Ängste von Kindern und Jugendlichen – Das Elternbuch

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Generalisierte Angststörung

JONAS, 9 JAHRE ALT, zeigte sich bereits im Kindergarten ängstlich, unsicher und zurückhaltend. In den Folgejahren trat dieses Verhalten immer stärker auf. Der Junge entwickelte eine ängstlich-sorgenvolle Grundstimmung. Seit etwa zwei Jahren reagiert er auf alle neuen Situationen mit Angst und Besorgnis und daraus resultierenden psychosomatischen Beschwerden (Bauchschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Schwitzen und Müdigkeit). Er äußert Angst, die Bezugspersonen zu verlieren, und ständig quält er sich mit dem Gedanken, dass »jederzeit etwas passieren kann«. Darüber hinaus spricht er über seine Angst vor schulischem Versagen, obwohl seine Leistungen in der Schule relativ gut sind. Die Eltern berichten von einem Urlaubsflug nach Tunesien. Schon vor dem Flug habe Jonas Angst geäußert und sei sehr aufgeregt gewesen. Im Flugzeug habe er über Bauchschmerzen geklagt und sich übergeben. Während des zweiwöchigen Aufenthalts in Tunesien sei diese Problematik ab und zu aufgetaucht, wenn sie neue Aktivitäten unternommen und immer wenn sich neue Situationen ergeben hätten. Während des Rückflugs habe er die gleichen Probleme gezeigt. Seitdem betone er immer wieder, dass er zu Hause bleiben und auch nicht mehr zur Schule gehen wolle. Sie, die Mutter, sei inzwischen völlig fertig von den ständigen Fragen, mit denen Jonas sie verfolge. Der Vater habe den Jungen oft beschimpft und ihn aufgefordert, sich endlich zusammenzunehmen. Seit dem ganzen Stress im Urlaub habe er resigniert und lasse sie mit den Problemen allein.

Wenn Kinder und Jugendliche übermäßige und unkontrollierbare Sorgen äußern, sich von diesen Ängsten überwältigt fühlen und Stunden damit verbringen, darüber nachzudenken, was während des vorangegangenen Tages passiert ist und was morgen passieren könnte, spricht man von einer generalisierten Angststörung. Inhalte der Sorgen und Ängste sind die Qualität ihrer Leistungen, die Fähigkeiten in der Schule oder beim Sport, die Pünktlichkeit, Naturkatastrophen wie Erdbeben, der Einschlag eines Kometen, Kriege oder mögliche Fehler, die vorausgesehen werden, und Schwierigkeiten, in die sie geraten könnten. Sie können beispielsweise jeden Tag große Angst davor haben, dass ein Krieg ausbrechen könnte, dass die Eltern vielleicht krank werden und sterben oder sie selbst einen Unfall haben. Wenn diese Kinder einen Fernsehbericht über einen Mordfall anschauen, kann es geschehen, dass sie beginnen, sich darüber Sorgen zu machen, selbst umgebracht zu werden. Sie scheinen nicht zu bemerken, dass ein Eintreten der Ereignisse, über die sie sich Sorgen machen, sehr unwahrscheinlich ist. Die Angst geht zumeist einher mit Ruhelosigkeit, Müdigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, Reizbarkeit, Muskelverspannungen und Schlafstörungen.

Die Kinder werden von den Eltern häufig als »Grübler« beschrieben, die der Überzeugung sind, dass sie wenig Einfluss auf den Ausgang einer Situation nehmen können. Manche Kinder verfügen über eine außerordentliche Fähigkeit, sich negative, höchst unwahrscheinliche Umstände einer Gegebenheit vorzustellen. Sie »nerven« Eltern und Lehrer mit ständigen Fragen über zukünftige Ereignisse oder die Beurteilung ihrer Leistungen. Ständig sind sie darum bemüht, Anerkennung und Bestätigung vor allem von Erwachsenen einzuholen. Wenn eine Klassenarbeit ansteht oder ein Referat gehalten werden soll, suchen sie den Schulbesuch zu vermeiden. Oft rufen sie aus der Schule an, klagen über psychosomatische Beschwerden und fordern, von den Eltern abgeholt zu werden. Die Kinder haben wenig Selbstvertrauen und eine geringe Selbstwirksamkeitsüberzeugung.

