Mörderisches Bayreuth

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Spaziergang zum Festspielhaus
Am selben Tag

Noch ein Tag, dann würde es auch für die Gäste vom Niederrhein mit den Festspielen losgehen: „Das Rheingold“. Heiko wollte den Sonntag nutzen, um sich einen persönlichen Eindruck des Richard Wagner-Festspielhauses zu verschaffen, bevor am Nachmittag die Massen anrückten. Er hatte schon viel über den Prachtbau gelesen, den der große Künstler zwischen 1872 und 1875 nach eigenen Entwürfen im Stil der hellenischen Romantik für sich hatte bauen lassen. Bereits ein Jahr später waren mit „Rheingold“ die ersten Festspiele eröffnet worden.

Vom Hotel aus war es nur ein Katzensprung. Einfach die Tristanstraße ein Stück bergauf, bis zur Bushaltestelle „Am Festspielhaus“, schon ging es hinein in den rund 19 Hektar großen Festspielpark.

Gleich nach dem Frühstück hatte sich Heiko mit Annalena auf den Weg dorthin machen wollen, aber als seine Freundin endlich unter der Dachkuppel des Hotels aufgetaucht war, hatte sie sich erst eine halbe Ewigkeit Zeit gelassen, um ihren Joghurt zu löffeln, und dann darauf bestanden, noch einmal „zum Frischmachen“ in die Suite zurückzugehen. Jetzt waren sie endlich unterwegs, aber die Stimmung war alles andere als rosig. Ohne ein einziges Wort zu wechseln, liefen sie nebeneinander her.

Am Seerosenteich im Park brach Annalena das Schweigen: „Die kleine Blonde scheint dir zu gefallen?“, begann sie.

„Kleine Blonde? Welche kleine Blonde?“

„Na, Laila, die Schwester von Manfred, dem Hotelchef. Sie hat beim Frühstück bedient.“

„Ach so, die. Ich hab gar nicht gewusst, dass sie zur Familie gehört. Das hat sie mir nicht verraten.“

„Lenk nicht ab, du hast meine Frage nicht beantwortet“, ließ Annalena nicht locker.

„Mensch, Anna! Sie hat mir einen Kaffee gebracht und ich hab mich mit ihr unterhalten. Du warst ja noch nicht da.“

„Ich kenn doch deinen Blick. Du hast sie regelrecht verschlungen. Mach mir nichts vor.“

„Und du?“, brauste jetzt Heiko auf. „Du brauchst gar nichts zu sagen. Glaubst du denn, ich hab dich nicht gesehen? Wie du so vertraut mit diesem Kerl zusammengestanden hast, oben vor dem Frühstück? Wie der dich angehimmelt hat? War das dieser Manfred, der Hotelchef? Der wär ja am liebsten in dich hineingekrochen. Hat seine Blicke gar nicht mehr von deinem Busen losgekriegt. Das hat dir gefallen, nicht wahr?“

„Ja, das hat mir gefallen“, gab sie trotzig zurück. „Ich hab meine Brüste sogar noch etwas weiter herausgestreckt als üblich.“

„Und die Blicke, die du ihm zurückgegeben hast. Eindeutiger geht es ja nicht mehr. Du findest ihn attraktiv, oder?“

„Was willst du von dieser Laila?“, stellte Annalena ihm hitzig die Gegenfrage. „Du brauchst mir eigentlich gar nicht zu antworten“, winkte sie dann gleich wieder ab. „Ich weiß es sowieso. Du willst sie in die Kiste kriegen. Hab ich recht?“ Sie blieb stehen und ließ die Arme hängen. „Und danach, was passiert danach? Das ist, was ich gern von dir wissen möchte.“

„Ich glaube, dass deine Fantasie mal wieder mit dir durchgeht“, wich Heiko immer noch gereizt aus. „Können wir das Thema nun beenden? Bitte?“

Er ging los, ohne abzuwarten, ob Annalena ihm nachkam. Welche Gefühle Laila in ihm wirklich geweckt hatte – darüber wollte er nicht sprechen.

