Mein Sonntag in Münster

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Das Mädchen aus der weißen Zeit



»Georg, wir gehen jetzt«, rief Frau Klein und hob ihre Skier auf. Georg ging zur Tür seines Zimmers, um sich von seiner Mutter zu verabschieden. Sie fuhr zusammen mit seinem Vater und Katia, seiner Schwester, über das Wochenende zum Skilaufen. »Ja, tschüs denn!«



»Willst du nicht noch mit rauskommen und Vater und Katia Auf Wiedersehen sagen?«, fragte Frau Klein.



»Ach Gott, ihr fahrt doch nicht zum Südpol! Sag ihnen halt, dass ich mich hier verabschiedet habe.«



Frau Klein warf ihrem Sohn einen vorwurfsvollen Blick zu, so einen

Ja-wenn-die-Kinder-älter-werden!

-Blick, dann ging sie aus der Wohnung, und Georg trottete zur Haustür, um sie hinter seiner Mutter zuzumachen. Er fühlte sich sehr unwohl. Alle diese Bräuche! Guten Tag und Auf Wiedersehn, Mein Name ist – Gestatten Sie, dass – Dürfte ich Sie bitten – idiotisch! Die ganze Welt ging ihm auf die Nerven. Es war Zeit, dass er in sein Labor kam und nichts mehr von diesem ganzen Firlefanz hörte. Er nahm den Schlüssel vom Brett und ging hinunter in den Keller.



Hier im Keller, in seinem kleinen Labor, fühlte er sich wohl. Hier hatte er alle Bücher, Aufsätze, Tabellen, Werkzeuge und Materialien, um sich seine eigenen Dinge zu bauen. Das, was ihn interessierte. Seine Eltern und Katia verstanden davon sowieso nichts. Es war gut, dass sie weggefahren waren. So hatte er Zeit für sein entscheidendes Experiment. Die neue Chronobox war schon seit über vier Wochen fertig, und alle Tests waren erfolgreich verlaufen. Gegenüber der alten hatte er diese Box in vielen Punkten verbessert. Außerdem war sie jetzt so geräumig, dass er bequem selbst darin Platz hatte. Natürlich war sie nicht so groß wie die Riesenboxen in den Labors der Universitäten und der Industrie, aber das war egal. Die Technik beherrschte er jedenfalls. Georg betrachtete die Kontrollinstrumente. Die Box wurde seit dem Vormittag aufgeladen. Noch eine Viertelstunde ungefähr, dann war es soweit. Er setzte sich in den alten Sessel in der Ecke und stellte auf dem kleinen Rechner die Vibrationswerte ein. Alles andere konnte er vom Innern der Box aus steuern. Er wartete. Eine rote Lampe leuchtete auf und zeigte an, dass die Ladung für die Box ausreichend war. Jetzt – ja, jetzt war es soweit. Georg stand auf und mühte sich um Festigkeit und Entschlossenheit. Er zitterte trotzdem ein wenig. Angst war das nicht. Das Gefühl ähnelte jenem Schwindel, der einen überkommt, wenn man in großer Höhe über ein breites, festes Brett gehen soll. Wenn das Brett sich am Boden oder nur einen Meter darüber befände, dann wäre alles ganz leicht. Aber so?



Überlege nicht zu viel, sagte Georg zu sich selbst. Es ist alles in Ordnung. Er legte die Hand auf den schweren Würfel in der Mitte des Raums. Kaum mehr als einen Meter Kantenlänge hatte das Ding. Aber es würde genügen. Er hatte es ja schon ausprobiert. Er passte bequem hinein. Also, Luke auf!



