Mörderisches Bayreuth

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Was sonst noch passierte
Am selben Tag

„Die Regenbogenforellen gehen zur Neige“, wusste Günther zu berichten, während er einen Dessertteller mit einigen eleganten Schokotropfen verzierte. „Wir müssen bald wieder zur Schottersmühle rausfahren und frische besorgen.“

Karl, der am liebsten direkt in der Küche zu Abend aß, nickte erfreut.

Die Zwillingsbrüder betrieben ein entspannendes Hobby: die Fliegenfischerei. In der Fränkischen Schweiz hatten sie bei der Schottersmühle ein Fischwasser gepachtet und verbanden so ihr Freizeitvergnügen mit dem beruflichen Alltag. Sämtliche Forellenzubereitungen auf der Speisekarte – ob geräuchert oder frisch gebraten, gesotten, blau serviert – stammten aus eigener Fischerei.

„Machen wir’s am Wochenende oder brauchen wir die Fische schon früher?“, fragte Karl.

„So brisant ist’s auch wieder nicht“, antwortete Günther. „Ich wollte nur darauf hinweisen, dass demnächst wieder ein Ausflug in die Fränkische ansteht.“ Er wusch seine Hände. „Was hältst du eigentlich von dieser Annalena Sturm, von der Manfred so schwärmt?“, fragte er seinen Bruder. „Das ging ja ganz flott mit der Annäherung.“

„Ich weiß nicht so recht“, meinte Karl, „Holz hat sie ja genug vor der Hütte, aber das Frauliche geht ihr trotzdem völlig ab. Unser Bruderherz scheint da einen besonderen Geschmack zu haben.“

„Sehe ich genauso“, amüsierte sich Günther. „Eine Frau wie ein Mann. Aber wo die Liebe hinfällt!“

„So schnell, wie das ging, ist sie nicht gefallen, sondern regelrecht abgestürzt. Wer hätte das von Manfred gedacht … Wie sieht es eigentlich mit den Bachforellen aus?“ Karl war gedanklich schon wieder beim Angeln.

„Da haben wir noch welche. Die dürften im Kühler noch knapp zwei Wochen ausreichen. Aber wenn wir zum Angeln rausfahren, nehmen wir einfach mit, was anbeißt. Am besten gehen wir’s doch schon unter der Woche an, wenn nicht so viel los ist.“

„Wollen wir Dieter auch mitnehmen?“

„Wenn er Zeit hat, kann er gerne mitkommen. Der nimmt doch die Fische so gern aus.“

„Ha! Zurzeit googelt der nur“, meinte Karl.

„Und was?“

„Finanzierungsmodelle, Investment-Sparpläne und alles, was das Netz über diesen Heiko Springer hergibt. Er sagt, er will vorbereitet sein – und dass er nicht will, dass wir auf einen Scharlatan hereinfallen, in unserer prekären Situation. Nicht, dass wir Geld verlieren, falls wir uns wirklich auf ihn einlassen. Du weißt doch, wie misstrauisch Dieter Fremden gegenüber ist. Und er weiß, dass Manfred in vielen Belangen viel zu gutgläubig ist.“

„Na, dann. Ist ja gut, wenn wenigstens einer was von dem ganzen Finanzkram versteht. Ist schließlich auch seine Aufgabe“, merkte Günther an.

„Hmm, ja.“ Karl steckte seinen leeren Teller in eine der Spülmaschinen. „Wie wär’s mit Donnerstag?“

„Okay, Donnerstag wird gefischt. Ich frag Dieter, ob er Zeit hat.“

Es geht los
Abend des 27. Juli

Annalena und Heiko hatten kaum miteinander gesprochen, als sie sich für „Rheingold“ ankleideten. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Rund 16 Stunden würden sie in den nächsten Tagen nebeneinander auf den harten Stühlen ohne Polster kleben. War es das wert? Ihr Verhältnis hatte sich deutlich abgekühlt. Annalena dachte an Manfred, Heiko an Laila. Füreinander hatten sie gerade wenig übrig.

Sie sollten sich gegenseitig besser nichts vormachen oder gar versuchen, ihre Beziehung zu kitten, fand Heiko. Annalena hatte ihm nichts von ihrem ausgedehnten Kaffeeplausch mit Manfred erzählt. Das brauchte sie auch nicht. Er hatte genug gesehen, um zu wissen, was Sache war. Und er kannte sie. Seine Antennen hatten sofort registriert, dass Annalena diesen Manfred nicht nur aus Rache so nah an sich heranließ. Heiko war sich sicher, dass der Geschäftsführer des Hotels bei ihr mehr als nur einen Stein im Brett hatte. Vielleicht gut so. Das verschaffte ihm selbst mehr Freiheit in seinen Bemühungen um Laila.

