Jakob Tschudi und beklagte sich über ihren Dienstherrn Doktor Tschudi. Anna Göldi muss offensiv aufgetreten sein: Sie verlangte von ihrem Vorgesetzten «Reparation», also Schadenersatz für das an ihr begangene Unrecht und für die ihrer Meinung nach unge­rechtfertigte Entlassung. Die Beschwerde von Anna Göldi löste bei den beiden anderen Herren Tschudi heftige Reak­tio­nen aus: Der Pfarrer wies «dieses freche Luder» ab und forderte Anna Göldi dazu auf, sich bei Doktor Tschudi zu entschuldigen; und der Landammann befahl ihr, das Land unverzüglich zu verlassen.

Am nächsten Tag kehrte Anna Göldi ins Haus der Familie Tschudi zurück, um ihre wenigen Habseligkeiten abzuholen. Doktor Tschudi gab ihr die Kleider sowie ihre geringen Ersparnisse im Betrag von 16 Dublonen zurück. Das Geld vertraute sie Schlossermeister Rudolf Steinmüller und dessen Ehefrau Dorothea an. Mit den Eheleuten Steinmüller, die im Abläschquartier wohnten, war sie befreundet. Sie waren ihre Vertrauensleute. Bei ihnen hatte sie schon früher Rat geholt und Unterschlupf gefunden. Rudolf Steinmüller war vermögend und ein Verwandter von Johann Jakob Tschudi, dem Dienstherrn von Anna Göldi.

Der wirkliche Auslöser des Eklats Ende Oktober 1781 sowie der sofortigen Auflösung des Arbeitsverhältnisses von Anna Göldi liegt im Dunkeln. Von da an kursierten in Glarus Gerüchte, Anna Göldi sei von Doktor Tschudi schwanger geworden. Damit hätten sich beide wegen «verbotenen fleischlichen Umgangs» strafbar gemacht. Die Behörden setzten Ermittlungen in Gang und befragten erste Zeugen. Erst im weiteren Verlauf des Verfahrens berichteten die Eheleute Tschudi, Grund für das Zerwürfnis sei eine ganz andere Geschichte gewesen: Anna Göldi habe der zweitältesten Tochter Anna Maria Tschudi, genannt «Annamiggeli», Schaden zufügen wollen. Sie habe «Gufen», also Stecknadeln, in die Milchtasse der Achtjährigen gelegt.

Nachdem die Entlassung Anna Göldis aus dem Haus von Doktor Tschudi für einiges Aufsehen gesorgt hatte, verliess die in Ungnade gefallene Magd am 29. Oktober 1781 das Land Glarus und tauchte bei Bekannten in ihrer Heimat Sax im St. Galler Rheintal unter. Dort wähnte sie sich in Sicherheit und hoffte darauf, dass das leidige Kapitel bald abgeschlossen und vergessen sei. Auch die Familie Tschudi hoffte zunächst, die üblen Gerüchte und Anschuldigungen nähmen ein Ende, sobald Anna Göldi ausser Landes sei.

Doch Anna Göldi blieb nach ihrer Abreise aus dem Glar­ner­land das Tagesgespräch in der Bevölkerung. Das Gerücht, wonach Doktor Tschudi mit Anna Göldi eine aussereheliche Beziehung unterhalten und mit der Magd ein Kind gezeugt habe, hielt sich hartnäckig. Catharina Göldi aus dem Städtchen Werdenberg, mit Anna Göldi verwandt und von Beruf Hebamme, machte gegenüber den Glarner Behörden Aussagen, welche die Familie Tschudi in Aufregung versetzt haben müssen. Die Hebamme, vor deren Augen sich Anna Göldi einmal umgezogen habe, sagte, sie habe «sehr grosse Brüst und einen dicken Bauch» gehabt, woraus sie den Schluss gezogen habe, «die Anna seye schwanger». Jahre zuvor, als Anna Göldi schon einmal schwanger gewesen sei, habe sie auch so ausgesehen, gab Catharina Göldi zu Protokoll.

