Die schweren Jahre ab dreiunddreißig

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Komm, Erster Mai!
Jährliche Rede zum Tag der Arbeit

»HERAUS ZUM 1. MAI!« heißt eine alte Parole, die der Anarchist Fritz Teufel vor einigen Jahren aus der Gefängniszelle heraus so kommentierte: »Mir ist auch jeder andere Termin recht.« Dem kann ich nur zustimmen: Das Jahr hat 365 Tage, da muss nicht alles an diesem einen wegerledigt werden. Man kann es ruhig angehen lassen am Ersten Mai; es ist ein schöner Tag zum Schlachtenbummeln. Leicht aufgepeitscht von sog. »Frühlingsgefühlen« – die Vögel, die Bienen und alles, jaja – stromert und strolcht man durch die Straßen und setzt sich den Vibrationen seiner Mitmenschen aus, wird mit den Augen vernascht und vernascht zurück, in der Luft knistert eine allgemeine, sehr freundliche Geilheit, man pimpert mit Blicken und in Gedanken, aber auch in Worten und Werken, nimmt seine Süße, einmal her und einmal hin, und spielt ein schönes Spiel. Es heißt »Zusammenlegung jetzt!« Oh ja, so soll das sein, und kann man den Kampftag der Arbeiterklasse angemessener ehren als so?

Natürlich kann man sich auch ernsthafter amüsieren gehen und z.B. bei einer Demonstration des DGB mitmarschieren. Denn so unsympathisch einem Gewerkschaftsfunktionäre, die Phänotypen von Korruptheit und geistiger Fettarschigkeit, auch sein mögen: Gewerkschaften sind, salopp gesagt, ganz ganz prima und können gar nicht stark genug sein. Denn ginge es nach denen, die idiotischer- und perfiderweise »Arbeitgeber« genannt werden – obwohl sie ja Arbeitnehmer sind, denn sie nehmen die Arbeit von denen, die ihre Arbeit und Arbeitskraft geben, die also die wahren Arbeitgeber sind, und sie bezahlen sie immer zu schlecht –, ginge es also nach der Nase der »Arbeitgeber« sich nennenden Arbeit-Nehmer, die Lohnabhängigen würden in Positionen von vor ca. 100 Jahren zurückgeboxt und hätten noch dankbar dafür zu sein. Denn das ist ja der Zweck, wenn man die, die ihre Arbeit geben, »Arbeitnehmer« nennt: ihnen das Bewusstsein, den Stolz, kurz: das Rückgrat zu brechen und sie auch noch zu verhöhnen. »Säg nicht am Ast, auf dem wir alle sitzen!« hebt die auf anderer Leute Knochen reich gewordene Bande noch den Moralfinger – als ob »wir alle« eine Fabrik besäßen (oder auch bloß eine besitzen wollten). Nein, den »sozialen Unfrieden« muss man nicht herbeireden, er ist da, er herrscht.

Freunde eines verschärfteren Unterhaltungsprogramms werden am Ersten Mai in Kreuzberg gut versorgt: Dort findet die jährliche »letzte Schlacht« statt: Junge Helden in schwarz treffen auf Vertreter des »Schweinesystems« bzw., so will es der 1992er Jargon, »der imperialistischen Ausbeuter-Power« in waldgrün. Nicht, dass mir das Herz bräche, wenn Scheiben von Bankfilialen klirren, Schnapsläden niedergetrunken und Polizeiautos angezündet werden, aber muss man »die Weltrevolution« (darunter tun sie’s nicht) bei der Polizei anmelden und sie jedes Jahr am selben Tag und im selben Bezirk begehen? Anstatt sie immer wieder räumlich und zeitlich ein bisschen zu verlegen, damit das Spiel für die Aktiven auf beiden Seiten und für die Zuschauer spannend bleibt? (Ein kleiner Leckerbissen am Rande sind in jedem Jahr die Versuche des Kreuzberger alternativen Mittelstands, sozialarbeiterische Arschkriecherei als »Vernunft« auszugeben und sich schlichtend zwischen die Kontrahenten zu stellen. Bisher haben sie noch immer bekommen, was sie verdienen: tüchtig Haue von beiden Seiten.)

Möglichkeiten, den Ersten Mai fröhlich und stimmungsvoll zu begehen, gibt es also reichlich. Mancher nimmt sich vielleicht auch nur still ein Winkelement und wedelt ein letztes Mal. Und drückt vor Rührung eine Träne ab, wg. »früher«.