Dennoch würde die Konversation mit Annalena in den nächsten Tagen nicht einfacher werden. Heiko grauste vor den langen Pausen während der großen Opern. Jeweils zwei Unterbrechungen gab es bei der „Walküre“, bei „Siegfried“ und der „Götterdämmerung“ – und jede dauerte eine Stunde. Gott sei es gepriesen und gepfiffen, dass „Rheingold“ in einem Aufwasch in knapp zweieinhalb Stunden durchgespielt wurde. Was sollte er nur mit seiner Noch-Freundin bereden? Anschweigen war auch keine Option. Eigentlich.

Wortlos brachen sie auf und stiegen den kurzen Weg zum Grünen Hügel hinauf. Sie in ihrem langen schwarzen Kleid von Karl Lagerfeld mit dem mächtigen Ausschnitt, der kaum von einer leichten weißen Stola verdeckt wurde. Auch Heiko hatte sich edel gekleidet. Zu seinem zweireihigen Anzug – Slim Fit, hellgrau – trug er ein taubenblaues Hemd mit weißem Kragen und eine dunkelblaue Seidenkrawatte. Was ihr äußeres Erscheinungsbild anging waren beide erzkonservativ. Niemals würden sie eine festliche Veranstaltung in Jeans besuchen. Das gehörte sich einfach nicht.

Noch immer schweigend betraten sie den Vorplatz zum Festspielhaus. Es war schon mächtig was los auf dem Platz. Festlich gekleidete Paare lustwandelten zwischen den historischen Lampen und den Baumbepflanzungen auf der Ost- und Westseite des Baus. Sehen und gesehen werden. Das gehörte auch hier zum Spiel.

Mit ihren hochhackigen Pumps hatte Annalena Probleme, sich auf dem Granitpflaster zu bewegen. „Ich muss zur Toilette“, knurrte sie.

„Na, dann“, meinte Heiko und führte sie durch den Balkonsaal auf der Südseite in die Wandelhalle im Großen Haus. „Gleich rechts“, versuchte er hilfreich zu sein, „ich warte hier auf dich.“

An den langgezogenen Besuchergarderoben hielten sich nur wenige Gäste auf. Die meisten hatten keine Kleidung abzugeben, draußen war es sommerlich warm. Die Sonne flutete von außen durch die hohen Sprossenfenster und tauchte das Foyer und seine Besucher in ein zartes Lichtspiel – die Wandmalereien im neopompejanischen Stil leuchteten. Heiko sah sich um und nutzte die Zeit des Wartens, um sich zu orientieren. Parkett rechts, 3. Reihe, Sitze 14 und 15. „Ziemlich mittig“, erinnerte er sich. Den Sitzplan hatte er aber im Hotel gelassen.

Da kam Annalena wieder. Die bewundernden Blicke einiger umherstehender Herren begleiteten sie. Damen begutachteten sie weniger wohlwollend.

„Wir müssen zu Tür 1“, warf Heiko ihr mit zwanghaftem Lächeln entgegen. „Noch 15 Minuten. Lass uns schon reingehen.“

Sie folgte ihm wortlos auf dem Fuß.

Drinnen empfingen sie gleichmäßig ansteigende Sitzreihen. Etwa die Hälfte der Plätze waren bereits besetzt. Ein Raunen gedämpft quasselnder Menschen wälzte sich durch den Opernsaal. Diverse Instrumente meldeten sich aus dem rund 140 Quadratmeter großen abgedeckten Orchestergraben. Schwer hingen die roten Vorhänge vor der Bühne. Nirgends Plüsch und nur verhaltener Prunk mit wenigen Säulen und einer dezent geschmückten Decke. Zweckmäßigkeit herrschte vor. Die halbrunden Stuhlreihen füllten sich allmählich weiter.

„Entschuldigung!“ Heiko und Annalena zwangen bereits sitzende Besucher, sich von ihren Plätzen zu erheben, um sie passieren zu lassen.

Heiko ließ sich elegant auf seinen Sitz Nr. 15 gleiten und kam sich vor, als befände er sich in einem antiken Amphitheater. Annalena starrte regungslos auf die geschlossenen Vorhänge.

Nach schier quälend langen Minuten war es so weit: Der Saal hatte sich bis auf den letzten Platz gefüllt. Ausverkauft.