Zudem wurden Hinweise gemacht, dass sich Anna Göldi als werdende Mutter nach Strassburg abgesetzt habe, wie Jahre zuvor, als sie von Doktor Zwicky schwanger war. Hirschen-Wirt Klein in Weesen nährte dieses Gerücht durch seine Aussage zusätzlich. Laut Klein hatte ein Mann aus Mollis im Hirschen erzählt, er wisse, wo sich Anna Göldi aufhalte. Sie sei mit dem Boten Giezendanner übers Toggenburg nach Schmerikon gefahren. Dieser habe sie dort dem Berufskol­legen von Rapperswil übergeben, der darauf eine Kutsche für die Weiterfahrt über Zürich nach Strassburg bereit gemacht habe. Zwar sollte sich diese Aussage als Falschmeldung her­ausstellen. Dennoch muss die Nachricht zu der Zeit, als Anna Göldi untergetaucht war, die Tschudis in Glarus aufgeschreckt haben. Sie hatten zu befürchten, dass Anna Göldi von auswärtigen Behörden aufgegriffen würde und vor ihnen ihre Sicht der Dinge ausbreiten könnte. Das wollten die Tschudis verhindern. Sie erkannten jetzt, diese Mutmassung drängt sich ernsthaft auf, dass es ein Fehler war, Anna Göldi aus dem Land Glarus reisen zu lassen.

Wenn Doktor Tschudi sein Gesicht wahren wollte, musste er handeln. Unmittelbar nach der Entlassung von Anna Göldi hatte er versucht, das Problem totzuschweigen und zur Ta­ges­ordnung überzugehen. Nun setzte er alles daran, die Magd zurückzuschaffen und zur Rechenschaft zu ziehen. Dazu brauchte er die Unterstützung der Behörden, denen er selbst angehörte. Doktor Tschudi begab sich mit Verwandten und Freunden vor das Rathaus und verlangte vom Rat mit Nachdruck, dass er den Fall entschlossen an die Hand nehme. Die Drohung wirkte: Am 26. November 1781 fasste die Ob­rigkeit den Beschluss, «diese verruchte Dirne» ausfindig zu machen und verhaften zu lassen. Ein Läufer wurde mit einem Steckbrief nach Werdenberg losgeschickt, um Anna Göldi gefangen zu nehmen und ins Rathaus nach Glarus zu bringen.

Als Doktor Melchior Zwicky aus Mollis, der Vater des zweiten Kindes von Anna Göldi, erfuhr, welcher Gefahr seine frühere Geliebte ausgesetzt war, schickte er sofort den eigenen Läufer, Jost Spälti aus Netstal, nach Werdenberg. Er sollte Anna Göldi warnen und ihr zur Flucht raten. Damit handelte Zwicky nicht ganz uneigennützig: Er musste befürchten, dass seine bis dahin geheim gehaltene uneheliche Vaterschaft auffliegen könnte.

Zwickys Läufer führte seinen Auftrag schneller aus als der amtliche, der unverrichteter Dinge ins Glarnerland zurückkehrte. Dort überbrachte dieser der Obrigkeit immerhin eine brisante Nachricht: Er habe in Werdenberg Jost Spälti getroffen, der im Auftrag von Doktor Zwicky unterwegs gewesen sei. Die Obrigkeit liess den Molliser Arzt unverzüglich vorladen und wollte von ihm den Grund für seine Warnaktion erfahren. Zwicky sagte im Verhör, er habe Anna Göldi auf die behördliche Fahndung hinweisen wollen, weil seine Mutter in Sorge um das Schicksal der Magd gewesen sei. Von einem unehelichen Kind erwähnte er noch nichts.

Auch Schlosser Steinmüller wollte Anna Göldi warnen und sandte am 26. November 1781, also am Tag des obrigkeitlichen Beschlusses, ein Schreiben an sie samt dem ersparten Geld, das die Magd bei ihm in Glarus zur Verwahrung zu­rück­gelassen hatte. Steinmüller ahnte die Gefahr und wollte das Geld schleunigst loswerden. In seinem Brief schrieb er: «Hier übersende Euch durch den Bott [Boten] die mir übergebenen 16 Toplonen.» Zudem teilte er ihr mit, dass Doktor Tschudi eine Fahndung gegen sie eingeleitet habe. «Ich warnen Euch als ein Ehrenmann, nehmt Euch wohl in Acht, dass Ihr nicht in Unglück komen; betet Gott um Verzeihung Eurer Sünden; thaut Bauss [Busse] in der Zeit, so wird Euch Gott der Allerhöchste erhören in der Noth.»

Die Behörden durchkreuzten seinen Plan und beschlagnahmten das Briefpaket, noch bevor es seine Adressatin erreichte. Im späteren Prozess wurden die beiden Warnak­tio­nen ihren Urhebern angelastet. Sie wurden als Beweise dafür ausgelegt, dass Doktor Zwicky und Rudolf Steinmüller mit Anna Göldi unter einer Decke steckten.