Ich wünsche alle Beteiligten an den Feierlichkeiten zum Ersten Mai den Spaß, den sie sich wünschen. Auf dass es ein eindrucksvoller Tag werde, eben einer von 365 im Jahr.

1992

Eiapopeia mit Negern

HEISSA: WIR BEGEHEN DIE Woche des ausländischen Mitbürgers. Heißa und Hosianna: Wir bilden Menschenketten aus Ketten-, nein Quatsch!, aus Nervensägen. Wir haben nichts zu verlieren als unsere Menschenketten. Wir zünden Kerzen an, Lichtlein der Wärme und Liebe in einer kalten, kalten Welt. Wir nehmen uns bei den Händen und tanzen Ringelreihen: Seht her – wir fassen Ausländer an. Sogar ganz dunkle, sogar kohlenschwatte. Jaha. Sind wir nicht gut? Doch: Wir sind gut, Gutsein ist gut, alles wird jut, tut tut tut. Wir hauen – Bongo! Bongo! – auf das Fell von toten Tieren, arhythmisch, aber begeistert, in kuhäugiger Verzückung. Schramm schramm macht die Gitarre. Wir hampeln im Kreis und singen Lieder. Jesus macht auch mit bei uns. Das ist gut. Jetzt singen die ausländischen Mitbürger. Es sind Neger. Sie singen »Nggolloah hee, nggolli huu«, immer wieder, »Nggolloah hee, nggolli huu«, sie sehen schön aus dabei, fröhlich. Sie ermuntern uns, mitzutun, und so singen schon bald auch wir: »Nggolloah hee, nggolli huu« und schunkeln dabei. Was heißt »Nggolloah hee, nggolli huu«? Weiße Mann viel Scheiß in Kopp? Ja, genau das heißt es. Aber das wissen wir nicht. Wir singen nur ein schönes Lied für eine bessere Welt, in der ein Kind noch ein Rind sein darf, in der es Batterien nur für Taschenlampen, aber nicht für Hühner gibt, in der wir bedenkenlos die Milch glücklicher Schweine trinken können. Prost! Ein Toast auf uns und das Haus der Welt, an dem wir bauen: Aus Holz von gewaltlos gefällten Bäumen wird es sein und selbstverständlich nestwärmeisoliert. Und wenn es fertig ist, dann machen wir, die Schäfchen, ein kleines Schläfchen: mäh mäh, bzw. »Nggolloah hee, nggolli huu«.

1993

Vokabeltest

»IHR HABT AUF HEUTE WÖRTER GELERNT!« – mit dieser ebenso drohenden wie unzutreffenden Behauptung betrat fünfmal die Woche Lateinlehrkraft Frl. Gebauer, eine kleine, zähe und energische Person mit viel Haar auf den Zähnen und einigem davon auf der Oberlippe, den Klassenraum. »Wörter gelernt«, d.h. Vokabeln gepaukt hatte man eben nicht, und so fürchtete man sich nicht wenig, denn ein Entkommen gab es selten oder nie: »Zehn Minuten Vokabeltest!« Und wenn auch die Segnungen bzw. Verwüstungen des Latinums lange verweht sind – die Vokabeltests, die vergeblichen Versuche, Kauderwelsch und wichtigtuerisches Gebrabbel in Sprache zu transponieren, haben seitdem nicht aufgehört.

Nein, ich spreche hier nicht von Fachchinesisch oder vom oft gegeißelten Behördendeutsch. Aber haben Sie jemals versucht, eine Kommandoerklärung der RAF ins Deutsche zu übersetzen? Was sind Ihre geheimen Gedanken, wenn Sie Sportkommentatoren des Satans wie Heribert Fassbender oder Dieter Kürten Worte wie Nickligkeiten oder Standardsituationen raunzen hören? An was denken Sie bei Spielerfrauen? Sind Sie vielleicht selbst ein Gurtmuffel? Kaufen Sie im Schnäppchenmarkt? Oder bevorzugen Sie Restposten? Haben Sie eine Lebensgefährtin bzw. einen Lebensgefährten? Buchen Sie Ihren Resturlaub zum Schnupperpreis? Fühlen Sie sich wohl in der Okay-Gesellschaft? Und wie denken Sie über eine Ampelkoalition?