Panikstörung

DER 17-JÄHRIGE MAX erlebt seit einiger Zeit immer wieder plötzliche Angstzustände, die ihn in seinem Alltag sehr beeinträchtigen. Er hat dann Kreislaufprobleme, sein Herz fängt an zu rasen, er schwitzt, hat Atemnot und ein Erstickungsgefühl. Zum ersten Mal habe er die Symptome vor einem Jahr gehabt, sodass er mit dem Verdacht auf eine Herzmuskelentzündung ins Krankenhaus gekommen sei. Dort habe man aber bis auf einen leicht erhöhten Blutdruck keine körperlichen Auffälligkeiten feststellen können. Auch nachdem er beim Judo – den Sport betreibt er intensiv seit mehreren Jahren – auf der Matte fast zusammengebrochen sei, habe man keine körperlichen Ursachen feststellen können. Er sei ratlos und wisse nicht, was mit ihm los sei. Er fürchte sich vor diesen Angstzuständen, die völlig unvermittelt auftreten würden und so heftig seien, dass er Angst habe zu sterben. Inzwischen könne er nachts nicht mehr allein sein. Er nehme bei sich im Übrigen eine schnellere Ermüdbarkeit wahr und fühle sich durch seinen Körper »wie ausgebremst« und überhaupt sehr verunsichert. Viele Entscheidungen traue er sich nicht mehr zu.

Als Panikstörung werden zeitlich begrenzte Episoden akuter Angst bezeichnet. Charakteristisch ist das plötzliche, oft als nicht vorhersehbar erlebte Auftreten von Herzklopfen, Schwitzen, Atemnot und Erstickungsgefühl, Schwindel, Durchfall und Bauchschmerzen, Übelkeit, Zittern, Furcht zu sterben und Angst, verrückt zu werden oder die Kontrolle zu verlieren – dies die häufigsten Symptome bei Jugendlichen. Die Symptome erreichen typischerweise innerhalb von 10 Minuten ihren Höhepunkt und gehen dann im Laufe der nächsten 20 Minuten langsam zurück. Ein weiteres Kriterium ist die Angst, eine erneute Panikattacke zu bekommen, die den Jugendlichen nicht selten in einen Teufelskreis aus Angst und Angst vor der Angst treibt.

Über 90 % der ersten Panikanfälle treten an einem öffentlichen Ort auf, beispielsweise in Kaufhäusern, Kinos, öffentlichen Verkehrsmitteln oder bei Autofahrten. Die Jugendlichen vermeiden im weiteren Verlauf oft die Orte, an denen sie zuvor eine Panikattacke gehabt haben oder an denen nach ihren Befürchtungen eine Panikattacke auftreten könnte. Sie vermeiden auch Situationen, in denen möglicherweise keine Hilfe verfügbar wäre. Sie schränken ihre Aktivitäten ein. In schweren Fällen zeigen sie eine immer stärker werdende Tendenz, Alltagssituationen auszuweichen, bis sie sich schließlich weigern, das Haus überhaupt noch zu verlassen. Die meisten der Betroffenen fühlen sich nach einer Panikattacke müde, abgeschlagen und depressiv.

Eine Panikstörung tritt zumeist erst im Jugendalter auf. Häufig haben die Jugendlichen bereits im Kindesalter eine Angststörung mit Trennungsangst gezeigt. Die Panikstörung beeinträchtigt das Leben in erheblichem Maße. Kurz vor ihrem Beginn ist bei vielen Jugendlichen (rund 80 %) ein schwerwiegendes Lebensereignis wie eine plötzliche, schwere Erkrankung oder der Tod von nahen Angehörigen oder Freunden beziehungsweise eine Erkrankung des Jugendlichen selbst vorausgegangen.