„Immer schön den Problemen aus dem Weg gehen. Wie immer“, gab sich Annalena enttäuscht, als sie zu ihm aufschloss. „Typisch Mann, einfach alles totschweigen. Irgendwann mach ich da nicht mehr mit, das sag ich dir.“

„Willst du mir drohen?“, reagierte er schroff. „Mich verlassen? Ha! Wer hält dich denn aus? Wer bezahlt denn deine ganzen Designerklamotten?“

„Ja, bezahlen, bezahlen! Mit dem ein oder anderen schmutzig verdienten Geld!“, herrschte sie ihn an. „Du hast mich bei genug deiner kleinen Deals als Partnerin eingespannt. Meinst du, ich hab keine Augen im Kopf, keine Ohren, die verstehen, was du mit deinen ganzen halbkriminellen Geschäftspartnern am Telefon besprichst? Ich warte nur auf den Tag, an dem dich die Steuerfahnder hopsnehmen.“

„Blödsinn, was ich mache, ist vollkommen legal, das weißt du ganz genau. Ich nutze nur Gesetzeslücken. Und jetzt ist Schluss mit deinem Rumgekeife. Mach doch, was du willst!“ Heiko beschleunigte seine Schritte und verfiel in lethargisches Schweigen.

Während sich die beiden gefetzt hatten, waren sie immer näher zum Eingang des Festspielhauses gekommen. Rege Tätigkeit um sie herum lenkte sie nun von ihrem Streit ab. Arbeiter wuselten durch Türen und schleppten die letzten Bühnenaccessoires von A nach B. Andere waren an den Fahnenstangen vor dem Eingang beschäftigt und hissten diverse Flaggen: Eine zeigte das riesige Konterfei des einstigen genialen Künstlers, im Hintergrund sein Festspielhaus in der linken unteren Ecke. Auf einer anderen waren drei halbrunde, grüne Bögen, die das nahegelegene Fichtelgebirge stilisiert darstellen sollten, über dem blauen Schriftzug „BAYREUTH“ zu sehen; das offizielle Logo der Stadt. Auch das Stadtwappen, das Bayreuth 1457 von Markgraf Albrecht Achilles, damals zugleich Kurfürst von Brandenburg, verliehen worden war, wurde aufgezogen.

Heiko stand ehrfürchtig vor dem imposanten Ziegelsteinbau und zog seinen DuMont-Reiseführer zu Rate. Vom Hauptportal bis zum Ende der Hinterbühne maß das rote Gebäude 100 Meter, verriet ihm der, und dass das Festspielhaus eines der Opernhäuser mit der weltweit besten Akustik sei, weil seine Innenausstattung hauptsächlich aus Holz gebaut war. Selbst auf Sitzpolster hatte Richard Wagner bewusst verzichtet, um die Schallausbreitung nicht negativ zu beeinflussen. Er las weiter: Neben der 22 Meter tiefen Hauptbühne gab es noch die ebenso bespielbare Hinterbühne. Die Höhe des Bühnenportals betrug knapp zwölf Meter und der Dachfirst lag gar 36 Meter über dem Bühnenniveau. Heiko stahl sich an das Hauptportal heran und fragte einen der Arbeiter, wo denn die Spielpläne auslägen.

„Warten Sie hier“, antwortete der, „ich hole Ihnen einen.“ Dann verschwand er in den Tiefen der Eingangshalle, kam aber kurz darauf wieder zurück. „Bitteschön“, erbot er sich und überreichte Heiko einen Faltplan.