Georg drückte auf den Knopf des elektrischen Flaschenzugs. Der Elektromotor straffte die Kette und hob langsam und gleichmäßig den schweren Deckel der Kiste hoch. Ungefähr einen halben Meter über der Box blieb der Lukendeckel dann stehen, und Georg stieg ein. Vor sich hatte er die schmale Konsole mit den Instrumenten. Die Innenbedienung für den Flaschenzug, die Anzeigen für die Vibrationswerte und die Zeit- und Raumkoordinaten, die verschiedenen Stellhebel zur Veränderung der Koordinaten während der Fahrt – und dann der rote Startknopf. Von oben tönte das Summen des Flaschenzugs, der die Decke auf die Luke herunterließ. Das harte Einrasten des zentnerschweren Stahlbetonteils, das die Umgebung schützen sollte – fertig? Ja, fertig, natürlich. Was würde geschehen, wenn er – vielleicht fand er nicht mehr zurück, oder die Reise wurde nicht richtig gesteuert? Inmitten seiner Zweifel und Überlegungen, plötzlich und sogar für sich selbst ein wenig noch überraschend, drückte Georg auf den roten Knopf. Für einen kurzen Augenblick geschah nichts, und er glaubte eben diesen kurzen Augenblick lang, dass nun gar nichts mehr geschehen würde.



Aber dann setzten die Vibrationen ein. Das Innere des Betonwürfels zerstob in weniger als einer tausendstel Sekunde. Dass er zu wenig Dämpfung habe, dachte Georg noch, dann verlor er das Bewusstsein.




Als Georg Klein aus der Ohnmacht erwachte, glaubte er zuerst, er befände sich noch immer im Innern der Chronobox. Er konnte sich nicht vorstellen, dass sein entscheidendes Experiment gelungen war. Nach einigen Überlegungen griff er nach oben und löste den Verriegelungshebel. Als die Luke daraufhin einen Spaltbreit aufsprang, wusste er, dass er nicht mehr in seinem kleinen Kellerlabor war: Blau. Blauer Himmel! Nein, doch nicht. Aber was? Georg richtete sich auf, indem er mit einer Hand die Luke ganz aufdrückte. Er stand in der inneren Schale seiner Chronobox. Die äußere, zentnerschwere Hülle war verschwunden, sie war im Labor zurückgeblieben. Hier war nur der dünne Metallmantel des Innenraums. Also war das Experiment doch gelungen. Aber was bedeutete das? Wo war er, und in welcher Zeit befand er sich? Georg hatte sich lange genug mit der Theorie der Raum-Zeit-Verschiebung beschäftigt und wusste, dass diese Fragen, auch wenn man sie fast zwangsläufig stellen wollte, völlig ohne Sinn waren. Er war außerhalb des Weltraums, in dem sich die Erde drehte. Deshalb war es sinnlos, zu fragen, wo er sich jetzt befand. Diese Welt hier war wirklich, und sie war es auch nicht. Wenn man, wie er, hier stand, dann war alles real und deutlich sichtbar. Für die anderen Menschen aber, für seine Eltern und für Katia zum Beispiel, existierte sie weniger als ein Traum in seinem Kopf. So war das nun einmal, auch wenn man es zuerst nicht so recht glauben konnte. Als Georg sich, noch immer in der inneren Schale stehend, die Umgebung besah, wunderte er sich. Alles hier war vertraut und doch wieder sehr merkwürdig. Das Gras und die Sträucher – er stand mitten in einem grünen Garten. Aber das Grün war dunkel, fast blau, und die Sträucher sahen seltsam unecht aus. Und außerdem das Licht! Auch das Licht war bläulich. Ganz weich und diffus war dieses Licht, sodass es keine Schatten warf, sondern alle Pflanzen dicht


umschloss und sie, zumindest dem Anschein nach, dichter zusammenrückte, als es der Wirklichkeit entsprechen mochte. Nachdem er aus dem Würfel der inneren Chronobox ausgestiegen war, schaute Georg zuerst zum Himmel, um zu überprüfen, woher dieses überaus seltsame blaue Licht kam. Es gab nirgends eine Sonne, obwohl keine Wolken zu sehen waren. Das Blau wurde, wenn man hinaufsah, nur immer dichter. Es wölbte sich und fiel, irgendwo hinter Bäumen und Sträuchern, hinunter zum Horizont. Hier also war er gelandet. Es sah nicht so aus, als ob es hier viel zu entdecken gäbe. Vermutlich war diese Welt unbewohnt. Ein unbewohnter, gut gepflegter Garten, angenehm, aber langweilig. Leben konnte man hier, gewiss. Die Sensoren der Chronobox, die verhinderten, dass die Box auf einem unbewohnbaren, toten Planeten landete, diese Sensoren hatten gut gearbeitet. Aber gegen Langeweile gab es keine Außenfühler. Er konnte trotzdem zufrieden sein. Vielleicht war es richtig so. Zuviel Aufregung auf einmal war auch nicht gut. So konnte er, ohne dass er sich um seine Box Sorgen zu machen brauchte, zu einem Spaziergang aufbrechen und die nähere Umgebung erkunden.