Agoraphobie

LEA, 16 JAHRE, besucht die neunte Klasse eines Gymnasiums. Sie klagt über große Ängste vor dem Fahren mit einer Straßenbahn oder mit einem Bus. Sie habe einmal in einem überfüllten Bus Angstzustände erlebt und gefürchtet, keine Luft mehr zu bekommen und den Bus nicht schnell genug verlassen zu können. Seitdem verweigert sie die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Beim Einkaufen vermeidet sie Geschäfte, in denen sich viele Menschen aufhalten. Sie äußert die Befürchtung, beim Auftreten von Ängsten nicht schnell genug das Geschäft verlassen zu können. Lea ist schon immer ein Kind mit vielen Ängsten gewesen. Zu Beginn des Grundschulbesuchs hatte sie heftige Trennungsängste gezeigt, derentwegen die Familie eine Beratungsstelle aufgesucht hatte. Die Mutter leidet selbst an gelegentlich auftretenden Panikattacken und hat kaum Kontakte nach außen. Auch Lea besucht nur noch selten ihre Freundinnen von früher. Die Situation in der Familie ist sehr schwierig geworden. Gemeinsame Familienunternehmungen sind praktisch nicht mehr möglich. Der Vater versucht neben seinem Beruf, seiner Frau und Lea so gut es geht zu helfen. Er fährt seine Tochter jeden Tag zur Schule und holt sie dort auch wieder ab. Er erledigt nahezu alle Einkäufe und übernimmt alle zu erledigenden Termine, zeigt sich aber sehr belastet, erschöpft und ein Stück resigniert.

Die Agoraphobie ist eine Angststörung, die im Kindes- und Jugendalter selten auftritt und erst im jungen Erwachsenenalter den ersten Auftretensgipfel erreicht. Sie ist gekennzeichnet durch die Tendenz, bestimmte Situationen zu vermeiden, in denen Flucht oder Vermeidung nicht möglich oder Hilfe im Fall des Auftretens von Paniksymptomen nicht verfügbar ist. Charakteristisch ist die Angst vor dem Fahren in öffentlichen Verkehrsmitteln, vor dem Besuch von Räumen, in denen viele Menschen sind (Kaufhäuser, Kinos und Restaurants), sowie vor dem Fahren mit Autos oder dem Benutzen von Fahrstühlen. Die Jugendlichen fürchten beispielsweise, der Aufzug könne stecken bleiben oder im Kaufhaus würde ein Feuer ausbrechen und sie seien dann nicht mehr in der Lage, aus der Situation zu entkommen. Nahezu alle Situationen werden nun als bedrohlich erlebt, die eine Entfernung von einem »sicheren Ort« (meistens das Zuhause) oder eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit bedeuten – Situationen, in denen die Jugendlichen das Gefühl haben, »in der Falle zu sitzen«.

Prüfungsangst

BEN, DER DIE KLASSE 5 besucht, klagt seit einem Jahr vor jeder Klassenarbeit morgens über Bauch- und Kopfschmerzen und bittet dann halb trotzig, halb jammernd die Eltern, ihm eine Entschuldigung zu schreiben, damit er zu Hause bleiben könne. Die Nacht, so berichtet er, habe er kein Auge zugetan und immer an die Klassenarbeit denken müssen. Die letzten Arbeiten seien sehr schlecht ausgefallen, auch dann, wenn die Eltern sich zuvor überzeugt hätten, dass er den Schulstoff beherrsche. Ben schildert, dass er bei Klassenarbeiten in letzter Zeit oft vor dem Heft sitze und »ein Brett vor dem Kopf« habe, dass er »an gar nichts denke« oder dass ihm ständig dieselben Gedanken durch den Kopf gingen, wie: »Du schaffst das sowieso nicht!«, »Jetzt habe ich alles vergessen!«, »Die Aufgaben sind viel zu schwer!«, »Wäre ich doch nur zu Hause geblieben!«. In der letzten Zeit hat Ben nach Angaben der Eltern immer häufiger geklagt, er wolle gar nicht mehr zur Schule gehen, er sei ein Versager.

 

Von Prüfungsangst wird gesprochen, wenn Kinder oder Jugendliche auf Prüfungssituationen mit einem Übermaß von Sorge, körperlichen Reaktionen und als unkontrollierbar erlebten, sich selbst abwertenden Gedanken reagieren. Anders als bei anderen Ängsten wird die angstauslösende Situation aber eher selten vermieden, auch wenn ein Versagen bei schulischen Tests und Klassenarbeiten befürchtet wird.