28 öffentliche Aufführungen und zwei geschlossene Vorstellungen für Mitglieder des Deutschen Gewerkschaftsbundes wurden zwischen dem 25. Juli und dem 28. August gegeben. Morgen würden auch Heiko und Annalena erstmals die heiligen Hallen betreten – zusammen mit den 1.972 anderen Zuschauern, die neben ihnen beiden noch in den Opernbau hineinpassten – und zweieinhalb Stunden, ohne Pause, „Rheingold“, die Vorgeschichte der Tetralogie um den Ring des Nibelungen genießen. Zweieinhalb Stunden voller Streit um Macht und Liebe, der mit dem heimtückischen Raub des Schatzes der Rheintöchter seinen Anfang nehmen würde. Heiko war Feuer und Flamme und hatte seine verbale Auseinandersetzung mit Annalena fast schon vergessen.

Nicht so seine Begleiterin. Annalena stand ein paar Schritte hinter Heiko, hatte keinen Blick für die Schönheiten um sie herum und eine Miene wie der von den Rheintöchtern verschmähte Zwerg Alberich. Sie hatte Heikos ständige Eskapaden, amourösen Abenteuer und Seitensprünge allmählich satt. Klar, ihre Beziehung war nicht gerade das, was man „konservativ“ nennen würde. Der Mensch war nicht für die Monogamie geschaffen, da waren sie sich einig. Aber es gab gewisse Grenzen. Wenn er sich mittlerweile nicht einmal mehr zu schade dafür war, im gemeinsamen Urlaub etwas mit einer anderen anzufangen und sie dabei links liegen zu lassen … Heiko würde sich nicht mehr ändern.

Es reichte, sie hatte die Schnauze wirklich voll. Geld zu haben, war zwar angenehm, aber nicht alles im Leben. Außerdem – dieser Manfred schien als Geschäftsführer und Gesellschafter des Hotels auch nicht gerade zu den Armen der Stadt zu gehören. Annalena nickte sich selbst zu. Manfred erweckte nicht den Eindruck, dass er jedem hübschen Rock hinterherjagen würde. Als er sie heute früh im Aufzug angesprochen hatte, war er sogar ein wenig rot geworden. Gefallen hatte ihr das eigentlich nicht … wobei – mit ein wenig Abstand betrachtet wirkte es doch ganz charmant.

Sie würde ihm eine Chance geben. Wer weiß, wie die Geschichte ausgehen könnte? Jedenfalls würde es nicht schaden, Heiko eine Lektion zu erteilen.

Annäherungen
27. Juli

Die hübsche Laila spukte auch einen Tag später noch in Heikos Kopf herum. Genau genommen konnte er an nichts anderes mehr denken. Was für eine tolle Frau. Graziös, feminin, sexy – ein Wesen wie aus einer anderen Welt. Von ihr ging eine faszinierende Ausstrahlung aus, die ansteckte. Heiko konnte die Superlative, die er ihr zusprach, gar nicht alle in Worte fassen. Dabei hatte er sie erst einmal gesehen. Das musste sich ändern. Er wollte sie näher kennenlernen, mit ihr ausgehen, sie zum Abendessen einladen. Nicht hier im Hotel. Nein, Annalena brauchte das nicht mitzubekommen. Ihr Gekeife von gestern klang ihm noch immer in den Ohren nach.

Wenn er ganz ehrlich war, konnte er ihren Ärger schon verstehen. Da fuhren sie gemeinsam zu den Wagner-Festspielen und dann ließ er sie gleich am ersten Tag im Zimmer sitzen. Wie viel Annalena von seiner angeregten – und anregenden – morgendlichen Unterhaltung mit Laila mitbekommen hatte, wusste er nicht. Auf jeden Fall genug, um ihren Zorn in gewaltige Höhen zu treiben.

Dieser Trampel von Weib hatte ihn mit ihren grundlosen Vorwürfen mächtig aufgeregt. Es war noch gar nichts passiert! „Bisher“, gestand er sich selbst ein. Er hatte sich vorgenommen, dies zu ändern.