Im Orchestergraben stand Kirill Petrenko, der designierte Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Ihm wurde die diesjährige Ehre der musikalischen Inszenierung des „Rings“ zuteil. Alle Orchestermitglieder sahen konzentriert auf ihn und seinen graziös erhobenen Taktstock. Dann gab er das Zeichen zum Einsatz.

Präzise und temperamentvoll starteten die Musiker in ihre erste Szene. Plastische Energie belebte die Aufschwünge. Während Petrenko im Lauf des vierminütigen Vorspiels das Rauschen des Rheins intonierte, hielten sich auf der Bühne die drei Rheintöchter Woglinde, Floßhilde und Wellgunde für ihren Einsatz bereit. Sie bewachten den sagenhaften Goldschatz ihres Vaters im Rhein, der seinem Besitzer zu endloser Macht verhelfen sollte. Schon starteten sie ihre Gesänge mit leichtem Sopran. Klangreich und in der Höhe angespannt sprudelten ihre Stimmen in die Ohren des gespannten Publikums.

Der Zwerg Alberich vom Volk der Nibelungen erschien. Mit rauer, schallkräftiger Stimme erkämpfte er sich die Anerkennung des Auditoriums und entsagte der Liebe, nachdem er bei den Rheintöchtern rüde abgeblitzt war. Mit List und Heimtücke bemächtigte er sich des Schatzes.

Unterdessen hatten die Riesen Fasolt und Fafner die Götterburg Walhall fertiggestellt und warteten auf ihre Entlohnung. Wotan hatte ihnen die Göttin Freia, die das Geheimnis der ewigen Jugend hütete, zur Ehe versprochen. In empathischen Betonungen versuchte Wotan, die beiden Riesen davon zu überzeugen, dass es besser wäre, den Schatz im Rhein als Gegenleistung zu akzeptieren als auf Freia zu bestehen. Denn ohne Freia würden die Götter altern. Das durfte nicht geschehen. Zudem hatte auch Wotan ein Auge auf den Schatz geworfen und auf sein Herzstück, den Ring, der seinem Träger zur maßlosen Macht über die Welt verhilft.

Mit einer List wurde Alberich der Schatz entrissen und – zu Wotans Gram inklusive Ring – den beiden Riesen übergeben: Gierig erschlug Fafner seinen Bruder Fasolt und brachte den Ring an sich. Endlich konnten die Götter in Walhall einziehen. Drunten im Rhein beklagten die Rheintöchter immer noch den Verlust des gestohlenen Schatzes.

 

Heiko und Annalena waren regelrecht berauscht. Minutenlang spendeten sie dem Orchester und den Darstellern begeisterten Beifall.

Morgen würden sie wieder hier sitzen. Dann stand „Die Walküre“ auf dem Programm – wie „Rheingold“ auch in einer modernen Inszenierung von Frank Castorf. Ob der Stoff wieder mehr oder weniger elegant mit übertriebenen Bezügen zur heutigen Zeit und Gesellschaft aufbereitet werden würde? Wich der Regisseur da nicht zu sehr vom eigentlichen Gehalt des Werkes ab?

Nicht alle Besucher hatten sich mit dem modernen Kram anfreunden können. Es gab auch Buh-Rufe aus dem Publikum. Doch die vom Bühnenbild und -geschehen Enttäuschten konnten sich trösten: Zumindest die musikalische Leitung würde morgen wieder in den fähigen Händen von Kirill Petrenko liegen, den sie immer noch frenetisch beklatschten.

Siegfried
31. Juli

Das Drama um Siegmund, seine Zwillingsschwester Sieglinde und deren Mann Hunding in „Die Walküre“, war eine Steigerung zu „Rheingold“ gewesen. Annalena und Heiko hatten die Oper am Dienstag gesehen und ihre beidseitige Begeisterung hatte die tiefen Risse in ihrer Beziehung etwas in den Hintergrund treten lassen. Sie behandelten sich nun zumindest wieder mit einer Art distanzierter Höflichkeit.

Als Siegmund starb, weil Wotan dessen Schwert zerschlug und Hunding, Sieglindes Ehemann, ihn so besiegen konnte, hatte Annalena kurzfristig an die Rivalität zwischen Heiko und Manfred denken müssen. Aber konnte man überhaupt von Rivalität sprechen?

Es schien fast so, als würde Heiko sich gar nichts daraus machen, dass Manfred sie für sich zu gewinnen versuchte. Am Tag nach der „Walküre“ hatte er darauf bestanden, sich das fränkische Land anzusehen. Dabei hatten sie doch auch zuhause Natur genug. Sie hatte versucht, ihn im Hotel zu halten, hatte mit dem Wellnessbereich inklusive Sauna geworben und angedeutet, dass sie sicher nicht allein bleiben würde, wenn er ohne sie loszog. Er hatte ihr nur „viel Spaß“ gewünscht und war federnden Schrittes zur Tür hinausmarschiert.