Prüfungsangst ist ein verbreitetes Problem, das von der Hälfte aller Kinder und Jugendlichen in einer Phase ihres Lebens berichtet wird. Kinder mit Prüfungsangst weisen schlechtere schulische Leistungen auf als ihre Altersgenossen ohne Prüfungsangst. Darüber hinaus betrachten sie sich selbst als weniger sozial kompetent, haben eine geringere Selbstachtung und machen sich mehr Sorgen als andere Kinder.

Albträume

LEONIE, FÜNF JAHRE, wird morgens oft gegen 4:00 Uhr in der Frühe wach, schreit, ist nass geschwitzt und weiß nicht, wo sie ist, bis ihre Mutter oder ihr Vater das Licht anmachen. Sie drängt ins Bett der Eltern. Dort auf ihren Traum angesprochen, erinnert sie sich: Sie musste um ihr Leben rennen, wurde verfolgt von einer Gestalt, die sie in ein dunkles Tuch wickeln und wegtragen wollte. Leonie stolperte, fiel zu Boden, fühlte schon die Hand des unheimlichen Mannes – und wachte auf.

Fast die Hälfte der Kinder zwischen sechs und elf Jahren haben gelegentlich Albträume, 5 % sogar einmal pro Woche. Bis zur Pubertät leiden Jungen und Mädchen gleich häufig an Albträumen. Danach verschiebt sich das Verhältnis deutlich, und die Mädchen werden dreimal häufiger von angstmachenden nächtlichen Träumen heimgesucht. Aber solange das seltener als einmal die Woche geschieht und die Kinder keine Angst vor dem Einschlafen haben, besteht noch kein Grund zur Sorge. Albträume tauchen meist in der zweiten Nachthälfte auf.

Wenn die Kinder aus dem Traumschlaf aufschrecken, erinnern sie sich fast immer lebhaft an die gerade durchlebten Emotionen und Bilder. Solche Angstträume handeln oft davon, dass sie von einer mächtigen Person verfolgt werden. In rund der Hälfte aller Albträume flüchten die Schlafenden und drohen, ins Bodenlose zu stürzen. Die bedrohlichen Figuren sind in der Regel menschlicher Natur; Tiere oder Fantasiewesen wie Monster und Hexen tauchen seltener auf. Der häufigste Auslöser von Albträumen ist offenbar Stress etwa in der Familie, in der Schule oder im Freundeskreis. Tatsächlich kommen in Träumen oft Erlebnisse des vergangenen Tages vor.

Häufig mit Albträumen verwechselt wird der Pavor nocturnus, auch »nächtliches Aufschrecken« genannt. Er tritt üblicherweise im Tiefschlaf etwa eine Stunde nach dem Einschlafen auf – oft begleitet von einem Schrei. Die Eltern finden das Kind nicht selten im Bett aufrecht sitzend vor mit erhitztem Gesicht und in Schweiß gebadet. Es kann nicht über Angsterlebnisse berichten, äußert sich höchstens bruchstückhaft und unvollständig. Die Beruhigungsversuche der Eltern scheint es zunächst gar nicht wahrzunehmen. Wenn es dann aufwacht, blickt es erstaunt umher, ist verwirrt und kann sich an keine bösen Träume erinnern. Meist beruhigt es sich schnell und kann dann weiterschlafen.

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ANGSTSTÖRUNGEN VERSTEHEN
Die Kooperation des Angstzentrums mit der vorderen Hirnregion

Im Gehirn arbeiten bestimmte Regionen eng zusammen, die für die Sicherheit und das Überleben des Menschen sorgen. Dabei handelt es sich zum einen um das Angstzentrum (die Amygdala), das mit einem nahe gelegenen Bereich des Gehirns (dem Hippocampus) kooperiert, in dem Erinnerungen gespeichert werden. Wird von dem Menschen eine bestimmte Situation wahrgenommen, wird seitens des Angstzentrums mit diesem Bereich blitzschnell abgleichen, ob es sich dabei um einen mehr oder weniger vertrauten Reiz handelt oder um etwas völlig Unbekanntes oder auch Gefährliches. Ist Letzteres der Fall, wird im Bruchteil eines Bruchteils einer Sekunde eine Notfallreaktion ausgelöst, um den Menschen in kürzester Zeit optimal für einen Kampf oder eine Flucht vorzubereiten.