In einer nicht allzu großen Entfernung – die genaue Distanz war wegen der ungewohnten Lichtverhältnisse nicht zu bestimmen – erhob sich ein Hügel aus dem ansonsten flachen Garten. Dahin wollte Georg zuerst gehen. Wenn er auf den Hügel stieg, hatte er einen guten Rundumblick über die kleineren Bäume hinweg. Er nahm ein kleines Peilgerät aus dem Innern der Box und machte sich auf den Weg. Das Peilgerät würde ihn sicher wieder zu seiner Chronobox zurückleiten, auch wenn er sich auf seinem Marsch zu dem Hügel weiter als erwartet entfernen sollte.



Nach einem Fußmarsch von ungefähr einer Viertelstunde langte er in der Nähe des Hügels an. Während des ganzen Weges war es ganz still gewesen. Diese vollkommene Stille, in der es nicht einmal das Rauschen von Blättern gab, war wohl das einzige Unheimliche hier. Aber dann, plötzlich, Georg wollte gerade an einem Baum vorbei zum Fuß des Hügels gehen, da hörte er ein vieltausendstimmiges Zwitschern, und gleich darauf stieg hinter dem Hügel eine bunte Wolke auf und breitete sich mit großer Schnelligkeit über diesen ganzen Garten aus. Jetzt war mit einem Male Leben überall, denn diese bunte Wolke hatte aus unzähligen kleinen Vögeln bestanden, die sich auf die Bäume niedergelassen hatten. Dort saßen sie jetzt. Die Kronen der Bäume hatten viele bunte Tupfen, und diese kleinen Flecken schrien und sangen eine seltsame, unabgestimmte, aber doch wieder zusammentönende Melodie.



War dieses Auftauchen der Vögel schon eine Überraschung, bei der Georg Klein stehen geblieben und dann, ohne nachzudenken, hinter einen nahestehenden Baum gelaufen war, so gewahrte er jetzt etwas noch viel Merkwürdigeres. Auf dem Hügel erschienen – Menschen. Zuerst nur einige, in kleinen Gruppen, dann immer mehr. Monströse Tiere, Ungeheuer, auf so etwas war Georg Klein gefasst gewesen. Er wäre erschrocken, gewiss, aber er hätte sich dann gesagt, dass er schließlich in einer völlig unbekannten Welt war. Aber dass er Menschen antreffen würde, unzweifelhaft zweibeinige, aufrecht gehende und miteinander sprechende Menschen, nein, das war nicht zu erwarten gewesen. Flucht? Diese Menschen sahen nicht so aus, als ob sie jemandem Anlass geben würden, vor ihnen die Flucht zu ergreifen. Sie gingen langsam, ein wenig stolzierend, machten gemessene, sparsame Handbewegungen und schienen im Übrigen an nichts anderem als an ihren Gesprächen interessiert. Dennoch war es natürlich unsicher, was diese Menschen tun würden, wenn sie einen Fremden anträfen.