Seit er von seinem ominösen Ausflug zurückgekommen war, hing er ständig an seinem Handy. Gestern Abend hatte Annalena ihn draußen im Biergarten überrascht, wie er gerade „Laila“ ins Telefon gesäuselt hatte.

„Rivalität, so ein Quatsch“, gestand sie sich ein. Im wirklichen Leben gab es keine Götter, Walküren, oder Könige namens Hunding, die um einen geheimnisvollen Schatz und die Liebe einer Frau stritten. Die verfahrene Beziehungssituation bedurfte einer Klärung.

Annalena nahm sich vor, Heiko zur Rede zu stellen. Heute Abend wurde „Siegfried“ gegeben, da konnte er ihr nicht mehr aus dem Weg gehen. In den langen Pausen würden sie genug Zeit haben, um über die unschöne Angelegenheit zu sprechen.

*

Auch ein anderer Festspielbesucher, ein eingefleischter Bayreuther, bereitete sich gemeinsam mit seiner Frau Gisela auf den „Siegfried“-Besuch vor. Natürlich kannte er den Grünen Hügel und das Festspielhaus. Er war auch schon drinnen gewesen – im Rahmen einer Führung. Allerdings noch nie zur Festspielzeit. Die hohen Eintrittspreise waren ihm die Sache nicht wert gewesen. Und selbst wenn, man musste erst einmal an Eintrittskarten kommen. Dass er nun im Besitz von zwei solcher Billetts für den „Siegfried“ war, hatte er seinem obersten Chef, dem Polizeipräsidenten von Oberfranken, zu verdanken: Hauptkommissar Benno Behringer hatte am 1. Juli sein 40-jähriges Dienstjubiläum gefeiert. Noch zwei Jahre, dann ging es in den wohlverdienten Ruhestand.

Seine Kollegen und Kolleginnen vom Kommissariat hatten zusammengelegt und der Polizeipräsident hatte seine Beziehungen spielen lassen, um an die Wagner-Karten zu kommen. Den Rest des Geldes, der noch fehlte, hatte er außerdem draufgelegt. So kam es, dass „BB“, wie sie ihn alle nannten, heute knapp vier Stunden Wagner genießen durfte.

Behringer war beileibe kein Wagnerfan. Ein Opernfreund schon gar nicht. Viel mehr interessierte ihn das mittelhochdeutsche Nibelungenlied, die alte, im germanischen und skandinavischen Raum weitverbreitete Heldensage. Schon zu Schulzeiten hatte sich BB für dieses Epos begeistert, worin es – historisch gesehen – um die Zerschlagung des burgundischen Machtbereichs durch den weströmischen Heerführer Flavius Aetius unter Mithilfe hunnischer Hilfstruppen ging. Richard Wagner hatte auf dem Stoff sein Hauptwerk „Der Ring des Nibelungen“ aufgebaut, von 1848 bis 1874 schrieb er die Texte und komponierte vor allem die Musik. Allerdings hatte er in seinem vierteiligen Opernzyklus viele Charaktere und Motive abgeändert. Behringer interessierte sich hauptsächlich dafür, an welchen Stellen Wagner seiner Fantasie freien Lauf gelassen und vom Original abgewichen war. Was der berühmte Mann wohl aus seinem Nibelungenlied gemacht hatte?

Nein, Opern an sich lagen dem Hauptkommissar nicht. Man verstand ja nicht einmal die Texte, wenn sich die Sänger und Sängerinnen in ihrer Kunst ergossen und Oktaven und Terzen rauf und runter jodelten. BB hatte sich aber vorgenommen, wenigstens die Atmosphäre dieser Kultveranstaltung ein einziges Mal ausgiebig zu inhalieren. Einmal dabei zu sein, bei den Bayreuther Festspielen!

Nun war es so weit und beim Binden seiner Krawatte stellte Behringer fest, dass er sich wirklich auf die Vorstellung freute. Natürlich hatte er sich auf die Handlung von Wagners Oper vorbereitet. Wenn er schon den Text nicht verstand, wollte er wenigsten wissen, was warum auf der Bühne passierte. Er hatte sich im Internet informiert und in die Handlung des „Rheingolds“ und der „Walküre“ eingelesen. Er wusste, dass Sieglinde, die Tochter Wotans, von ihrem Zwillingsbruder Siegmund schwanger war und dass Wotan, der inzestuösen Geschwisterliebe wegen, in furchtbarer Wut Siegmunds Schwert Nothung zerschlagen hatte. Dass Brünhilde, eine der neun Walküren, der schwangeren Sieglinde zu Hilfe geeilt war und diese samt dem zerbrochenen Schwert im Fafnerwald versteckt hatte, war so eine verrückte Idee Wagners, die mit dem wahren Nibelungenlied absolut nichts zu tun hatte. Ganz schön daneben, fand Behringer, aber seine Erwartungshaltung näherte sich trotzdem einer hochprozentigen Neugierde.