In den meisten Fällen allerdings wird die Erregung zur vorderen Hirnregion (dem präfrontalen Kortex) weitergeleitet, die die Aufgabe hat, in etwas ruhigerer Beurteilung, aber auch noch im Bruchteil einer Sekunde die Situation als bekannt oder unbekannt, gefährlich oder ungefährlich einzuschätzen. Kommt diese Hirnregion zu der Überzeugung, dass die Situation ungefährlich ist, werden hemmende Signale zum Angstzentrum gesendet, damit wieder Beruhigung eintritt. Erscheint die Sache zwar nicht lebensbedrohend, aber doch möglicherweise gefährlich, wird ein gewisses Maß an Angst aufrechterhalten, um den Menschen zu einem vorsichtigen Verhalten zu veranlassen.

Bemerkenswert ist, dass der präfrontale Kortex die Hirnregion ist, die am spätesten ausreift – häufig erst im jungen Erwachsenenalter. Dieser neurologische Befund erklärt die bekanntermaßen oft heftigen Gefühlsschwankungen im Jugendalter, die eine noch geringe Kontrolle durch den präfrontalen Kortex erfahren.

Angst – unser Freund und Helfer

Wenn man selbst oder sein Kind unter einem Zuviel von Angst leidet, dann kann man sich schwer vorstellen, dass Angst unser bester Freund und Helfer sein soll. Aber tatsächlich ist Angst das wichtigste Gefühl, das Menschen – wie alle Lebewesen – haben. Es veranlasst sie, gefährliche Dinge nur mit großer Aufmerksamkeit auszuführen, und bewahrt sie davor, ein Verhalten zu zeigen, das lebensgefährlich ist. Hätten unsere Kinder keine Angst, würden sie ohne Vorsichtsmaßnahmen auf hohe Mauern oder Bäume steigen oder auf die Straße laufen, ohne rechts und links zu schauen. Manchmal wird die Angst allerdings zu groß. Sie verhindert dann normale, ganz und gar nicht gefährliche Verhaltensweisen und löst viel Leid sowohl bei dem Kind als auch in der Folge bei den Eltern aus.

Schon vor zigtausend Generationen hat die Angst den Menschen im Kampf ums Überleben unterstützt und geschützt. Das geschieht, wenn unser Gehirn – wie oben dargestellt – in einem Bruchteil eines Bruchteils einer Sekunde zu der Überzeugung kommt, die Situation, in der sich ein Mensch befindet, könnte lebensgefährlich sein oder werden. Es wird dann eine Kaskade körperlicher Reaktionen ausgelöst, um den Körper in optimaler Weise auf Kampf oder Flucht vorzubereiten. Dieses Programm ist in allen Menschen – wahrscheinlich in ähnlicher Weise in allen Lebewesen – seit »ewigen Zeiten« fest verankert, und die meisten Menschen haben diese körperlichen Symptome in Augenblicken heftiger Angst bereits erlebt: Das Herz fängt an zu rasen und »schlägt bis zum Hals«, die Atmung wird schneller, was auch als Atemnot empfunden werden kann, die Muskeln werden angespannt, die »Knie schlottern«, wenn das Zittern der Muskeln Wärme produziert, und die Körpertemperatur steigt, sodass der Mensch anfängt zu schwitzen. Diese Reaktionen dienen dazu, den Körper in Gefahrensituationen auf Kampf oder Flucht vorzubereiten.

Angst als Signal für einen anstehenden Entwicklungsschritt

Angst schützt aber nicht nur, sondern sorgt auch für Entwicklung. Sie tritt auf, wenn sich beispielsweise einem Kind neue Aufgaben stellen, die seine Fähigkeiten herausfordern oder aber die Weiterentwicklung vorhandener Fähigkeiten verlangen. Das Kind erlebt dann Stress und Anspannung, was sich in dem Augenblick nicht angenehm anfühlt. Aber wenn die Herausforderung bewältigt wird, sind die Zufriedenheit und der Stolz umso größer. Allerdings kann es auch hier geschehen, dass die Angst und der damit einhergehende Stress ein so großes Ausmaß erreichen, dass die Fähigkeiten zum aktiven Handeln weitgehend blockiert und die Aufgaben nicht bewältigt werden.