Als Anna Göldi die Gefahr erkannte, ergriff sie erneut die Flucht und setzte sich unter dem falschen Namen Marie Sonderegger Richtung Bodensee ab. Ihr Fluchtweg führte von Rorschach über St. Gallen und das Appenzellerland ins Tog­genburg nach Degersheim, wo sie im Wirtshaus Schäfli eine Stelle als Magd annahm. Dort verbrachte sie die letzten Wochen ihres Lebens in Freiheit.

Am 9. Februar 1782 erschien in der Zürcher Zeitung ein Steckbrief von Anna Göldi, unterzeichnet von der Re­gie­rungs­kanzlei des Landes Glarus. Sein Inhalt:

«Löblicher Stand Glarus, evangelischer Religion, aner­bie­tet sich hiermit demjenigen, welche nachbeschrieben Anna Göldin entdecken, und der Justiz einbringen wird, Einhun­dert Cronenthaler Belohnung zu bezahlen; womit auch alle hohe und höhere Obrigkeiten und Dero nachgesetzte Amtsleuth ersucht werden, zu Gefangennehmung dieser Person all mögliche Hülfe zu leisten; zumahlen solche in hier eine ungeheure That, vermittelst geheimer und fast unbegreiflicher Beibringung einer Menge Gufen und anderen Gezeug gegen ein unschuldiges acht Jahre altes Kind verübet hat.

Anna Göldin, aus der Gemeind Sennwald, der Landvogthey hohen Sax und Forstek zugehörig, Zürchergebiets, ohngefähr 40 Jahr alt, dicker und grosser Gestalt, vollkommnen und rothschlechten (rötlichen) Angesichts, schwarzer Haaren und Augbrauen, hat graue etwas ungesunde Augen, welche meistens rothlecht aussehen, ihr Anschauen ist niederge­schla­gen, und redet ihre Sennwälder Aussprach (Dialekt), trägt eine modenfarbne Jüppen, eine blaue und eine gestrichelte Schos, darunter eine blaue Schlingen- oder Schnäbeli-Gestalt, ein Damastenen grauen Tschopen [damasten: aus Baumwol­le]), weis castorin Strümpf, ein schwarze Kappen, darunter ein weisses Häubli, und trägt ein schwarze Seidenbettlj [Handtasche].»

Anna Göldi blieb keine Zeit mehr. Nur wenige Tage nach der Veröffentlichung des Steckbriefes wurde sie verhaftet. Der Dorfschulmeister von Degersheim erkannte die Frau, nach der die Polizei fahndete. Als er ihr beim Schreiben eines Briefes half, den Anna Göldi an ihre Verwandten in Werdenberg schicken wollte, erinnerte er sich an den Namen aus der Zeitung und gab den glarnerischen Behörden den entschei­denden Tipp. Dafür kassierte der Mann ein «Blutgeld» in der Höhe von hundert Kronentalern. Anna Göldi wurde festgenommen, nach Glarus transportiert und am 21. Februar 1782 in eine Gefängniszelle des Rathauses gesteckt.

Ob Anna Göldi zu diesem Zeitpunkt schwanger war oder kurz zuvor ein Kind geboren hatte, lässt sich in Anbetracht der Akten nicht belegen. Theoretisch hätte sie in Degersheim oder auch noch später während ihrer Gefangenschaft in Glarus ein Kind zur Welt bringen können. Doch fehlen entspre­chende Anhaltspunkte. Im Verhör vom 21. März 1782 verneinte sie, in Erwartung eines Kindes zu sein. Scharfrichtern war es untersagt, Schwangere anzufassen. Es kann also davon ausgegangen werden, dass Anna Göldi zu Beginn der Folter nicht schwanger war.

Im Verhör hatte die Angeklagte auch über ihr Privatleben Auskunft zu geben. Zufolge des Protokolls verschwieg sie die beiden früheren Schwangerschaften lange. Insbesondere das mit Doktor Melchior Zwicky gezeugte Kind hatte sie in den Verhören bis zuletzt nicht erwähnt. Erst am Schluss des ­Prozesses räumte sie auf Drängen von Doktor Johann Jakob Tschudi gegenüber dem Rat ein, von Doktor Zwicky schwanger geworden zu sein. Offensichtlich vermied sie – wenn immer möglich – Aussagen, die sie oder jemand anderen hätten in Schwierigkeiten bringen können.