Heute Abend erwartete ihn die Fortsetzung des Dramas: mit einem immer noch vor Wut tobenden Wotan und dem Zwerg Mime, Bruder von Alberich, der Sieglinde im Fafnerwald finden und sie und die Reste des zerschlagenen Schwerts in seiner Höhle verstecken würde. Sieglinde würde die Geburt ihres Sohnes Siegfried nicht überstehen, sodass dieser allein bei Mime heranwachsen müsste. Die Götter würden zwischenzeitlich durch einen simplen Trick den Zwerg Alberich um den Goldschatz erleichtern und damit die Riesen bezahlen, die die Götterburg Walhall errichtet hatten. Aus Furcht, den Schatz wieder zu verlieren, würde sich der Riese Fafner in einen fürchterlichen Drachen verwandeln und den Hort bewachen. Doch der herangewachsene furchtlose Siegfried, dem es gelingen würde, aus Nothung ein neues Schwert zu schmieden, wäre schon zur Stelle, um den Drachen zu töten und in seinem Blut zu baden. Ein Waldvögelchen würde ihm darauf raten, aus dem Schatz eine Tarnkappe und den berühmten, alle Macht der Welt verleihenden – aber auch verfluchten – Ring an sich zu nehmen und sich zum Walkürefelsen zu begeben, wo Siegfried auf die in einem Feuerschweif schlafende Brünhilde treffen würde.

„Ein schöner Schmarrn, der dem Wagner da eingefallen ist“, stellte Behringer erneut fest. „Mal sehen, was der Castorf als Intendant draus macht.“

Hätte Behringer das im Vorhinein gewusst, hätte er seine Eintrittskarten wahrscheinlich zerrissen. So war er nur ziemlich skeptisch, denn was er da im Netz über den Regisseur gelesen hatte, machte ihm nicht gerade Mut. Zum 700-Jahr-Nationaljubiläum der Schweiz hatte der ehemalige Intendant der Volksbühne Berlin „Wilhelm Tell“ inszeniert und dabei den Alpenstaat auf der Bühne mit der DDR gleichgesetzt. Einen Monat nach der Premiere der Ruhrfestspiele war er schon entlassen worden, weil die Besucherzahlen dramatisch eingebrochen waren.

„Wenn jemand hauptsächlich postdramatisches Theater macht, kann das ja eigentlich nichts werden. Beim Wagner“, brummte Behringer.

Dass Castorf sich bei der Inszenierung des „Siegfried“ selbst übertreffen würde, konnte der Hauptkommissar noch nicht ahnen.

„Wer hätt etz dees denkt, dass wir zwaa auf unsre altn Tooch nomal zu die Wagnerfestspiele gänga?“, schwärmte seine Frau schon seit Tagen. „Dees hätt i fei net glabt, dass wir do nomal hiekumma.“

Mit Gisela, die ihm eine Tochter und einen Sohn geschenkt hatte, war Benno Behringer sage und schreibe 37 Jahre verheiratet. Seit den frühen Morgenstunden war sie heute auf den Beinen, bügelte ihre festlichen Kleider auf und polierte Schuhe auf Hochglanz.

BB selbst hatte sich den Tag freigenommen und sich mittlerweile ordentlich in Schale geworfen. Obwohl er keine Krawatten und Anzüge mochte, hatte Gisela auf einem dunkelblauen Blazer und einem weißen Hemd mit dunkelroter Krawatte bestanden. Selbst goldene Manschettenknöpfe hatte sie ihm heimlich gekauft.

