Das Ketzerweib

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Anna Jacob wusste nicht mehr, wie lange sie schon in ihrem elenden Loch im Bergfried von Schloss Trachselwald lag. Sie hatte jedes Gefühl für die Zeit, die sich im Kreis zu drehen schien, verloren. Lediglich das Dämmerlicht, das durch das kleine vergitterte Fensterlein in ihre furchtbare Einsamkeit drang, und die Dunkelheit zeigten ihr den Wechsel von Tag und Nacht an.

Sie wurde nicht verhört, weder vom Landvogt noch von seinem Stellvertreter. Vielleicht sollte sie an diesem Unort verrotten. Das einzige Zeichen, dass man sie nicht vergessen hatte, war die Hand der Wärterin, die ihr am Morgen einen Krug mit Wasser und einen kleinen Laib Brot durch eine schmale Öffnung in der Türe des Verlieses schob. Später trat Beth Wüthrich in die Zelle, um den Kübel, in den Anna ihre Notdurft verrichtete, zu leeren. Aber sie sprach nicht mit ihr. Auch wenn die Gefangene sie anflehte, ihr wenigstens zu sagen, wie es ihren Kindern ging, die sie auf dem Auenhof zurückgelassen hatte, blieb sie stumm.

Die Auflehnung, die sie zu Beginn ihrer Kerkerhaft schreiend gegen die Türe aus Eichenholz hatte schlagen lassen, war einer dumpfen Verzweiflung gewichen. Anna weinte jetzt oft. Sie litt unter dem Gestank und dem Ungeziefer. Der Hunger machte sie schwach. Manchmal versank sie in einen leichten Dämmerschlaf, aus dem sie wieder hochschreckte, wenn eine Ratte, die den Weg in ihr Verlies gefunden hatte, an ihrem von der Eisenschelle blutig gescheuerten Knöchel schnupperte. Der einzige Trost, der ihr blieb, war die Rückschau auf die zehn Jahre zwischen ihrer Hochzeit mit Ueli und der Geburt ihres Jüngsten, des inzwischen sechsjährigen Daniel.

In ihrer Erinnerung wurde diese Zeit zu einem einzigen Lobgesang auf das Leben, auf das Bauernjahr mit seiner Aussaat, Reife und Ernte, auf den Wechsel von Regen und Sonnenschein, auf den Sommerwind, der einem zärtlich das Haar zerzauste, auf das kühle Wasser aus dem Brunnen, das man nach einem heissen Augusttag auf dem Feld über Nacken und Rücken rinnen liess, auf die nebligen Morgen im September, durch die siegreich die Sonne brach, auf den Westwind, der im November schwere Regenwolken vor sich hertrieb, auf den ersten Frost und auf den Schnee, unter dem die Wintersaat geduldig auf das Frühjahr wartete.

In all diesen Jahren wurden die Menschen auf dem Auenhof von der mütterlichen Erde mit der Fülle ihrer Gaben beschenkt. Nahrung war für alle da, für Meistersleute, Mägde, Knechte, Tagelöhner. Auch für Bettler und Landstreicher stand immer ein Teller Suppe bereit, denn was man den Armen gab, das gab man dem lieben Gott.

Zu Johanni trieb man das Vieh auf die Lüderenalp, von wo aus man einen überwältigenden Blick auf die mit ewigem Schnee und Eis bedeckten Alpen hatte, die von der Grösse des Schöpfers kündeten. Und während der Senn und seine Leute, denen die Bauern ihre Herden anvertrauten, in den Sommermonaten die Milch verarbeiteten und zu Michaelis mit grossen Laiben Hartkäse zurückkehrten, brachte man auf dem Auenhof die Heu-, später die Getreide- und schliesslich die Obsternte ein. Was man nicht selber brauchte, wurde auf dem Markt in Langnau oder in Bern verkauft.