Gleichermaßen wunder- wie qualvolle Gelegenheiten, den eigenen Wortschatz zu mehren, sind Wahlabende. Aus veritablen Sprech- und Sprengköpfen eimert es dann mit beneidenswert fröhlicher Dummheit heraus, man gibt sich dabei auch noch dezidiert, und das macht die Sache erst richtig schön. Am 24. Mai 1992, am Abend der Berliner Kommunalwahlen, saß ich, Ohren und Bleistift gespitzt, vorm TV-Apparat und ließ meinen Zoologischen Blick über Erscheinungen schweifen, deren Namen und Gesichtszüge man sich zum Glück nur selten merken kann. Auf und zu klappten die Münder, Berlin habe Brennglasfunktion, fiel aus einem heraus, der Rest der Bande nickte beflissen. Schade eigentlich, dachte ich, dass man Berlin nicht einfach wie eine Lupe nehmen, mit ihr den Rest des Landes in Brand stecken und sie hinterher, umweltgerecht natürlich, im nächsten Altglascontainer entsorgen kann!

Allerhand Sonderbares gab es zu erfahren, ein sich vor die Kameras drängender Mensch von der CDU knarrte verdrießlich über den Erfolg der »Kommunisten im Ostteil der Stadt«, ach, dachte ich, da gibt’s noch welche, bis mir dann klar wurde, dass er bloß die PDS meinte, die Partei des Demokratischen Selbstmitleids. Ihr Abgesandter André Brie, eine Art Jesus Christus mit offenem Hemdkragen, wurde nicht müde, die ungerechte Behandlung seiner Partei durch die Konkurrenz und durch die Medien zu bejammern. Was hatte er denn gedacht? Nein, wer ans Grundgesetz glaubt wie an Bibel, Weihnachtsmann und Klapperstorch, der kriegt, was er dafür verdient: einen kräftigen Tritt und höhnisches Gelächter. Denn es gibt, zumal ästhetisch, etwas Schrecklicheres als die Henker, und das sind die Märtyrer.

Rechtschaffen müde und schläfrig gelabert lag ich vor dem Fernsehkasten, da weckte mich noch einmal ein schönes Wort: Den Parteien mangele es an Bindungsfähigkeit, hieß es gleich mehrfach; eine kleine Gesundbeterei dafür, dass gerade noch gut jeder Zweite es für sinnvoll oder notwendig hält, sich an die Urne zu schleppen. Etwa die Hälfte der Insassen des Landes verzichtet auf die Wahl der Qual; Politik kostet sie ein müdes Arschrunzeln. Angesichts dieser Politikverdrossenheit, so lehrte mich das TV-Gerät, müsse die Politik wieder attraktiver werden. Genau: In der Sänfte will ich ins Wahllokal getragen werden, von den Kandidaten persönlich natürlich, die ich dabei nach Gutdünken herumkommandieren und beschimpfen darf! Jugendliche Erstwähler werden per Skateboard in die Wahlkabinen verbracht, für Feministinnen gibt es Urnen nur für Frauen, und alle Wählerinnen und Wähler erhalten herrliche Geschenke: Dampfbügeleisen, Werkzeugkasten, ein Pfund Butter, die Teilnahme an einer Verkaufsveranstaltung in den Hinterzimmern der Wahllokale ist möglich. Große Tombola!

 

Weit entfernt rauschen die Lotterieergebnisse an mir vorbei. Ich liege in einer schattigen Ecke meiner Wohnung und warte, dass der Sommer vergeht – damit ich endlich wieder meinen Übergangsmantel tragen kann.

1993

Der Letzte macht die Lichterkette aus
Abschließende Einlassung zu einer lästigen Angelegenheit

»Oh wie trügerisch sind Menschenherzen: Ist kein Verstand da, nehmen sie Kerzen.«

Kurt Ossietzky 1932

»WAHR IST«, SCHREIBT GIOVANNI DI LORENZO im Spiegel vom 8.2.1993, »dass die Lichterkette gerade Ausländern und Juden, nicht nur in unserer Initiative, wieder Mut gemacht hat, in Deutschland zu leben.« Abgesehen mal von der Frage, ob den zitierten »Ausländern und Juden« damit ein besonders kluger Dienst erwiesen wurde, ist der Satz pure Selbstgefälligkeit – di Lorenzo gehört schließlich zu den Leuten, die die Lichterkette von München ausgeheckt haben. (Und demnächst rezensiert im selben Blatt André Heller sein jüngstes Bühnengehampel – wäre doch auch schön.)