 



Der unterste Ast des Baumes war nicht allzu hoch, und Georg ergriff ihn, schlang ein Bein um den danebenliegenden Ast und kletterte weiter nach oben. Hier konnte er sicher sein, dass ihn diese Menschen nicht so leicht entdecken würden. Er atmete, um sich zu beruhigen, lief durch und schaute durch eine Lücke im Blattwerk hinunter auf die blaugrüne Ebene und den Hügel. Die ersten kleinen Gruppen waren inzwischen schon ganz nahe herangekommen. Es war abzusehen, dass einige dieser Menschen direkt an dem Baum, auf dem Georg Klein saß, vorbeigehen würden. Jetzt, da sie nähergekommen waren, konnte man ihre Gesichter erkennen. Sie sind alle jung, ungefähr so alt wie ich, dachte Georg. Es gibt keine älteren Männer und Frauen unter ihnen. Das ist seltsam! Aber vielleicht folgen die Älteren später?



Inzwischen kamen keine neuen Menschen mehr über den Hügel, und alle die, die Georg jetzt sehen konnten, waren jung. Das war die eine Merkwürdigkeit. Die andere seltsame Sache: Alle diese jungen Leute trugen weiße Kleider, schneeweiße Kleider sogar, die nur einen Schimmer aus wechselndem Blau aufwiesen, wo der Stoff Falten warf. Diese Kleider waren bei den Jungen und den Mädchen vollkommen gleich geschnitten. Sie waren lang und ziemlich weit, allerdings nicht so weit, dass man nicht hätte erkennen können, dass diese Jungen und Mädchen athletisch und offenbar, trotz ihrer gemessenen Bewegungen, auch sportlich trainiert waren. In Haut- und Haarfarbe glichen sie den verschiedenen Rassen auf der Erde. Es gab dunkle, bläulich schwarze und hellhäutig blonde und dazwischen jeden Ton.



Eine Erklärung dafür, dass es hier, in einer anderen Welt und in einem anderen Kosmos, Menschen gab, die sich in nichts von den Menschen auf der Erde unterschieden, nein, eine Erklärung dafür würde er nicht finden. Das wusste Georg. Jedenfalls so lange nicht, als er nicht mit diesen Menschen selbst sprechen oder sich wenigstens durch Zeichen verständlich machen konnte. Er überlegte, ob er es wagen sollte, den Baum zu verlassen. Diese Jungen und Mädchen sahen wirklich nicht kriegerisch oder gefährlich aus. Aber konnte er sicher sein, dass sie ihn nicht doch angreifen würden, vielleicht sogar mit Mitteln, die es auf der Erde nicht gab?



Er blieb wohl eine halbe Stunde auf dem Baum. Den Entschluss, herabzusteigen, fasste er erst, als sich eine Gruppe direkt unter dem Baum gelagert hatte. Er hörte ihrer Sprache zu. Wenn diese Jungen und Mädchen sprachen, dann war es einem weichen Singen nicht unähnlich. Viele »u« und »o« kamen in dieser Sprache vor. Und viele Pausen. Manchmal schwieg die ganze Gruppe einige Minuten lang, und dann lachten alle wie auf ein geheimes Kommando. Dieses Lachen war es, das Georg bewog, von dem Baum herabzusteigen. Es klang wirklich sehr freundlich, und je länger er dem Lachen dieser Menschen zuhörte, desto stärker wurde in ihm die Sehnsucht, bei ihnen zu sitzen. Und außerdem konnte er ja nicht den ganzen Tag über auf diesem Baum bleiben. Wenn sie ihn entdeckten – es war auf jeden Fall besser, wenn er aus eigenem Entschluss auf sie zuging.



Georg bemühte sich, die unter dem Baum Sitzenden nicht zu erschrecken. Er machte also absichtlich Geräusche, um sie zuerst auf sich aufmerksam zu machen. Dann wollte er wie selbstverständlich von dem Baum heruntersteigen. Zu seiner Verwunderung achtete niemand auf die Zeichen, die er gab. Selbst als er laut hustete und sich vernehmlich räusperte, sah niemand zu ihm hinauf. So stieg er denn herunter, ohne sie vorher von seiner Anwesenheit in Kenntnis gesetzt zu haben.