Beim Frühstück hatte er umsonst auf eine zweite Begegnung gehofft, seinen Kaffee hatte er heute von einem dunkelhaarigen Kellner serviert bekommen. Aber dann war ihm auf dem Weg zur Müslistation der Küchenchef des Hotelrestaurants über den Weg gelaufen. Für einen kurzen Plausch hatte der offenbar gerade Zeit, war ausnehmend freundlich. Heiko nutzte die Gunst der Stunde, um nach Laila zu fragen.

 

Sie war im Haus, Laila war heute im Haus. Heute würde sie bei Kleinigkeiten im Garten und abends im Restaurant aushelfen.

Annalena war unterwegs. Geld ausgeben. Sein Geld. Heiko hatte ihr sogar das Taxi bestellt, mit dem sie in die Fußgängerzone gefahren war, sie wollte einen Bummel durch die Maximilianstraße unternehmen. Er wusste, was das bedeutete. Unter 1.000 Euro ging Annalena nie zum Shoppen. Kaum war seine Freundin zur Tür hinaus gewesen, hatte er einen simplen Entschluss gefasst, ganz ohne Schnörkel, und sich auf die Suche nach Laila begeben.

Nachdem er sie im Hotelgebäude nirgends angetroffen hatte, machte er sich auf den Weg in den Garten. Fast eine halbe Stunde lang tigerte er um die Tennisplätze, den Pool und den Biergarten, in dem sich die ersten schon ein kühles Mittagsbier gönnten. Nichts. Musste er es wohl wieder im Hotel selber versuchen. Er machte sich auf den Weg.

Sie saß auf einer Bank nahe der Liegewiese und las in einem Buch. Heiko stand wie vom Donner gerührt vor ihr.

„So einsam?“, fragte er scheinbar neugierig, als er näher an sie herantrat.

Sie schenkte ihm ein zauberhaftes Lächeln und legte ihr Buch beiseite.

Die größten Umweltsünden der Menschheit“, las Heiko. „Mit so einem interessanten, aber schwierigen Thema?“, setzte er hinzu. „Irgendwann in naher Zukunft bringt sich die Menschheit selbst um. Man müsste die Grünen viel mehr unterstützen.“

„Interessieren Sie sich für Umweltschutz?“, wollte Laila wissen.

„Unbedingt. Es ist die zentrale Frage unserer Zeit, die gelöst werden muss, um nachfolgenden Generationen weiterhin ein Leben auf unserem Planeten zu ermöglichen. Wenn ich lese, dass gerade eine Insel im Mississippi-Delta dabei ist zu verschwinden, weil der Meeresspiegel ansteigt, dann ist es eigentlich schon fünf nach zwölf. Viel zu spät, um erst damit zu beginnen, sich Gedanken um Handlungsoptionen zu machen.“

„Das sehe ich auch so“, antwortete Laila und machte dabei ein besorgtes Gesicht.

„Oh, das steht Ihnen aber gar nicht.“

„Was steht mir nicht?“ Sie verstand seinen Kommentar nicht.

„Dieser sorgenvolle Gesichtsausdruck“, gestand er. „Ein Lächeln steht Ihnen viel, viel besser, macht sie einfach noch hübscher.“

„Sie tragen aber ganz schön dick auf“, tadelte sie ihn, grinste aber dabei. Dann legte sie ihr Buch weg. „Ich habe gehört, dass Sie gestern meinen Bruder Manfred kennengelernt haben?“, wollte sie wissen.

„Nicht ganz. Manfred hat sich gestern meiner … Begleitung vorgestellt. Ich habe heute Ihren Bruder Günther getroffen. Er hat mir übrigens den Tipp gegeben, dass Sie hier draußen im Garten zu finden sind. Obwohl er meinte, dass Sie arbeiten würden, nicht lesen.“

„Auch lesen kann Arbeit sein, ich recherchiere. Aber … Dann haben Sie sich sofort auf die Suche nach mir gemacht? Warum denn?“

„Ich wollte unsere nette Unterhaltung von gestern fortsetzen und habe gehofft, dass Sie heute ein wenig mehr Zeit übrighaben. Wissen Sie, ich finde Sie sehr attraktiv und unterhalte mich gerne mit Ihnen.“ Heiko setzte ein strahlendes Lächeln auf.