Aber nicht nur Jungschmock und Talkshowschöngeist di Lorenzo erhielt Gelegenheit, sich selbst öffentlich Spitzennoten für gutes Betragen auszustellen. Im Neuen Deutschland vom 30.l.1993 pries der Berliner Kabarettist Martin Buchholz die von ihm u.ä. Kunstgewerblern (Volker Ludwig, Reinhard Mey usw.) angezettelte sog. »Lichterspur« auf Seite Eins an. Buchholz, dessen kopfmäßige Beschaffenheit schon aus dem Titel seines jüngsten Programms – »Dumpfland Dumpfland (...) Ein viel zu aktuelles Pro- und Antigramm« – gut ersichtlich ist, rhabarberte von »Erhellung der germanischen Hirnfinsternis« und stilisierte seine weizsäckerkompatible Moral- statt-Verstand-Veranstaltung zum verschärften »Protest«. Und warum auch nicht? In Zeiten, wo alles mit allem verquarkt wird und die Insgesamtidiotie des Daseins in bislang so noch nicht gekanntem Ausmaße vor sich hinbrummt, da kann ein Kabarettist, ein Mitglied jener Berufsgruppe, die für ein Gutteil der öffentlich abgesonderten Flachpfeiferei und desgleichen für Gesinnungsabgreifertum, semi-humanoides Fortschritts- und Menschheitsgedussel u.ä. Pein und Qual und Ohrenzwang verantwortlich ist, nicht zurückstehen. Und hätte man es ausschließlich mit Figuren wie di Lorenzo, Buchholz, Weizsäcker und den ihnen assoziierten Starksängern W. Niedecken, M. Müller-Westernhagen, P. Maffay usw. sowie noch den Unterschriftgebern bei PR-Aktionen à la »Ich bin ein Ausländer« bzw. etwas später »Mein Freund ist Ausländer« – wie nun bitte? – zu schaffen, mit jener halbseidenen Mischpoke also, die die sog. »Prominenz« und die sog. »politische Klasse« stellt, man könnte achselzuckend seiner Wege gehen und die Bagage ihrem onanistischen Unfug überlassen.

Kann man natürlich auch so. Für alle aber, die außer ihren Ohren und Augen noch weitere gute Gründe brauchen, um dem aus Friedenscamp und Mahnwache zwingend hervorgegangenen Tugut-Aktionismus von Lichterkette, -spur und -meer fernzubleiben, hier eine kleine Liste möglicher Einwände (ohne Anspruch auf Vollständigkeit): Schuhverkäufer (Schuhtick), Herrenausstatter (de Kalb), Werbehengste (Schirner), Buchhändler usw. schalten seit Monaten anstelle ihrer üblichen Geschäftsanzeigen vage, wachsweiche Appelle gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit; die Botschaft der Gesinnungsimpressarios lautet: Hey Leute – kauft beim guten Deutschen!

Wer in Deutschland aus dem einzigen Grund, kein Deutscher zu sein, totgeschlagen, verbrannt o.ä. ums Leben gebracht, also das Opfer eines Mordes wird, gilt den hiesigen Landsleuten nicht in erster Linie als solches; nicht von Mord – der entsprechend zu ahnden wäre – ist die Rede, sondern von einem Anschlag auf das deutsche Volk und sein Image im Ausland. Soviel Kaltschnäuzigkeit muss man erstmal besitzen. Der Zweck der Lichterketten ist eben nicht ein antirassistischer, sondern ein rein kosmetischer: Die Politur des Deutschland-Bildes fürs Ausland.

Auch kritische Patrioten sind in erster Linie Patrioten. Die Lichterkette gibt auch jenen, die das Grüßen mit erhobener Rechter abstößt, Gelegenheit zum Anschluss ans bzw. Einstieg ins Vaterland; man ist dagegen gewesen und hat doch mitgemacht, man trat auf der Stelle und lief doch mit: In den 70ern hätte man so etwas »die Dialektik des kritischen Opportunismus unter besonderer Berücksichtigung der lange schmerzhaft unterdrückten Vaterländerei« genannt. Oder jedenfalls doch so ähnlich.