Nun allerdings wurde Georgs Überraschung vollkommen. Er ging langsam auf die Gruppe zu. Die, die ihm das Gesicht zuwandten, konnten ihn jetzt sehen, sie

mussten

ihn einfach sehen. Aber – sie zeigten keinerlei Reaktion. Sie standen nicht auf, machten die, die ihm den Rücken zuwandten, nicht auf ihn aufmerksam, ja sie folgten ihm nicht einmal mit ihren Blicken. Sie schauten für einige Augenblicke geradewegs in die Richtung, in der er sich befand, aber sie unterbrachen das Gespräch nicht, sondern sahen nach kurzer Zeit wieder jemanden aus der Gruppe an. So als ob er gar nicht existierte.



Sind sie vielleicht gar nicht wirklich da, fragte sich Georg. Vielleicht bilde ich mir das, was ich hier sehe, nur ein? Aber er stand doch jetzt nur noch ein bis zwei Meter von einem Mädchen aus der Gruppe entfernt, und er konnte sie ganz genau sehen. Er konnte sie ansprechen. Er verstand ihre Sprache nicht, gut, aber sie mussten seine Stimme hören!



»Guten Tag«, sagte Georg, »ich heiße Georg Klein.«



Er wollte, wenn sie ihm den Kopf zuwandten, einfach weitersprechen und erzählen, dass er mit seiner Chronobox hierher gekommen war. Er zweifelte nicht, dass sie ihn, da er doch nun mit einer deutlich hörbaren Stimme sprach, sogleich ansehen würden. Aber nichts dergleichen geschah. Alle sprachen einfach weiter. Oder sie schwiegen. Er musste feststellen, ob es sich um eine Täuschung handelte. Also ging er zu einem der Jungen hin und berührte ihn vorsichtig an der Schulter. Er spürte unter seinen Fingerspitzen den seidigen Stoff des Gewandes, aber der andere bemerkte ihn offenbar noch immer nicht. Eine Art Verzweiflung überkam Georg. Er fühlte sich ausgeschlossen und grenzenlos allein. Dieses Gefühl war nicht zu ertragen, und so ging er mitten hinein in den Kreis, den die Gruppe gebildet hatte. Er stellte sich reihum vor jedem auf, beugte sich vor und sagte ein paar Worte. Es gab niemanden, der auch nur den Versuch gemacht hätte, an ihm vorbei zu sehen. Alle ohne Ausnahme sahen sie direkt durch ihn hindurch. Am Ende, als er schon nicht mehr hoffte, irgendein Zeichen zu erhalten, ging er auf einen Jungen zu, fasste ihn bei den Füßen und warf ihn, indem er die Füße hochhob, auf den Rücken. Einige aus der Gruppe lachten jetzt, aber es blieb keinen Moment lang unklar: Sie lachten nur über den, der da rücklings im Gras lag. Ihn beachtete keiner.



Für einige Zeit stand Georg ratlos zwischen den weiß gewandeten Jungen und Mädchen. Dann ging er weiter, hinüber zu einer anderen Gruppe. Dort erging es ihm nicht anders als bei der ersten. Er wusste sich jetzt keinen Rat mehr und setzte sich einfach ins Gras und dachte nach. Er konnte sich irgendeine fadenscheinige Erklärung für alle diese Merkwürdigkeiten ausdenken, natürlich; aber eine wirkliche


Erklärung gab es nicht; er spürte das sofort. Einfach weitergehen, das wollte Georg nicht. Oder zurückgehen zur Box? Nach Hause, ohne zu wissen, was auf diesem merkwürdigen Planeten, hier in diesem Garten vorging? Das wollte er auch nicht. Nein, das war ganz und gar unmöglich. Also konnte er nur warten. Es saß sich angenehm hier, fand Georg nach einiger Zeit. Es war ihm, als gehörte er hierher. Er wusste nicht, warum er das dachte, wo er doch so einsam und ausgestoßen hier herumhockte. Aber er fühlte sich wohl.