Leila sah ihn erst erstaunt an, dann lachte sie verlegen. „Oh, das ist direkt. Aber danke fürs Kompliment.“

Ein paar Sekunden lang suchten beide etwas ungelenk nach einem neuen Gesprächsthema, dann fingen sie gleichzeitig zu sprechen an: „Was –“ „Wie –“

„Bitte, Sie zuerst“, gab Heiko den Gentleman.

„Was wollte denn Günther heute von Ihnen? Und Manfred gestern von Ihrer Begleitung?“

„Ich denke, es läuft auf dasselbe hinaus: Beide wollten meinen beruflichen Rat.“

„So? Was sind Sie denn von Beruf?“

Heiko räusperte sich. „Sagen wir mal so, ich habe meine Augen und Ohren sehr nah an den internationalen Börsen. Ich befasse mich mit allem, was mit Vermögensvermehrung zu tun hat oder mit der Finanzierung von Großprojekten. Finanzanlagen, wenn Sie verstehen?“

Laila nickte zögernd. „Das klingt interessant, aber kompliziert“, antwortete sie.

„Anscheinend ist es das, was Ihre Brüder interessiert. Genaueres wollen Manfred und Günther bei einem gemeinsamen Abendessen besprechen.“

„Aha. Auch mit der stattlichen Dame, die Sie begleitet?“ Laila sah ihn prüfend an.

„Ah, ja, das ist meine Geschäftspartnerin. Sie unterstützt mich gelegentlich bei der Kundenakquise.“ Heiko wurde etwas warm, aber er lächelte das aufflammende schlechte Gewissen weg. War es eine Lüge, wenn man nur ein paar Informationen wegließ? Annalena war ja gelegentlich auch seine Geschäftspartnerin.

Laila verzog keine Miene. „Meine Brüder scheinen ja wirklich von Ihnen und Ihren Diensten angetan zu sein“, bemerkte sie leichthin.

„Scheint so“, lachte Heiko herzhaft auf und schüttelte seine blonde Mähne. „Dabei kochen wir Finanzberater auch nur mit Wasser, wir lassen es so manches Mal nur etwas länger auf dem Herd. Von dem, was Günther – er ist der Küchenchef oder? – heute Morgen angedeutet hat, habe ich den Eindruck, dass sich Ihre Brüder viel mehr erwarten als ich zu leisten imstande bin. Zaubern kann ich auch nicht. Aber das werden wir ja sehen. Sie sind in die Finanzangelegenheiten des Hotels gar nicht eingebunden?“

„Nein.“ Laila nahm wieder ihr Buch zur Hand und tippte darauf. „Meine Interessen liegen auf ganz anderem Gebiet.“

„Gut, dass die Umwelt eine Fürsprecherin wie Sie hat. Dort ist Ihr Engagement sicher besser aufgehoben.“

„Da könnten Sie recht haben, Herr Springer.“ Laila lächelte verschmitzt und zwei kleine Grübchen erschienen auf ihren Wangen.

„Heiko, nennen Sie mich doch Heiko. Herr Springer – das ist viel zu förmlich.“

„Gerne, Heiko. Ich bin Laila. Aber das wissen Sie … das weißt du ja schon. Und ihr, deine Geschäftspartnerin und du, seid extra wegen unserer Festspiele angereist?“

„Ja, wir sind zum ersten Mal hier. Allerdings kein reines Privatvergnügen“, log Heiko zum zweiten Mal. „Wir treffen uns auch mit Geschäftspartnern. Bankmanager.“ Klang das plausibel genug, um Annalenas Hiersein zu erklären? Heiko hoffte es. „Ansonsten versuche ich, auch noch etwas von den kulturellen Besonderheiten der Region mitzubekommen“, wechselte er schnell das Thema. „Was gibt es denn außer dem Festspielhaus, der Eremitage und dem Neuen Schloss im Stadtzentrum sonst noch Sehenswertes in Bayreuth? Oder in der näheren Umgebung?“