Auch im Winter, wenn das Vieh wieder im Stall stand und der Speicher bis unters Dach gefüllt war, gab es genug zu tun. Zusammen mit den Knechten drosch Ueli das Getreide oder schlug Holz im Wald. Anna und die Mägde sassen am Spinnrad, sie flochten aus Weidenruten Körbe und banden Besen, während Margrit in ihrer Kammer stickte und auf den kleinen Hannes aufpasste, der eben erst laufen gelernt hatte.

Meistersleute und Gesinde auf dem Auenhof waren eine grosse Gemeinschaft. Man sass zusammen am Tisch und feierte miteinander die Feste im Ablauf des Jahres. Hansjakob, der Grossknecht, gehörte als Verwandter ohnehin zur Familie. Er würde den Auenhof kaum verlassen. Anders der Melker, der Karrer und die beiden Mägde. Mit ihnen schloss man jeweils auf Neujahr für weitere zwölf Monate einen Vertrag ab. Manchmal wollten sie ihn nicht mehr erneuern. Sie zogen einen Hof weiter, wurden Pächter oder heirateten wie Therese. Ihre Stelle übernahm Annas jüngere Schwester Lisa. Sie wollte nicht dem jüngsten Bruder als Magd dienen, der nach dem Tod des Vaters den Waldhof in Ramsei bewirtschaftete. Lisa, die ein sonniges Gemüt hatte, brachte Leben und Fröhlichkeit mit. Sie war allseits beliebt. Ueli lud sie ein, an den abendlichen Lesungen teilzunehmen. Nachdem sie ein- oder zweimal dabei gewesen war, kam sie aber nicht mehr. Das sei nichts für sie, befand sie. Es genüge, wenn sie sonntags in die Predigt gehe.

Ihr Mann und seine Schwester, fand Anna, waren gebildete Menschen. Sie besassen ein halbes Dutzend Bücher, die in Margrits Kammer aufbewahrt wurden. Eines davon hiess «Pflantz-Gart». Geschrieben hatte es Daniel Rhagor, der vor einem halben Jahrhundert Landvogt in Gottstatt am Bielersee gewesen war. Während ihn die Ausführungen des Autors zum Rebbau kaum interessierten, blätterte Ueli immer wieder in den Kapiteln über Gemüse und Obst. Hinter dem Haus zog man für den Eigenbedarf Kohl, Rüben, Hülsenfrüchte, Lauch, Zwiebeln und mehr. Seit ihrer Heirat kümmerte sich Anna um diesen Garten. Manchmal las Ueli ihr vor, wie man im Jahreslauf für die Pflanzen sorgen sollte.

«Weshalb lässt du sie nicht selber lesen?», fragte Margrit, ohne den gesenkten Blick vom Stickrahmen zu heben.

«Ja, weshalb eigentlich nicht?» Die Geschwister schauten Anna fragend an.

Sie hob abwehrend die Hände. «Ich kann nicht gut lesen.»

Natürlich hatte Anna in Sumiswald die Schule besucht. Wie alle Kinder in der Berner Landschaft war sie vom Dorflehrer, der nebenbei eine Schusterwerkstatt betrieb, in den Wintermonaten unterrichtet worden. Mit Hilfe der Rute hatte der schlecht besoldete Mann seinen Zöglingen die Buchstaben und Zahlen eingebläut, später dann den Heidelberger Katechismus. Anna hatte oft gefehlt. Gründe dafür gab es mehr als genug: Als Älteste musste sie der Mutter im Haushalt helfen und hatte die kleineren Geschwister zu beaufsichtigen. Manchmal, wenn der Schnee zu hoch lag oder im Vorfrühling die Grüene über die Ufer trat, war für sie der Weg vom Waldhof am Ramseiberg nach Sumiswald nicht zu schaffen. Ab und zu hatte sie schlicht geschwänzt. So war es gekommen, dass sie Gedrucktes nur mühsam, Handschriftliches gar nicht lesen konnte.