Der Tag ging dahin. Die kleinen bunten Vögel waren ein wenig stiller geworden. Die Mädchen und die Jungen in ihren weißen Gewändern gingen umher, sprachen miteinander, lachten. Sie waren alle (warum sah Georg das erst jetzt?) sehr ruhig und feierlich. Auch wenn sie lachten. Sie kamen ihm wie Auserwählte vor. Er wusste nicht, wie er auf diesen Gedanken kam. Hunger schienen sie jedenfalls keinen zu haben. Georg lachte ein wenig, als er zu sich selbst sagte, dass das kein gutes Zeichen für eine Auserwähltheit war. Aber vielleicht hatten sie doch Hunger? Denn jetzt gaben sie sich Zeichen und riefen sich Worte zu, die Georg nicht verstand. Und dann standen alle auf und gingen, so wie sie gekommen waren, wieder auf den Hügel zu.



Als sie ein Stück weit gegangen waren, flogen alle Vögel von den Bäumen auf und zogen, wieder eine große bunte Wolke, über die Dahingehenden hinweg.



Georg, der überlegt hatte, ob er den Gruppen folgen oder zu der Box zurückgehen sollte, hatte nicht sogleich bemerkt, dass ein Mädchen in seiner Nähe stehen geblieben war. Es ging nicht mit den anderen zurück, sondern stand unschlüssig und wartete. Als alle anderen schon beinahe die Anhöhe erreicht hatten, wandte es plötzlich den Kopf und – das war eine Täuschung. War es keine Täuschung? Das Mädchen sah herüber? Es lächelte ein wenig spöttisch und kam auf ihn zu. Georg fühlte, dass er dumm und fassungslos dastand, während das Mädchen auf ihn zukam. Konnte es ihn denn sehen, und warum konnte es ihn jetzt plötzlich sehen? Das Mädchen stand vor ihm und sah ihn an. Es lächelte, und Georg hatte das Gefühl, es zu kennen. Dabei sah es niemandem ähnlich. Keine seiner Mitschülerinnen sah so aus. Es hatte ein, nun ja: es hatte ein strahlendes Gesicht, ein Gesicht, dessen Eigenart keine Beschreibung wiedergibt. Große Augen, blau wie die Luft hier und ebenso durchsichtig, langes, hellblondes Haar. Das Mädchen war ungefähr so alt wie er, aber er hatte dennoch das Gefühl, viel jünger zu sein als dieses Mädchen. Wäre sie ihm auf der Erde begegnet, dann hätte er sich in sie verliebt, hoffnungslos, und er hätte gleichzeitig gewusst, dass er es nie auch nur kennenlernen würde, und das hätte ihn, gegen alle Logik, überhaupt nicht gestört. So schnell ging das alles. Tausend Gedanken in diesem Augenblick – und vollkommene Verwirrung. Georg Klein begriff: Die Gefahren, die auf unbekannten Planeten drohen, treten nicht unbedingt in der Gestalt von Monstern auf. Das wusste er in diesem Moment. Er wusste es, aber verstand nicht, warum es so war. Das Mädchen öffnete den Mund. Es sagte etwas in seiner singenden Sprache, und Georg verstand, was es sagte. Er verstand die Sprache nicht, aber er spürte, wie sich die Bedeutung dessen, was das Mädchen gesagt hatte, in seinem Kopf auftat. Die Bedeutung kam irgendwoher, irgendwo aus der Richtung, aus der in den Köpfen der Menschen auch die Gedanken kommen, die sie dann in Worte fassen und aussprechen. Er wusste einfach, was die Bedeutung dieser Worte war. Sie hatte gesagt: »Willkommen in der weißen Zeit!«



»Guten Tag«, sagte er, »ich heiße Georg Klein.« Georg wusste nicht, was er sagen sollte.



»Ich heiße Krina«, sagte das Mädchen. Es schien verstanden zu haben, was er gesagt hatte. »Woher kommst du?«



»Ich komme von der Erde«, antwortete er. »Aber das ist nicht wichtig. Ich kann dir nicht sagen, wo die Erde ist. Sie liegt in einem anderen Kosmos und in einer anderen Zeit.«



»Und warum bist du zu uns gekommen?«, fragte Krina.