„Nun ja, das Markgräfliche Opernhaus ist ja leider gerade geschlossen. Aber außerhalb der Stadt haben wir noch das Fichtelgebirge und die Fränkische Schweiz, zwei beeindruckende Naturlandschaften, die quasi direkt vor unserer Haustür liegen.“

„Fichtelgebirge sagt mir etwas, aber Fränkische Schweiz?“

„Oh, da gibt es Pottenstein mit der Teufelshöhle, die Basilika in Gößweinstein, das Felsendorf Tüchersfeld, die historische Dampfbahn von Ebermannstadt nach Behringersmühle“, zählte Laila auf, „um nur einige wenige Ausflugsziele zu nennen. Alles sehr malerisch.“

„Du machst mich neugierig“, forderte Heiko sie heraus. „Aber ob es so viel Spaß macht, da überall allein hinzufahren? Wahrscheinlich finde ich erst gar nicht hin.“

„Ein paar der schönsten Ecken kann ich dir gerne zeigen“, ging Laila auf das Spiel ein.

„Wann?“

„Wann hast du denn Zeit?“

„Na, heute habe ich Karten für Rheingold und morgen gibt es Die Walküre, aber dann habe ich zwei Tage Pause, bevor es mit Wagner weitergeht.“

Rheingold und Der Ring des Nibelungen“, warf Laila ein. „Ein ganz schöner Kraftakt, sich gleich alle vier Teile in einem Jahr anzusehen.“

„Du sagst es. Da tun die zwei Pausentage sicher gut. Und wenn du es noch einrichten könntest …“

„Also, wenn es da bei dir gut passt … übermorgen könnte ich schon“, schlug Laila vor. „Eigentlich hätte ich Dienst im Hotel, aber da müssen meine Brüder dann durch. Sie werden schon eine andere Aushilfe finden. Also, wenn du willst?“

„Perfekt!“ Heiko strahlte. „Und was schauen wir uns an?“

Laila legte den Kopf schief und zeigte ihre Grübchen. „Ich überleg mir etwas Schönes. Sportlich bist du ja, oder?“

„Auf jeden Fall.“

„Gut. Wann möchtest du losfahren?“

„Was meinst du? Gleich nach dem Frühstück? Wir könnten uns so gegen halb neun am Parkplatz treffen?“

„Das passt. Dann sag ich nur noch Günther Bescheid, dass er sich für übermorgen eine andere Küchenhilfe besorgen muss.“

„Ich freue mich.“

„Ich mich auch.“

*

Annalena kam erst am frühen Nachmittag von ihrem Ausflug in die Bayreuther Innenstadt zurück. Sie hatte kaum ein Geschäft in der Maximilianstraße und auf dem Hohenzollernring ausgelassen. Es machte ihr Spaß, allein zwischen den alten Bürgerhäusern und den vielen Bratwurstbuden herum zu flanieren, ab und zu auf einer Bank zu verweilen, die Architektur aus dem 16. und 17. Jahrhundert zu bewundern und dem lokalen Volkssport, dem Rudel-Glotzen, zu frönen. Im „Kochlöffel“ hatte sie sich zur Mittagszeit einen Burger gegönnt.

Zeit genug, um ihr derzeitiges Verhältnis zu Heiko gedanklich unter die Lupe zu nehmen, genau wie das offensichtliche Werben von Manfred um sie. Der Hotelmanager passte rein äußerlich gut zu ihr. Er hatte zwar nicht die athletische Figur, mit der Heiko gesegnet war, aber ansonsten … Heiko und diese Blondine. Alles hing davon ab, wie sich die Situation an dieser Front entwickeln würde. Sie kannte ihren Partner. Er würde nicht lockerlassen. Und diese Laila schien auch nicht abgeneigt zu sein. Wie erbärmlich Heikos Reaktion ausgefallen war, als sie ihn zur Rede gestellt hatte! Typisch für ihn. Erst mal alles abstreiten.