„Die wern etz aa ozugn“, meinte sie energisch, als er zu protestieren versuchte. „Da hast du scho was fier dein Abschied, wennsd in zwaa Joahr in Pension gehst. Die Jaggn und die Husn haltn di bis dorthin scho no aus. Derfst halt net no digger wern.“

Da hatte Gisela einen wunden Punkt getroffen. Benno war nicht gerade ein Hüne, mit einem Meter 60 gerade mal zwei Zentimeter größer als sie. Wenn sie Schuhe mit Absätzen trug, überragte sie ihn sogar. Das konnte er gar nicht leiden. Und er hatte noch einen Schwachpunkt: Er liebte die deftige fränkische Küche. Braten jeglicher Art standen bei ihm ganz oben auf der Wunschliste, am liebsten mit einer sämigen, dicken Rahmsoße, dazu rohe Klöße, böhmische Knödel oder Mehlklöße. Saftige Rinderrouladen, gern im Riesenformat, waren auch nicht zu verachten. Salate dagegen, am besten noch mit einem leichten Joghurt-Dressing, waren nicht so sein Ding. Wenn schon Grünzeug, dann höchstens fränkischer Endivien- oder Feldsalat mit einer kräftigen Öl- und Essigwürze und einer gehörigen Portion geräuchertem, ausgelassenem Speck. Ansonsten ließ Benno unter der Bezeichnung „Salat“ auf seinem Teller nur den Kartoffelsalat zu – serviert mit fränkischen Bratwürsten oder einem gebackenen Karpfen. Höchstenfalls Spargelsalat kam für ihn noch infrage, garniert mit fünf dicken Scheiben Kochschinken, die in einer Buttersoße herausgebacken worden waren. Auch Baggers, die fränkischen Reibekuchen frisch aus der Pfanne, akzeptierte er als Beilage. Zum Beispiel zu einer dicken, fülligen Kartoffelsuppe. Grünkohl und alle damit verwandten Gerichte, die man vor allem im Norden Deutschlands schätzte, waren für BB ein Fremdwort. In der Bier-Erlebnis-Welt der örtlichen Brauerei Maisel kannte er sich ebenfalls bestens aus. Am liebsten trank er in seiner Freizeit die Maisel’s Weisse, gerade jetzt während der schönen Sommertage.

Tja, sein fast immerwährender Appetit machte Benno nicht schlanker. In seinem Äußeren ähnelte BB einem abgebundenen Kartoffelsack, nur ein paar Kilo schwerer. Ihm fehlte lediglich die Schnur um den Hals. Zusammen mit seinem zuweilen leicht erregbaren Gemüt hatte ihm das im Kommissariat zwei weitere Spitznamen eingebracht: „Kugelblitz“ und „Rumpelstilzchen“. Denn sich wie ein Kugelblitz oder – weniger schmeichelhaft – ein zornigaufgeregter Zwerg zu benehmen, das konnte er hervorragend. Vor allem, wenn er sich ärgerte und nahe daran war, aus der Haut zu fahren, machten seine Mitarbeiter einen weiten Bogen um ihn herum. Das kam glücklicherweise nicht mehr allzu oft vor. Je älter und reifer Behringer geworden war, desto mehr hatten Ruhe und Besonnenheit sein aufbrausendes Temperament gezügelt. Als ausgesprochener Fan des 1. FC Nürnberg war Behringer außerdem einen gewissen Leidensdruck gewöhnt und konnte hin und wieder am Spielfeldrand Dampf ablassen. Die Fußballmannschaft war letztmalig 1968 deutscher Meister geworden, nur um im Folgejahr in die 2. Bundesliga abzusteigen. Auch die letzte Saison war der „Glubb“ nur im Mittelfeld der Abschlusstabelle herumgekrebst.

Behringers Haupt hatte im Lauf der letzten Jahre eine Glatze erobert. Gisela nahm das zum Anlass für liebevolle Spötteleien, aber BB selbst fand sich damit eigentlich ganz schick. Er hatte den perfekt runden Hinterkopf für seine neue „Frisur“, passend zur restlichen Figur.

„Gisela, wie schaut’s aus? Bist du fertig? Können wir fahren? Es wird langsam Zeit!“

„Drängl doch net so!“, erhielt er aus dem Badezimmer zur Antwort. „Ich muss mi bloß no kämma.“

 

„Diese Weiber“, schimpfte Benno, „kommen einfach nicht vom Spiegel weg. Lass dir doch auch eine Glatze rasieren, dann sparst du Zeit und Haarspray!“, riet er seiner Frau durch die halb offene Badezimmertür. „Die Parkplätze am Grünen Hügel sind immer so schnell belegt und ich hab keine Lust, da eine halbe Stunde rumzugurken, nur um unsre Karre abzustellen.“

„Ich kumm ja scho, alte Nervnsäch.“

*

Heiko und Annalena kamen fast gleichzeitig mit den Behringers am Festspielhaus an. Alle vier drängten sich in die überfüllte Wandelhalle. Das Paar vom Niederrhein kannte sich mittlerweile bestens aus. Parkett rechts, 3. Reihe, Sitz 14 und 15. Ihre angestammten Plätze. Die großen und kleinen Foyers waren von Menschen übersät. Zeitweise herrschte ein kaum mehr zivilisiertes Gedränge, insbesondere an den Getränkeausgabestellen.