»Das ist Zufall. Ich habe nur einen ungefähren Bereich in der Chronobox eingestellt. Die Sensoren haben dann die Signale von diesem Planeten empfangen. Die Landung und alles das ging automatisch.«



»Das kann ich nicht verstehen«, sagte Krina. »Aber ich weiß, dass du nicht einer von uns bist. Niemand kommt in die weiße Zeit mit solchen Kleidern.«



Jetzt fiel Georg ein, dass er viele Fragen hatte. Vor allem: Wie kam es, dass die Bewohner dieses Planeten genauso aussahen wie die Menschen auf der Erde? Wer waren sie? Und warum hatten alle anderen so getan, als ob sie ihn nicht sehen könnten?



»Warum wir so aussehen wie du, das weiß ich nicht«, sagte das Mädchen auf seine Frage hin.



»Und warum die anderen dich nicht gesehen haben? Nun ja, sie leben in der weißen Zeit. Deshalb.«



»Das verstehe ich nicht. Was bedeutet das: in der weißen Zeit leben? Sie haben sich doch auch gegenseitig gesehen. Sie haben sich unterhalten. Warum haben sie

mich

nicht gesehen?«



»Du weißt nicht, was die weiße Zeit ist«, antwortete Krina. »Deshalb verstehst du das alles nicht. Wenn man in der weißen Zeit lebt, sieht man nur die Menschen, mit denen man sich in Übereinstimmung befindet, in Harmonie, verstehst du? Alle anderen sieht man nicht, man hört sie nicht, sie sind überhaupt nicht da. Manche von uns können viele von den anderen sehen, manche sehen nur wenige. Es gibt aber keinen, der alle anderen sieht. Ich habe dich die ganze Zeit über gesehen. Ich nehme an, dass ich die Einzige bin, die dich sieht.«



»Und wer lebt alles in der weißen Zeit?«, fragte Georg weiter.



»Man wird in der silbernen Zeit geboren. Dann, wenn man kein Kind mehr ist und nicht mehr versorgt werden muss, kommt man in die weiße Zeit. Die weiße Zeit verlässt man, wenn man jemanden gefunden hat, mit dem man sein ganzes Leben verbringen möchte. Von diesem Zeitpunkt an kann man übrigens alle anderen sehen. Vorher nicht. Ja, und dann kommt noch die grüne und die braune Zeit. Solange man kräftig ist und arbeiten kann, bleibt man in der grünen Zeit und sorgt für alle anderen Zeiten mit. In der braunen Zeit blickt man auf das Leben zurück und bemüht sich um die Weisheit.«



»Das ist seltsam«, sagte Georg. »Bei uns ist das ganz anders. Bei uns leben alle in Familien. Die alten Leute leben manchmal in Altenheimen. Wenn sie nicht mehr für sich selbst sorgen können.«

 



»Das ist sehr interessant«, hörte Georg in seinem Kopf. »Ich möchte noch mehr erfahren. Mir scheint, ihr lebt wirklich ganz anders. Obwohl ihr uns so ähnlich seht. Aber wir müssen jetzt zurückgehen. Es wird bald dunkel werden. Das Tor wird gleich geschlossen. Die Vögel sind alle schon zurückgeflogen. Komm!«



Georg sah auf seine Uhr. Er konnte das Mädchen nicht begleiten, denn in einer knappen halben Stunde wurde die Box automatisch zurückgeholt. Die Zeit war festgelegt, er konnte sie von hier aus nicht verändern. Das sagte er auch zu Krina.



»Wo ist diese Box?«, fragte Krina.



»Dort«, antwortete Georg und deutete mit dem Finger in die Richtung, in der die Box stand.



»Kannst du morgen wiederkommen?«



»Morgen? Was bedeutet für euch

morgen?«



»Morgen, das ist dann, wenn die Vögel das nächste Mal hierher fliegen.«



»Das ist nicht besonders genau«, sagte Georg. »Man kann hier auch keine Sonne sehen, sonst könnte ich berechnen, wie lange ein Tag bei euch dauert.«



»Ich möchte, dass du wiederkommst.« Krina lächelte. »Komm bald zurück, ja?«



»Ja«, sagte Georg, »sobald die Box aufgeladen ist, komme ich zurück. Ich verspreche es dir.«



»Ich kann dich leider nicht begleiten, sonst komme ich zu spät.«



Krina hob langsam die Hände, sodass ihre Handflächen zu sehen waren. Dann schloss sie die Augen und senkte langsam den Kopf. Vermutlich war das die Geste, mit der man sich hier verabschiedete.