«Wer nicht lesen kann», sagte Margrit und schaute sie an, «kann die Wahrheit nicht selber erkennen. Er muss sich auf das verlassen, was andere sagen, und er weiss nie, ob das auch wahr ist oder nicht.»

«Aber ich vertraue euch doch!»

«Vielleicht kommt einmal die Zeit, wo du allein hier auf dem Hof bist», die Schwägerin ging nicht auf Annas Einwand ein, «dann wirst du froh sein, wenn du in der Schrift deinen Trost findest. Wir beginnen gleich heute damit, dein Wissen aufzufrischen.» Sie griff nach der Froschauer-Bibel und schlug das 5. Kapitel des Matthäusevangeliums auf. «Lies!»

Anna wollte widersprechen, aber Ueli nickte ihr aufmunternd zu. Und so entzifferte sie stotternd die ersten Sätze der Bergpredigt: «Da er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm …» Schweisstropfen standen auf ihrer Stirn, während ihr Zeigefinger den Buchstaben folgte. Sie kämpfte mit einzelnen Wörtern, verhedderte sich. Schliesslich verstummte sie. «Ich kann das nicht», schluchzte sie.

«Natürlich kannst du es», die Schwägerin streichelte ihre Hand. «Von heute an wirst du jeden Abend einen Abschnitt aus der Schrift lesen. Du wirst sehen, bald wird dir der Text nicht nur fliessend über die Lippen gehen, du wirst ihn auch ebenso gut auslegen können wie der Prädikant.»

Ueli sog hörbar Luft ein. «Margrit!», sagte er mahnend.

«Vielleicht noch besser als der Prädikant, der nur den Gnädigen Herren nach dem Mund redet», sagte seine Schwester und starrte ihn herausfordernd an.

«Ich will nicht, dass du ihr Flausen in den Kopf setzt.» Anna erschrak. Ihr Mann hatte, was ungewöhnlich für ihn war, die Stimme erhoben und schien zornig zu sein.

Die Jahre zwischen 1677 bis 1687, die Anna mit Ueli Jacob auf dem Auenhof verbringen durfte, waren eine gute Zeit. Man hatte weder über zu lange Winter noch zu trockene Sommer zu klagen. Mensch und Vieh blieben vor grossen Seuchen ebenso verschont wie vor Hunger und vor Krieg. Auch vor Wassernot und Feuersbrünsten, den Geiseln des Emmentals, blieb man bewahrt. Nicht dass es keine Schicksalsschläge gegeben hätte. In diesem Jahrzehnt hielt der Tod dreimal bei ihnen Einkehr. Aber das gehörte zum Leben. Alles in allem war es, als gönne der Himmel dem Paar vor der grossen Heimsuchung, die ihr gemeinsames Leben zerstören sollte, eine Atempause.

Uelis Schwester war die Erste, die der Tod mit sich nahm. So traurig es auch war, dass sie von ihnen ging, Anna hatte ihr Sterben erwartet. Margrit hatte es ja bereits am Tag ihrer Hochzeit angekündigt. Sie durfte noch erleben, dass die junge Schwägerin anfangs November 1678 ein zweites Kind, Ursula, zur Welt brachte. Man stellte tagsüber die Wiege mit dem kleinen Menschlein neben ihren Sessel. Und während der einjährige Hannes schwankend und mit unsicheren Schrittchen die Kammer seiner Tante erkundete, hielt sie das Geschöpfchen, in dessen staunende Augen sie ganz vernarrt war, in ihren Armen.

Nach dem frühen Tod ihrer Eltern hatte sich Margrit ausschliesslich dem fünfzehn Jahre jüngeren Ueli zugewandt, hatte ihn grossgezogen und tatsächlich sah er in ihr mehr die Mutter als die Schwester. Sie war ledig geblieben. Wegen ihm? Für ihn? Ob sie je einen Liebsten gehabt hatte, wusste niemand. Sie selber sprach nie darüber. Worüber sie aber oft redete, das war ihre Sehnsucht nach Kindern. Hannes und Ursula erfüllten sie mit grosser Freude. Sie liebte die zwei vorbehaltslos und uneingeschränkt.