Heiko hatte etwa eine Viertelstunde in einer der Schlangen gestanden und war seinem Ziel schon recht nahe, als ihm ein Malheur passierte: Von hinten schoben immer mehr Leute nach, vorne dauerte es Ewigkeiten. Unmutsrufe wurden laut, weil nichts wirklich voranging.

In einer Parallelreihe bemühte sich auch Behringer um zwei Gläschen Sekt.

Wie es genau kam, konnte hinterher niemand mehr nachvollziehen. Irgendjemand hatte seiner Ungeduld körperlichen Ausdruck verliehen, und zwar heftigst. Der Anfangsschubser setzte sich wie eine Tsunamiwelle nach vorne fort. Menschen, die anstanden, wurden auf ihren Vordermann geschoben, gerieten ins Taumeln, stiegen sich auf die Füße. Auch Heiko wurde überrascht und nach vorne gestoßen. Vor ihm stand wiederum ein grauhaariger, runder Zwerg im festlichen Smoking, der gerade bezahlt hatte und drei volle Sektkelche in seinen Wurstfingern jonglierte. Übereilig wollte er der hinter ihm schwankenden Menschenschlange entkommen. Fast hätte er es geschafft, doch dann stolperte ihm Heiko in den Rücken.

Die Schwalbenschwänze des Zwergs flatterten, der Sekt schwappte über und der kleine, runde Dicke ging wie in Zeitlupe zu Boden. Schon klirrten Scherben.

Die Menge verharrte und sah auf den zappelnden Zwerg, der verzweifelt versuchte, sich wieder aufzurappeln. In seinen Händen hielt er drei kaputte Stiele, denen die Glastulpen fehlten. Wie ein fetter Mistkäfer lag er auf dem Rücken und zappelte mit Armen und Beinen in der Luft herum. Sein Gesicht war eine einzige wütende Grimasse. Dann schmiss er mit Elan die drei Glasstiele den Scherben seiner Sekttulpen hinterher, kam endlich wieder auf die Füße und ging mit hochrotem Kopf in Kampfstellung.

Heiko sah sich plötzlich den geballten Fäusten des kugeligen Herrn gegenüber und wusste nicht, ob er lachen oder einen beschämten Kratzbuckel machen sollte. Er entschied sich für eine Entschuldigung.

Den grauen Zwerg in Boxerpose schien die muskulöse Erscheinung des blondgelockten jungen Manns hinter ihm nicht einzuschüchtern. Der überragte den Kleinen um mehr als Haupteslänge und bat zum wiederholten Male um Verzeihung.

Als der Zwerg lospolterte, hörte Behringer, der die ganze Szene ebenso aufmerksam wie amüsiert beobachtet hatte, einen astreinen mittelfränkischen Dialekt, wie man ihn in der Gegend um Erlangen sprach. Der Kleine – etwa seine Größe, aber noch wesentlich fülliger – gebärdete sich wie ein spanischer Kampfstier, schnaubte, spuckte und bedrohte noch immer mit erhobenen Fäusten den athletisch gebauten Mann hinter ihm: „Edz schau abber, dass di rollsd, du Bobblschnalzer. Sunsd hau i der a Schelln runder, dassd mansd die Kieh schelln mit ihre Gloggn am Berch! Kannsd ned aufbassn, wusd hiesabbsd, alder Rodzbobbl? Wersd mer scho so a Breißnzibfl sei, maan i!“

„Entschuldigung, ich kann nichts dafür“, meinte der so Bedrohte und Beschimpfte gutmütig, „man hat mich von hinten gestoßen.“

„So, vo hindn gschdoßn? Dees könnd a jeder Debb behaubdn!“, ließ der Mittelfranke noch immer seiner Wut freien Lauf und tänzelte wie ein Gummiball um den kräftigen Hünen herum. „Was wolld ihr Breißn eigendli do bei uns in Franggn? Abber sei froh, dassd ka Bayernsau ned bisd, sunsd hädder der die Goschn scho längsd bolierd. Und edz roll di, Saubreiß, elendicher!“

Heiko hatte kein einziges Wort verstanden. Er konnte noch nicht einmal die Sprache des Zwergs identifizieren. Nicht, dass er sich durch den Wicht bedroht gefühlt hätte, aber dennoch war es ihm peinlich, den kleinen Runden zu Fall gebracht zu haben.