Annalenas Gedanken wanderten wieder zu Manfred zurück. War er wirklich eine Alternative? Der neue Mann an ihrer Seite? So ganz übergangslos? Abgeneigt war sie nicht. Natürlich würde sie sich etwas einschränken müssen, was das Finanzielle anging. Wahrscheinlich. Kaum jemand spielte mit Mitte 30 schon in Heikos Liga. Aber … neben ihm hier in Bayreuth, quasi als Hotelmanagerfrau? Sie verwarf den Gedanken. Zu verfrüht. Und dann stelle man sich nur mal vor: Sie mit Manfred und daneben Heiko mit Laila – alle gemeinsam im Hotel. Komplett absurde Situation. Sie musste lachen. Aber was, wenn … Wie sollte das gut gehen, wenn Heiko und Laila tatsächlich …? So querbeet in einer Familie? Nein, das würde nur ständigen Streit geben. Fehlte nur noch, dass sich die Zwillingsbrüder auch einmischten … Andererseits, wer sagte denn, dass Heiko diese Blondine nach ein paar Nächten nicht wieder loswerden würde? Und dann hatte sie mit Manfred das Feld für sich allein. Sie selbst war nun in einem Alter, das durchaus Stabilität vertragen konnte. Ob Manfred auch so dachte? Sie musste sich Klarheit verschaffen.

Ihr Taxi bog gerade in die Hotelauffahrt ein.

„Wir sind da“, verkündete der Taxifahrer von vorne.

Annalena öffnete den hinteren Wagenschlag und stieg aus.

„Vergessen Sie Ihre Einkaufstüten nicht“, rief ihr der Taxler nach, „es wäre doch schade!“ Er öffnete den Kofferraum von innen.

Da war die große Tüte von „Landhausmode Charivari“ mit dem neuen Dirndl. Dazu passten die Trachtenschuhe von „Schuh Mücke“. Die elegante Damenunterwäsche und die vier T-Shirts, die sie in einer der kleinen Boutiquen erstanden hatte, nahmen weniger Platz ein. Außerdem waren da noch Einkäufe von „Noa Noa“ und „Bonita“. Annalena sah sich hilfesuchend um.

Manfred war es, der aus der Hotelhalle stürzte. „Kann ich Ihnen helfen?“, bot er sich atemlos an.

Annalena lächelte und ließ die Wimpern klimpern.

„Zufällig war ich gerade in der Eingangshalle“, schwindelte er, „und da sehe ich Sie.“ Tatsächlich hatte er sich seit zwei Stunden hier herumgetrieben und auf die Rückkehr seiner Angebeteten gewartet. Günther hatte seinem älteren Bruder gesteckt, dass Heiko Springer wiederum ihm verraten habe, dass seine Partnerin heute zum Shoppen in die Stadt fahren würde. „Ich nehme Ihnen das alles gern ab. Möchten Sie erst mal eine Tasse Kaffee zu sich nehmen? Sie müssen doch erschöpft sein, bei der Hitze. Kommen Sie, ich lade Sie ein. Ein kleines Pläuschchen in Ehren kann niemand verwehren“, setzte er hinzu. Und ohne eine Antwort abzuwarten, lief er, beladen wie ein Packesel, bereits auf den Eingang und schnurstracks auf das Restaurant zu.

 

Annalena folgte mit schwingenden Hüften.

„Cappuccino, Espresso oder vielleicht lieber einen Tee – auch geeist?“, rief Manfred, nachdem er die Einkäufe in einer Ecke abgesetzt hatte. „Das lasse ich auf Ihre Suite bringen.“ Er winkte einen Kellner heran.

„Dann doch einen Cappuccino“, antwortete Annalena und war gespannt, wie sich der Nachmittag nun entwickeln würde.