 

Eines Tages, als Anna die Kleinen zu Margrit bringen wollte, lag die Schwägerin, entgegen ihrer Gewohnheit, noch im Bett. Ihr Atem ging flach und sie konnte nur mühsam sprechen: «Es geht zu Ende», keuchte sie, «hol Ueli.»

Er setzte sich an ihren Bettrand und hielt ihre Hand. Anna war mit den Kindern unter der Tür stehen geblieben. Sie spürte: Jetzt, in der Stunde des Abschieds, mussten die Geschwister allein sein. «Ich könnte besser sterben», hörte sie Margrit flüstern, «wenn ich wüsste, dass du dich taufen liessest.»

Anna sah, wie Uelis Körper steif wurde.

«Die Seligkeit», keuchte Margrit und richtete sich halb auf, «die ewige Seligkeit.» Ihr gütiges Gesicht drückte eine grosse Qual aus. Sie umklammerte seine Hand. «Versprich es mir.»

Nach einer Unendlichkeit, so schien es Anna, nickte ihr Mann. Er sah aus wie einer, dem gegen seinen Willen ein Versprechen abgerungen worden war.

Margrit sank ins Kissen zurück. Sie lächelte. Ihre Züge entspannten sich. Dann tat sie einen tiefen Atemzug.

«Es ist vorbei», sagte Ueli. Es klang fast verwundert.

Während der Abdankungsfeier, zu der Menschen aus allen umliegenden Dörfern in die Langnauer Kirche gekommen waren, dachte Anna über die letzten Worte der verstorbenen Schwägerin nach. Weshalb sollte sich Ueli taufen lassen? Hatte man ihn denn nicht als Kind bereits getauft? Sie wusste, dass sie ihn nicht danach fragen durfte. Immer wenn die Rede auf kirchliche Rituale kam, verschloss er sich. Sie hatte sich daran gewöhnt, aber sie schwor sich, dass sie das Rätsel lösen würde.

Anna vermisste Margrit, die seit ihrer Heirat mit Ueli immer mehr zu ihrer Vertrauten geworden war. Manchmal, wenn sie sich ärgerte, weil Christine oder Lisa die Arbeit nachlässig verrichteten, dachte sie: «Das muss ich mit Margrit besprechen.» Dann fiel ihr ein, dass das nicht mehr möglich war. Ueli hatte sich seit dem Tod der Schwester in sich selbst zurückgezogen. Er mochte am Abend nicht mehr mit Anna zusammen in der Schrift lesen. Stattdessen entdeckte sie, dass er nun nachts oft aus dem Bett stieg und sich an den Tisch setzte, um beim Licht einer Kerze die Bibel zu studieren. Sie stellte sich schlafend, beobachtete aber aus halb geschlossenen Augen, wie er dasass, den Kopf in den Händen vergraben. Manchmal seufzte er, als liege ihm eine schwere Last auf dem Herzen. Nein, es war nicht so, dass er sich von ihr abwandte, aber ihn schien etwas umzutreiben.

Anna war klar, dass auch für sie eine neue Zeit angebrochen war. Der Tod der Schwägerin und die Beschäftigung ihres Mannes mit sich selbst machten ihr deutlich, dass sie lernen musste, ihren Weg allein zu suchen. Bereits an Lichtmess spürte sie, wie sich in ihrem Leib neues Leben regte. «Werden und Vergehen», dachte sie und sagte zu Ueli: «Wenn es ein Mädchen wird, werden wir es auf den Namen Margreth taufen lassen. Sie soll in ihr weiterleben.»

Ihr Mann sah sie lange an. «Darüber entscheidet Gott allein», sagte er schliesslich.

