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Sie machte die Thür weiter auf und sah bei hellerem Lichte hinein.

Da lag der Mann, nach dessen Leben sie zum dritten Male getrachtet hatte, und schlief sanft und ruhig in dem Zimmer, das ihrem Gatten überwiesen worden war, und in der Luft, die Niemand ein Leid zufügen konnte!

Der Schluß, den sie hieraus unvermeidlich ziehen mußte, übermannte sie sofort. Die Hände krampfhaft emporhebend, taumelte sie in den Corridor zurück. Die Thür von Allan’s Zimmer fiel ins Schloß, doch nicht laut genug, um ihn aufzuwecken. Sie wandte sich um, als sie das Geräusch hörte; wie betäubt stand sie da und starrte danach hin. Dann, noch ehe ihre Vernunft sich wieder sammelte, trieb sie ihr Instinct zum Handeln. In zwei Schritten war sie an der Thür von Nummer vier.

Die Thür war verschlossen.

Wild und schwer fiel sie mit beiden Händen über die Wand her, um nach dem Knopfe zu suchen, auf den sie den Doctor hatte drücken sehen, als er seinen Besuchern das Zimmer zeigte. Zweimal entging er ihr, beim dritten Male halfen die Augen den Händen, sie fand den Knopf und drückte darauf. Der Regel drinnen sprang zurück, und die Thür fügte sich ihr.

Ohne einen Augenblick zu zaudern, ging sie in das Zimmer. Obgleich die Thür auf war, obgleich seit dem vierten Aufguß eine so kurze Zeit verflossen war, daß sich kaum erst die halbe Menge des erforderlichen Gases entwickelt hatte, so schlug ihr doch die vergiftete Lust entgegen wie der Griff einer Hand um ihre Kehle, wie ein eiserner Ring um ihren Kopf. Sie fand Midwinter am Fuß des Bettes aus dem Teppich liegen, den Kopf und den einen Arm der Thüre zu, als wäre er beim ersten Gefühl von Betäubung aufgestanden und über dem Versuch, das Zimmer zu verlassen, umgesunken. Mit jener verzweislungsvollen Kraftanstrengung, deren Frauen in Fällen der Noth fähig sind, hob sie ihn auf und zog ihn auf den Corridor hinaus. Das Hirn wirbelte ihr, als sie ihn niederlegte und auf ihren Knieen nach dem Zimmer zurückkroch, um die giftige Luft vom Gange abzusperren. Nachdem sie die Thür geschlossen hatte, wartete sie, ohne daß sie sich getraute ihn anzusehen, bis sie wieder ihre Kraft so weit gesammelt hatte, um sich zu erheben und ans Fenster über der Treppe zu gelangen. Sobald sie dies ausgerissen hatte, sobald die frische Luft des frühen Wintermorgens hereinwehte, wagte sie sich zu ihm zurück und richtete seinen Kopf empor, zum ersten Male ihm voll ins Gesicht blickend.

War es der Tod, der dies fahle Grau über seine Stirn und seine Wangen breitete und die düstere Bleifarbe ihm auf Augenlider und Lippen goß?

Sie lockerte seine Cravatte und knöpfte seine Weste auf, um Hals und Brust besser zugänglich zu machen. Ihre Hand auf seinem Herzen, mit ihrer Brust seinen Kopf unterstützend, sodaß er gerade auf das offene Fenster gerichtet war, wartete sie auf das, was geschehen würde. Eine Weile verstrich, eine Zeit von wenigen Minuten und doch lang genug, ihr ganzes Eheleben mit ihm ihr ins Gedächtniß zurückzurufen, lang genug, um den Entschluß zu zeitigen, der jetzt in ihrer Seele aufstieg, als das einzige Ergebniß, welches aus jenem Rückblick entstehen konnte. Wie ihre Augen auf ihm ruhten, prägte sich allmälig eine wunderbare Ruhe in ihren Zügen aus. Sie sah aus, als ob sie eben sowohl auf seines Wiederherstellung als auf die Gewißheit seines Todes gefaßt sei.

Kein Schrei, keine Thräne war ihr noch entschlüpft, kein Schrei, keine Thräne entrang sich ihr, als sie nach einer kleinen Weile das erste matte Schlagen seines Herzens und den ersten schwachen Athemzug an seinen Lippen hörte. Stumm beugte sie sich über ihn und küßte ihn auf die Stirn. Als sie wieder aufblickte, war die grimme Verzweiflung aus ihrem Antlitz gewichen. Etwas Strahlendes glänzte in ihren Augen, das ihr ganzes Gesicht wie mit einem inneren Lichte übergoß und sie wieder weiblich und lieblich machte.