Georg streckte die Hand aus und ergriff Krinas rechte Hand: »Es ist sehr schön hier.«



Krina lächelte. Ihre durchsichtig blauen Augen sahen direkt in seinen Kopf. Sie kannte die Bedeutung seiner Äußerung aus den Gedanken. Deshalb wusste sie jetzt vermutlich, was er ihr sagen wollte. Er war ein wenig verlegen und dachte einen Augenblick lang daran, die Box allein zurückkehren zu lassen. Aber dann drehte er sich um und lief schnell davon.




Genau zum vorberechneten Zeitpunkt wurde die Chronobox aus dem einen in den anderen Kosmos herübergerissen. Jetzt wurde Georg nicht mehr ohnmächtig, sondern saß nur nach der Ankunft ungefähr eine Minute unbeweglich da. Dann drückte er auf den Knopf für die Innenbedienung des Flaschenzugs. Der schwere Verschluss der Box wurde langsam wieder nach oben gezogen, und Georg stieg aus. Als Erstes verglich er seine Armbanduhr mit der Laboruhr. Er hatte fast neun Stunden auf dem anderen Planeten verbracht. Hier auf der Erde aber waren seit seiner Abreise nur sieben Minuten vergangen.



Das war zu erwarten gewesen. Georg gab alle verfügbaren Werte nach einem vorbereiteten Programm in einen kleinen Rechner ein. Der Computer sollte die Daten herausfinden, durch die Krinas Planet bestimmt war. Außerdem musste sichergestellt werden, dass die Box beim nächsten Mal nicht tausend Kilometer vom ersten Ankunftsplatz entfernt eintraf.



Als er die Werte eingegeben hatte, wandte sich Georg dem Aufladegerät zu und schaltete es ein. Er wollte zum frühestmöglichen Zeitpunkt wieder starten und Krina wiedersehen. Der Ladevorgang dauerte mehr als sieben Stunden. Das gab ihm die Zeit, um in die Küche zu gehen. Er hatte Hunger, denn die Stunden auf dem fremden Planeten hatte er ja wirklich erlebt. Georg ging durch das Haus. Die vertraute Umgebung schien zufällig und warm und sehr angenehm. Und doch: Über allem lag, dünn und durchsichtig wie ein hauchfeiner Film, die Sehnsucht nach der fernen Welt.




Als Herr und Frau Klein und Katia, ihre Tochter, am Sonntag Abend von ihrem Wochenendausflug zurückkamen, fanden sie das Haus leer. Georg war nicht da. Niemand war beunruhigt, und erst am Abend gegen zehn Uhr begann Frau Klein bei Schulkameraden ihres Sohnes anzurufen, um zu fragen, ob sie Georg am Wochenende getroffen hätten und ob er sich vielleicht noch bei ihnen aufhalte. Keiner hatte Georg Klein in den vergangenen Tagen gesehen. Am nächsten Vormittag ging Frau Klein zur Polizei, um ihren Sohn all vermisst zu melden. Es schien ihr, als nähme der Beamte, der die Vermisstenanzeige auf ein Formblatt schrieb, die Angelegenheit nicht sonderlich ernst. Die meisten der als vermisst gemeldeten Jungen würden nach einigen Tagen erfahrungsgemäß wieder auftauchen, sagte der Polizist am Ende.



Georg Klein tauchte nicht wieder auf. Auch nach einer Woche nicht. Jetzt schaltete sich die Polizei ein: Fragen über Freunde und Gewohnheiten und Fragen nach möglichen Gründen für sein Verschwinden wurden gestellt. Die Nachforschungen nach dem Verbleib den Schülers Georg

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