Gott entschied anders. Das Kind, es war in der Tat ein Mädchen, kam tot zur Welt. Es habe sich mit der Nabelschnur stranguliert, erklärte Gret Fridlin, die Hebamme. Anna war untröstlich. Sie wollte es nicht wahrhaben, drückte das kalte, steife Körperchen an sich, rieb es, versuchte ihm Wärme zu spenden, hauchte ihren Atem zwischen die blutleeren, schmalen Lippen. Als Ueli die kleine Leiche vorsichtig aus ihren Armen löste, weinte sie herzzerbrechend.

Lisa, ihre Schwester, die während der Geburt dabei gewesen war, hielt schweigend Annas Hand.

«Du wirst dem Pfarrer melden, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist», sagte Ueli zu Gret. «Ich werde es im Bungert begraben.»

Später folgte ihm die Hebamme hinters Haus. Sie brachte den Mutterkuchen mit. «Leg ihn zum Kind», sagte sie, «und pflanz dann ein Bäumchen aufs Gras, damit etwas aus ihm herauswächst, an dem sich deine Frau später freuen kann.» Schweigend schaute sie zu, wie Ueli das Grab zuschaufelte und lange im stillen Gebet davor verharrte.

Es war nicht ungewöhnlich, dass Kinder starben. Man wusste: Von dreien würden nur zwei das Erwachsenenalter erreichen. Das änderte aber nichts daran, dass Anna lange um die kleine Margreth trauerte. «Ich komme einfach nicht darüber hinweg, dass wir sie ungetauft der Erde zurückgeben mussten», sagte sie eines Nachts, als Ueli wieder bei Kerzenlicht am Tisch sass und in der Bibel las.

Erstaunt wandte er sich um. Er hatte geglaubt, sie schlafe: «Was ist denn so schlimm daran?»

«Es ist wegen der ewigen Seligkeit.»

«Wer sagt denn, dass ein Kind, das nicht getauft worden ist, nicht in den Himmel kommt?»

«Alle sagen es. Auch der Prädikant.»

«Und woher wissen sie es – alle und der Prädikant?»

«Es wird wohl in der Bibel stehen.»

Ueli erhob sich, legte sich neben Anna ins Bett. «Wir haben mit Margrit alle vier Evangelien gelesen», nahm er schliesslich das Gespräch wieder auf. «War da irgendwo von einer Kindertaufe die Rede?»

Anna kramte in ihrem Gedächtnis. «Nein», gab sie schliesslich zu, «aber der Herr hat sich auch taufen lassen.»

«Ja, aber da war er bereits erwachsen. Sogar Huldrych Zwingli, der Reformator, hat einmal gesagt, die Säuglingstaufe sei von Päpsten erdacht. Dass er die Erwachsenentaufe später, als er selber einer dieser Päpste wurde, ablehnte, ist eine andere Geschichte. Die Kindertaufe ist nur ein Brauch. Ein wahrer Christenmensch sollte sich aus einer bewussten Überzeugung taufen lassen.»

«Aber das Margritli liegt jetzt in ungeweihter Erde», jammerte Anna.

«Die Erde auf dem Gottesacker hinter der Kirche wird vom Prädikanten geweiht», sagte Ueli, «von einem, der sein Amt nicht von Gott, sondern von den Gnädigen Herren in Bern bekommen hat. Glaubst du wirklich, der Herrgott, lasse ein unschuldiges Kindlein, das nie gesündigt hat, vor der Pforte des Himmelreiches stehen?»

Anna dachte nach. Dann fiel ihr das Versprechen ein, das Ueli seiner Schwester auf dem Totenbett gegeben hatte. «Hast du dich taufen lassen», fragte sie schliesslich.

Es wurde still in der Kammer der beiden Eheleute. Anna hielt den Atem an.

«Noch nicht», sagte ihr Mann gepresst, «noch nicht. Aber ich werde es nächstens tun.»

«Du bist doch schon getauft», flüsterte sie, «wenn du es nochmals machst, bist du ein Ketzer und gehörst zu den Wiedertäufern.»