Es ist – politisch, ästhetisch (und von mir aus: moralisch) – nun einmal nicht ganz wurscht, mit wem man in einer Reihe steht. Bei einer Lichterkette z.B. mit den bereits o.g. Sängern Niedecken, Westernhagen, Lindenberg, Maffay, die für eine Anzeige des Bundesinnenministeriums mit der Parole Helfen statt Hauen zur Verfügung standen, mithin also die für das den Namen nicht mehr verdienende Asylrecht Verantwortlichen stützten, kritisch natürlich; z.B. mit Edzard Reuter u.a. exponierten Vertretern der deutschen Industrie, die in großen Anzeigen die Logik des Konzentrationslagers als Humanismus verhökern: Ausländer, die gute Arbeit geleistet haben oder leisten, dürfen bleiben, evtl. sogar am Leben; z.B. mit Karl Moik, dem Fleischsack vom Musikantenstadel, der demnächst Asylantenstadel heißen könnte, mit Verlosung eines abschiebesicheren Zellenplatzes und dem neuen Hit der Wildecker Herzbuben: »Kerzilein, oh oh oh Kerzilein, du darfst nicht traurig sein, es war doch nur der Wein, ich schlug ein paar Schädel ein ...«; auch Moik plädiert ja via TV-Spot für »friedliches Nebeneinander« o.ä. nichtssagenden, nichts verhindernden Krempel. Insgesamt wird der Lichterkettengänger feststellen, dass er Teil einer gigantischen Volksbewegung, -gemeinschaft und -genossenschaft ist, die angeblich ausschließlich höchst integre Ziele verfolgt; seltsam ist nur, dass die Zahl der Übergriffe auf Ausländer trotz aller gutvölkischen Mobilmachung nicht sinkt.

Das Wort vom »hässlichen Deutschen« kann man bitte streichen. Die Avon-Beraterin richtet gegen Nazis nichts aus. Der Wunsch, sich als »anderer, besserer, anständiger Deutscher« zu präsentieren, ist nicht nur Ausdruck des – s.o. – kritischen Patriotismus, sondern in seiner Selbstbezogenheit, in seiner prahlerischen Sensibilität allein für sich selbst extrem widerwärtig; am liebsten ließen sich die guten Deutschen am offenen Grab von Angehörigen Ermordeter die Absolution erteilen: Nein, du bist nicht schuld, du bist gut usw.

Auch das Zentralorgan der flotten Faschisten, die Junge Freiheit, singt in seiner Ausgabe vom Februar 1993 ein Loblied auf die Lichterkette. In Magdeburg fand am 16.1.1993 ein illuminierter Aufmarsch statt – am 48. Jahrestag des »Terrorangriffs anglo-amerikanischer Luftstreitkräfte«. 50.000 Friedensfreunde wollten sicherstellen, »nie wieder« vom Faschismus befreit werden zu müssen. So leicht kann das gehen bei einer derart rund umkompatiblen, beliebig für jedes Ziel verwendund verwertbaren Form wie der Lichterkette.

Reichlich wird gewütet gegen den staatlich sanktionierten Antifaschismus der DDR. Und so erstarrt, ritualisiert, phrasenhaft und pathetisch dieser als »verordnet« denunzierte Antifaschismus partiell auch war, so war er vor allem anderen jedoch eins: eine Lebensversicherung für die im Land lebenden Ausländer und Juden, die sich jetzt mit dem nichtverordneten Antifaschismus des Herrn di Lorenzo bescheiden müssen, der zwar irre phantasievoll, aber auch irre wirkungslos ist; es könnte sich erweisen, dass die angepriesene »Ermutigung« via Lichterkette den einen oder anderen Ermutigten das Leben kostet. Bürgersfrauen und -männer, die ihrem Staatsoberhaupt (wichtig: Mann mit Vergangenheit) nahe sein wollten, taten das in den 80er Jahren, indem sie mit Karl Carstens singend durch den deutschen Wald eierten. Heute sind die fortschrittlicheren VolksgenossInnen (hier stimmt das I) mit Richard von Weizsäcker in Sachen Lichterkette unterwegs und denken sich buchstäblich nichts dabei; die Carstens-NS-Wanderer waren vergleichsweise erträglich, weil sie nicht ständig von sich reden machten, was für tollklasse spitzenhumanistisch gesonnene Eins a Top- Mitmenschen und alles sie doch wären.

Wer sich mit der Selbstverständlichkeit, dass er das Anzünden und Totschlagen von fremden Menschen scheußlich findet, im Brustton des eigenen notorischen Gutseins auf die Straße stellt, muss jedes Gespür für Peinlichkeit verloren haben. »Ich bremse auch für Ausländer!« rufen und stolz drauf sein, geht einfach nicht.

Wem all das nicht reicht, der sei mit Reinhard Mey gestraft: Was ich noch zu sagen hätte / dauert eine Lichterkette / und ein letztes Fass im Stehn.