Die neurobiologische Wissenschaft lehrt uns, dass Angst im Laufe unserer Stammesgeschichte der Motor war, wenn die Menschen gezwungen wurden, neue Entwicklungsschritte zu gehen. Kam es zu mehr oder weniger dramatischen Änderungen in der Umwelt des Menschen, verwies die Angst darauf, dass die bisherigen Bewältigungskompetenzen nicht mehr ausreichten und neue Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickelt werden mussten. Wenn dies gelang, kam es zu einem Zuwachs an Kompetenzen. Zuweilen allerdings waren die Anpassungsanforderungen so groß, dass alte Verschaltungsmuster im Gehirn zunächst abgebaut werden mussten, um neue aufbauen zu können. Solche Umbauprozesse werden durch große Angst und den damit einhergehenden Stress begünstigt. Diese sehr belastenden Stressreaktionen sind zuweilen erforderlich, damit Menschen sich ändern und neuen Anforderungen anpassen können.

Als Botschaft seines Buches Biologie der Angst formuliert der Neurobiologe Gerald Hüther1:

»Die Angst ist ein Signal, das im Gehirn entsteht und sich im ganzen Körper ausbreitet, wenn etwas nicht stimmt. Und wir brauchen diesen Schutzmechanismus, damit wir rechtzeitig die Kurve kriegen und unser Leben verändern. Hätten wir keine Angst, dann könnten wir auch nicht lernen, was wir anders als bisher machen müssen. Die Angst ist also nicht unser Feind, sondern unser Freund – manchmal ziemlich bedrohlich, aber bisweilen braucht es eben einen etwas kräftigeren Impuls, damit wir aufwachen und die gewohnten, aber unbrauchbar gewordenen Bahnen verlassen.«

Länger anhaltende Angst kann deshalb als ein Signal verstanden werden, wenn ein Mensch vor anstehenden Entwicklungsschritten ausweicht oder notwendige Entscheidungen bezüglich seines weiteren Lebens nicht trifft. Bei Kindern und Jugendlichen werden diese anstehenden Entwicklungsschritte häufig auch als Entwicklungsaufgaben bezeichnet, die sich ihnen zu den unterschiedlichen Zeiten ihres Lebens stellen, sei es beispielsweise bei der Trennung von der wichtigsten Bezugsperson beim ersten Kindergartenbesuch, bei der Weiterentwicklung sozialer Kompetenzen als Schulkind und schließlich bei der Ablösung aus der Familie im Jugendalter.

Allerdings werden diese im Laufe seines Lebens notwendigen Entwicklungsschritte nicht nur vom Kind allein vollzogen. Wenn ein kleines Kind beispielsweise den Schritt zu einem Kindergartenkind geht, muss gleichzeitig die Mutter von der ganz engen Verbundenheit mit dem Kleinkind Abschied nehmen, eine neue, etwas distanziertere Bezogenheit zu dem Kind entwickeln und die nun frei werdenden Stunden für eigene, persönliche Anliegen nutzen. Häufig noch schwieriger für die Eltern ist es, wenn etwa ihre jüngste Tochter im Alter von beispielsweise 17 Jahren zunehmend unabhängig wird und sich vom Elternhaus löst. Die Eltern müssen sich dann damit auseinandersetzen, zukünftig in einer Familie ohne Kinder zu leben: Sie müssen als Paar eine irgendwie neue Art der Beziehung zueinander entwickeln und anstelle der Erziehung und Betreuung des Kindes bzw. der Kinder einen neuen Lebensinhalt finden, um in den nächsten vielleicht 40 Jahren ein erfülltes Leben führen zu können. Der Wissenschaftler Klaus Schneewind spricht deswegen auch statt über Entwicklungsaufgaben von Kindern und Jugendlichen über Familienentwicklungsaufgaben. Im Anhang (S. 101) dieses Buches finden sie deshalb zwei Tabellen, in denen neben den in der Wissenschaft häufig beschriebenen Entwicklungsaufgaben eines Kindes und denen eines Jugendlichen jeweils die parallelen Entwicklungsaufgaben von Müttern und Vätern aufgeführt sind.

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