«Wiedertäufer und Ketzer nennen sie die anderen. Selber bezeichnen sie sich als Altevangelische oder Täufer. Übrigens: Auch Margrit war eine von ihnen.»

Ihrer misslichen Lage im Mörderchäschtli von Trachselwald zum Trotz huschte ein Lächeln über Annas Gesicht. Sie war noch so jung gewesen, gerade zwanzig Jahre, als sie erfuhr, dass sich ihr Ueli zu den Täufern bekannte. Jung und unerfahren.

Erst Jahre später, als sie selber zu ihnen gehörte, begriff sie auch die Bezeichnung «Altevangelische». Gemeint waren jene Brüdergemeinden, die sich auf Petrus Waldus beriefen, einen Kaufmann aus Lyon, der vor fünfhundert Jahren einen Priester mit der Übersetzung der Evangelien beauftragt und sich dann dem Studium der Heiligen Schrift gewidmet hatte. Er traf sich mit seinen Gesinnungsgenossen. Man las gemeinsam das Evangelium und verbreitete es als Wanderprediger. Auch in den einsamen Tälern des Bernbiets hatte es Barben gegeben, wie die Anhänger von Waldus, ihrer üppigen Barttracht wegen, spöttisch bezeichnet wurden. Sie selber nannten sich «Evangelische». Als dann die Reformierten um Zwingli das Wort für sich beanspruchten, begann man zwischen alt- und neuevangelisch zu unterscheiden. Die Emmentaler Täufer im 16. und 17. Jahrhundert, zu denen auch die Jacobs gehörten, sahen sich in der Nachfolge jener Waldenser.

Damals, als sie die kleine Margreth tot zur Welt gebracht hatte und erfuhr, dass sie mit einem Täufer verheiratet war, versuchte Anna, das, was sie hier und da über die Altevangelischen gehört hatte, zu ordnen. Die Behörden verfolgten sie. Bis vor hundert Jahren hatte man sie, wenn sie ihrem Glauben nicht abschworen, hingerichtet. Die Männer wurden enthauptet, die Frauen in der Aare ertränkt. Heute peitschte man sie, dem Volk zur Ermahnung, in aller Öffentlichkeit aus und verbannte sie aus dem Stand Bern oder verkaufte sie als Rudersklaven auf die Galeeren nach Venedig.

In der Bevölkerung allerdings waren sie nicht unbeliebt. Sie galten als bescheiden, friedlich und arbeitsam. Zu Recht, musste Anna zugeben, wenn sie an ihren Mann und seine verstorbene Schwester Margrit dachte. Ohne sich selber taufen zu lassen, nahm mancher vordergründig brave Kirchgänger an den geheimen Versammlungen der Altevangelischen teil. Man warnte sie vor Täuferjägern, versteckte sie vor dem Zugriff der Obrigkeit oder half ihnen zur Flucht ins benachbarte, katholische Entlebuch.

Ob sie nun auch eine wie er und Margrit werden müsse, wollte Anna von Ueli, der sich inzwischen hatte taufen lassen, wissen.

Wie ein verirrter Sonnenschein huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Er beugte sich zu ihr und küsste sie auf die Stirn. «Nein», sagte er, «wenn es so weit ist, wird dir Jesus das Herz öffnen und du wirst aus freien Stücken die Taufe begehren.»

Mehr wurde darüber nicht gesprochen. Von diesem Tag an ging Ueli einmal in der Woche an die Versammlungen seiner Gemeinde, die meist abends auf einem abgelegenen Hof stattfanden, manchmal, wenn es hiess, Täuferjäger seien unterwegs, auch auf einer verborgenen Lichtung im Wald.

Anna sprach mit niemandem über Uelis Glauben, nicht einmal mit Lisa, ihrer Schwester, die nach dem Tod der Schwägerin mehr und mehr zu ihrer Vertrauten geworden war.