Es dauerte kaum fünf Minuten, bis das Gespräch auf sie und ihren Suite-Mitbewohner kam. Sie erzählte ihm, was er hören wollte: dass sie geschäftlich mit Heiko liiert war und sich daraus auch gewisse persönliche Interessen ergeben hätten. Nein, von einem Verhältnis könne man da nicht sprechen, schon gar nicht von einem intimen. Man hätte sich mit der Zeit in einer lockeren Verbindung eingependelt, sei eben eng befreundet, wenn man tagtäglich zusammenarbeite. Dass man sich eine Suite teile, hätte mehr mit Kommunikation zu tun, mit dem vollkommen ungezwungenen Umgang miteinander und damit, dass man die Wagner-Festspiele gemeinsam besuche. Aber das läge rein am beidseitigen Interesse an dem Künstler und seinen monumentalen Werken.

„Ich möchte da keinen Verdacht aufkommen lassen, dass … Also ich möchte sichergehen“, erklärte Manfred, „keinen Keil in egal welche Beziehung meiner Gäste zu treiben.“ Deshalb habe er lieber vorher gefragt.

Dann schoss ihm die Röte ins Gesicht und er fing an, über die Zusammenstellung der Tageskarte zu philosophieren.

Annalena war klar, was er mit „vorher“ meinte, äußerte sich aber dazu nicht. Sie wollte den Dingen ihren Lauf lassen.

Als sie ihre Cappuccino-Tassen zum dritten Mal geleert hatten, waren sie per Du und Manfred konnte es sich nicht verwehren, Annalena ein kleines Küsschen auf die Wange zu setzen. Er war überglücklich.

Was er ihr nicht verriet, war seine kurze Begegnung mit Heiko Springer, etwa 30 Minuten bevor seine Traumfrau in der Auffahrt ihrem Taxi entstiegen war. Der Finanzberater war mit glasigen Augen und breitem Grinsen durch die Eingangshalle gewandelt und fast mit Manfred zusammengestoßen. Darauf hatte der sich vorgestellt, kurz den Wunsch geäußert, man könne sich in Sachen Anlageberatung doch näher kennenlernen, und war dann gleich auf sein Herzensthema gesprungen: Wie eng war das Band zwischen den Bewohnern der Siegfried-Suite? Ein lockeres Verhältnis oder hatten sie beide aus Versehen ihren Ehering zuhause vergessen? Springers Aussagen deckten sich mit dem, was Annalena berichtet hatte. Geschäftspartner. Manfred war so erleichtert, dass er über die vernebelten Sätze zu „sehr enger Freundschaft“ und „persönlichen Interessen“ gar nicht weiter nachdenken wollte.

*

Der Besagte war schon wieder auf der Suche nach Laila. Er hatte ihr ja gar nicht gesagt, welchen Wagen er fuhr! Ob sie ihn in zwei Tagen auf dem Parkplatz überhaupt finden würde? In Wahrheit wollte er sie einfach noch einmal sehen und mit ihr ein paar Worte wechseln. Er hatte schon jetzt Sehnsucht.

Als Heiko mit einer ergebnislosen Umrundung des Außenbereichs fertig war, konzentrierte er seine Kreise auf das Erdgeschoss des Hotels. War sie schon in der Küche und half beim Vorbereiten des Abendgeschäfts? Das konnte dauern. Oder machte Laila gerade Pause und saß wieder draußen auf ihrer Bank? Wo er doch gerade ins Haus hineingelaufen war? War sie gar nicht mehr im „Richard Wagner“?

Als der Mann vom Niederrhein ahnungslos in das Hotelrestaurant torkelte, dauerte es einige Sekunden, bis er Annalena registrierte. Was machte die denn hier?

Sie saß mit Manfred Kolb zusammen. Der Hotelmanager drückte ihr gerade einen Kuss auf die Wange. Sie schien damit sehr einverstanden zu sein.