1993

Zur Dialektik von Vatermutterkind
Ein dringend erforderlicher Einwurf, geschrieben in schwerer Zeit

EINERSEITS IST GERADE DIE JUNGE, moderne, aufgeschlossene, ja aufgeklärte, bewusste, politisch um Himmels Willen keineswegs desinteressierte, undressierte und feministisch vollfrisierte Frau von heute zum Verzicht aufs Jungekriegen nun nicht länger bereit, sondern im Gegenteil zum Werfen, Gebären, Sichvermehren und Abmuttern wüst und wild entschlossen, so dass eine Fortsetzung von Kevin Costners »Robin Hood« unter dem Titel »Motherhood« wohl unabwendbar ins Haus steht;

andererseits fantert und gackert gerade diese Klientel über kein anderes Thema so gleichermaßen aufgekratzt wie ahnungslos durcheinander wie über das Modesujet der Saison 1992/93, Kindesmissbrauch. Denn über nichts lässt sich in entsprechenden Kränzchen und Runden, bzw. wenn der Fahrstuhl steckenbleibt, prickelnder und raumgreifender sprechen als über, so heißt das einschlägig, die diesbezüglichen eigenen »Erinnerungen und Nicht-Erinnerungen«, wobei noch zu klären wäre, was enervierender ist: das Sich-Brüsten mit tatsächlich Erlittenem, das Sich-Ergehen in permanenter Opfer-Gestik und -Rhetorik oder aber das Kramen in Nicht-Erinnerungen, das Zutagefördern erfundener Schrecken, um im Zuge der allgemeinen Wichtigmacherei nicht abseits stehen zu müssen;

drittens aber – auf These und Antithese folgt stets und zwingend die Prothese – hat die klassische Kleinfamilie als Organisationsform zur Sicherung des Populationsbestandes quasi ausgedient und verspielt, und das kleine Glück ist gleichermaßen fragil wie fragwürdig geworden, leicht geht alles in die Dutten und groß sind dann Ach und Krach;

und so kommt viertens und schlussendlich den jungen, frischgebackenen Vätern die schwere Aufgabe zu, sorgengepeitschte Mütter zu entlasten, beruhigend auf sie einzuwirken, ihnen mit Hilfe von vertrauensbildenden Maßnahmen die Angst, wenn nicht sogar die Ängste zu nehmen; denn wer Angst sagt, muss auch Ängste sagen, Angst vor der Zukunft z.B., oder, mit Björn gesprochen: »ein Stück weit Ängste vor den Zukünften«. In Zeiten allerdings, wo Woody Allen, der es wagte, ein Verhältnis mit einer zwar jungen, aber komplett volljährigen Frau zu haben, dennoch aber weiterhin seine kleine Tochter dann und wann auf dem Knie zu schaukeln, sie auf den Schoß zu nehmen u. dergl. und dafür in Emma von Alice Schwarzer zum Kinderficker deklariert wurde, als Verkörperung des Bösen schlechthin gilt – klar, Frau Schwarzer: Mann, Intellektueller, Komiker und auch noch Jude, das kann einfach nicht gutgehn –, in all dieser wirren Verzwacktheit aus Mutterschaft, bösen Onkels – nein, nicht auch noch die Nazi-Rocker mit ins allgemeine Gereiher hineingerührt, die sind hier nicht gemeint – und sog. »neuen Vätern« ist die Latte für den männlichen Erziehungsberechtigten hoch, sehr hoch gehängt, und unter den gleichsam hoffnungsvollen, wiewohl misstrauisch strengen Augen der Mütter kann es leicht zu einem folgenschweren Schnitzer kommen.

Ein Beispiel? – Nur zu gern: Kürzlich hatte ich Gelegenheit, Herrn Worgitzky, einem Kollegen und Neu-Vater, beim Wickeln seiner vier Wochen zuvor geschlüpften Tochter Charlotte zuzusehen. Ruhig und geduldig, sanft und liebevoll, befreite sich der gut erhaltene Vierziger freudig von seiner Aufgabe und sein Töchterchen von der Kinderkacke. Die Kleine juchzte wonnig, alles war eitel Harmonie und Glück, an dem teilzuhaben die Mutter jetzt nahte, und kaum stand das familiäre Trio vereint, da entfuhr es Worgitzky geistesabwesend: »Aah, Lolita, du kleine geile Schlampe ...«

 

Muss ich noch berichten, wie die Sache ausging? Von Worgitzkys Zwangseinweisung in ein sog. Männerhaus erzählen? Ich glaube kaum.

1993

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