Im Übrigen ging das Leben auf dem Auenhof seinen gewohnten Gang. Während sich ihr Mann um das Vieh und die Arbeit auf dem Feld kümmerte, hatte Anna mit dem Haushalt, dem Gemüsegarten und den Hühnern alle Hände voll zu tun. Und natürlich mit den Kindern. Hannes und Ursula blieben nicht die Einzigen. Ein Jahr nach dem Tod von Margreth, auf deren Grab Ueli einen Kirschbaum gepflanzt hatte, wurde Heinrich geboren. 1682 folgte Elsbeth und 1684 war es wieder ein Bub, Christen. 1685 schliesslich kam Barbara zur Welt.

«Wir sind reich gesegnet», sagte Ueli oft, wenn er bei Tisch über die kleine Schar schaute. Er war ein fürsorglicher Vater, der seine Kinder liebte. Wenn er ihnen Geschichten erzählte, drängten sie sich an ihn und Anna schien, als könne er sich in diesen Stunden von den Schatten befreien, die ihn belasteten. Allerdings war es nicht so, dass die Taufe ihn von seiner Melancholie erlöst hätte. Er war womöglich noch schweigsamer geworden, noch nachdenklicher. Nacht für Nacht stieg er aus dem Bett und las in der Bibel. Manchmal erwachte Anna und beobachtete, wie er seine kräftigen Hände faltete und betete. Seine Lippen bewegten sich lautlos. Dabei schaute er durch das halb offene Fenster in die Dunkelheit, als könne er dort Antwort auf die Fragen finden, die ihn bedrängten. Er schien wenig Schlaf zu brauchen. Er stand am Morgen früh auf und verrichtete sein Tagwerk ohne irgendwelche Anzeichen von Müdigkeit.

Schon lange vor seiner Heirat hatte ihn der Landvogt zum Gerichtsäss, also Beisitzer am Niedergericht von Langnau, einem der acht Gerichtsbezirke im Amt Trachselwald, berufen. Meist ging es dabei um schuld- und sachenrechtliche Forderungen und um Pachtfragen, manchmal auch um kleinere Delikte, die mit Bussen, Körper- und Ehrenstrafen oder ein paar Tagen Gefängnis geahndet wurden.

Anna war immer stolz darauf gewesen, dass ihr Mann dieses Amt bekleidete. Es verlieh ihm in der Gemeinde Ansehen und Respekt. Jetzt, nachdem er die Taufe empfangen hatte, trat Ueli als Richter zurück. Gegenüber dem Landvogt begründete er den Schritt damit, dass ihm die Arbeit auf dem Hof über den Kopf wachse. Tatsächlich aber verbot ihm sein neuer Glaube, die Übernahme eines öffentlichen Amtes ebenso wie den Treueeid auf die Obrigkeit und den Kriegsdienst. Das war nicht ungefährlich, denn die Behörden hatten bereits 1671 ein Mandat erlassen, wonach sich die Bevölkerung alle sechs Jahre auf Schloss Trachselwald zum Huldigungseid zu versammeln hatte. Wer nicht kam, machte sich des Anabaptismus verdächtig. Und nicht genug damit: Die Gnädigen Herren von Bern verlangten auch, dass man zum Kirchenbesuch ein Schwert trug, eine Forderung, die Täufer mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren konnten. Ueli blieb dem Treueschwur fern und nahm auch das Schwert nicht mit, wenn er, was selten genug vorkam, zur Predigt ging. Immerhin liess er es geschehen, dass seine Frau, auch wenn er es für sinnlos hielt, die Kinder in die Kirche zur Taufe trug.

Anna machte ihrem Mann Vorhaltungen. Er bringe sich mit seinem Verhalten um Kopf und Kragen und sie und die Kinder ins Unglück. Er schaute sie lange an. Schliesslich meinte er, man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen. Sie könne das selber in der Apostelgeschichte nachlesen. Im Übrigen glaube er nicht, dass jemand ihn, den reichen und angesehenen Grossbauern, für einen Ketzer halte.

 
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