Behringer schmunzelte. „Popelschnalzer“ – ein fränkisches Schimpfwort, das selbst der Hauptkommissar zum ersten Mal gehört hatte.

Mit dem ganzen Theater hätte er fast seinen Einsatz an der Bar verpasst. Er war an die Spitze seiner Schlange vorgerückt und an der Reihe, bezahlte ein Vermögen für zwei winzige Sektpfützen und suchte dann seine Gisela in der wogenden Menschenmenge.

Der bedrohte blonde Jüngling, der rein äußerlich einen eindrucksvollen Siegfried abgegeben hätte, stand nun neben einer stattlichen Frau etwa gleichen Alters mit extrem fülliger Oberweite und berichtete offenbar von seinem Missgeschick.

Bevor Behringer auch seiner Gisela vom Aufruhr an der Bar erzählen konnte, ertönten die Fanfaren der sogenannten Pausenmusiker vom Balkon des Festspielhauses. Das Zeichen, dass die Inszenierung in einer Viertelstunde beginnen würde. Unruhe kam in die Menge. Einige der Gäste leerten ihre Gläser auf einen Zug. Damen kramten Eintrittskarten aus ihren Handtaschen hervor, um sich zum wiederholten Male zu vergewissern, wo genau sie gleich sitzen würden. Raucher eilten schnell noch einmal ins Freie, um für die nächsten zwei Stunden auf Vorrat ein paar Schnapper an ihren Glimmstängeln zu genießen.

*

Noch vor dem Ende des dritten Akts stürzte Behringer wie von Furien gejagt aus dem Festspielhaus. „Bloß weg hier!“, hechelte er höchst verärgert.

„Etz wart halt!“, rief ihm Gisela außer Atem hinterher und eilte ihrem Mann nach.

Eigentlich hatte Benno schon nach dem zweiten Akt den Ort des Schreckens schnellstens verlassen wollen. „Dees werd bestimmt no besser“, hatte Gisela gemeint und ihm so lange gut zugeredet, bis er auch nach der zweiten Pause wieder Platz genommen hatte. Aber nichts war besser geworden. Als die Kulisse zuletzt den Berliner Alexanderplatz und damit die „marxistische Vielfalt“ verkörpert hatte und aus der Tiefe der Bühne schwanzwedelnde, lebensgroße Krokodile gekrochen waren und eines dieser Monster das Waldvögelchen, das dort auf den Strich gegangen war, aufgefressen hatte, war für BB die Schmerzgrenze überschritten gewesen.

„Wie kann man den Schatz der Nibelungen nur mit Rohöl und Benzin symbolisieren wollen? Und den Riesen Fafner mit einer Kalaschnikow erledigen?“, rief er jetzt immer wieder im Wegrennen. „Was hat das mit der Nibelungensage zu tun?! Eine Schande! Eine Schande ist das, was der Regisseur da inszeniert hat!“ Wie Tarzan im Unterhemd sprang der Hauptkommissar auf dem Vorplatz des Festspielhauses herum und ließ jeden Besucher, der ebenfalls die vorzeitige Flucht nach draußen ergriffen hatte, wissen, was er von dieser lächerlichen Inszenierung hielt. Nämlich nichts, rein gar nichts.

„Aus dem Helden hat er einen Soziopathen gemacht“, steigerte er sich in seiner Rage. „Siegfried – ein Terrorist, der mit einer Kalaschnikow um sich ballert!“

„Etz beruhich di hald widder“, versuchte es Gisela vergeblich, „bevorsd mer an Herzkaschber grigsd. Abber die Musigg war doch schee“, bemühte sie sich, dem Ganzen etwas Positives abzugewinnen, „und die Bühnabilder aa.“

„Schee, schee“, äffte ihr Mann sie nach. „Was hilft’s mir, wenn die Bühnenbilder nicht zum Nibelungenlied passen?!“

„Du und dei Nibelungenlied“, wiegelte Gisela ab.

Benno schnaufte tief durch. „Das ärgert mich eben, wenn Mime Nothung in einem Steinbruch schmiedet, aus dem mich die überdimensionalen Visagen von Marx, Stalin, Mao und Lenin anglotzen. Den Siegfried hat er zu einer gescheiterten Großstadtexistenz herabgestuft!“ Er warf die Arme in die Luft und stiefelte dann los Richtung Parkplatz. „Auf jetzt“, drängte er seine Frau, „weg von hier, bevor ich meinen eigenen Mord an dem Regisseur aufklären muss! Da soll einer verstehen, warum jedes Jahr eine halbe Million Menschen die Festspiele sehen wollen. Schade um Zeit und Geld.“