Sie legte ihn nieder, nahm ihren Shawl ab und faltete daraus ein Kissen für seinen Kopf zusammen. »Es hätte schwer werden können, Herz«, sagte sie, als sie fühlte, wie der Athem in seiner Brust lauter und lauter wurde. »Du hast’s nun leicht gemacht.«

Sie stand auf, und den Blick wendend, bemerkte sie das Flacon da, wo sie es seit der vierten Dosis gelassen hatte. »Ach«, dachte sie ruhig, »ich hatte meinen besten Freund vergessen, ich hatte vergessen, daß noch mehr aufzugießen ist.«

Mit fester Hand, mit gelassenem, aufmerksamen Gesicht füllte sie den Trichter zum fünften Male. »Noch fünf Minuten«, sagte sie, als sie nach einem Blick auf die Uhr das Fläschchen wieder beiseite stellte.

Sie versank in Gedanken, Gedanken, welche die ernste und milde Fassung in ihren Zügen nur erhöhten. »Soll ich ihm ein Abschiedswort schreiben?« fragte sie sich selbst. »Soll ich ihm die Wahrheit sagen, ehe ich auf ewig von ihm gehe?«

Ihr kleiner goldener Bleistifthalter hing mit andern Spielereien an ihrer Uhrkette. Nachdem sie eine Sekunde lang sich umgesehen hatte, kniete sie vor ihrem Gatten nieder steckte ihre Hand in die Brusttasche seines Rocks.

Seine Brieftasche war darin; einige Papiere fielen heraus, als sie das Schlößchen derselben aufdrückte. Eins war der Brief, den Mr. Brock von seinem Sterbebette aus ihm geschrieben hatte. Sie schlug die beiden Blätter um, auf denen der Pfarrer geschrieben hatte, was nunmehr in Erfüllung gegangen war, und fand auf dem letzten Blatte noch eine freie Seite. Auf diese Seite schrieb sie, neben ihrem Gatten knieend, ihre Abschiedszeilen:

»Ich bin schlechter, als Du, selbst wenn Du das Schlechteste von mir glaubst, denken kannst. Du hast Armadale gerettet, dadurch daß Du heute Nacht das Zimmer mit ihm getauscht, und hast ihn vor mir gerettet! Jetzt kannst Du Dir denken, wessen Wittwe ich vorstellen wollte, wenn Du nicht sein Leben beschützt hättest, und wirst nun wissen, welches elende Geschöpf Du heirathetest, als Du das Weib nahmst, das jetzt diese Zeilen schreibt. Und doch hatte ich unschuldige Momente, und dann liebte ich Dich heiß. Vergiß mich, mein süßes Herz, in der Liebe zu einem bessern Weibe, als ich es bin! Vielleicht hätte ich dies bessere Weib selbst werden können, hätte ich nicht ein so jammervolles Leben gelebt, ehe wir uns kennen lernten. Jetzt kommt darauf nicht viel an. Das Einzige, was ich thun kann, das viele Böse, was ich gegen Dich verübt habe, wieder gut zu machen, ist, daß ich mein Leben hingebe. Jetzt, wo ich weiß, daß Du leben bleiben wirst, wird mir das Sterben nicht schwer. Selbst meine Verruchtheit hat ein Verdienst – sie ist gescheitert mit ihren Anschlägen. Ich bin ja niemals ein glückliches Weib gewesen!«

Sie faltete den Brief wieder und gab ihm die Blätter in die Hand, um so seine Aufmerksamkeit darauf zu lenken, sobald er wieder zu sich käme. Als sie sachte seine Finger um das Papier schloß und aussah, war die letzte Minute der letzten Zwischenzeit gekommen und starrte ihr von der Uhr herab entgegen.

Sie, neigte sich über ihn und gab ihm den Abschiedskuß.

»Lebe, mein Engel, lebe!« murmelte sie zärtlich, während ihre Lippen leise die seinen streiften. »Das ganze Leben liegt noch vor Dir, ein glückliches Leben und ein ehrenvolles Leben, wenn Du von mir frei bist.«

Mit einem legten zögernden sanften Kusse strich sie ihm das Haar aus der Stirn. »Es ist kein Verdienst, daß ich Dich geliebt habe«, sagte sie. »Du bist ja einer von den Männern, welche alle Weiber lieb haben.« Sie seufzte und ging von ihm; es war ihre letzte Schwäche gewesen. Dann nickte sie der Wanduhr zu, als wäre dies ein lebendiges Wesen gewesen, das mit ihr sprach, und füllte den Trichter zum letzten Male und bis auf den letzten Tropfen, der sich im Flacon befand.

»O Gott, vergib mir!« sagte sie. »O Christus, bezeuge, daß ich gelitten habe!«

Noch einen Augenblick blieb sie zögernd auf der Schwelle stehen, zögerte, um den letzten Blick in diese Welt zu thun, und dieser letzte Blick galt ihm.

»Fahre wohl!« sprach sie sanft.

Die Thür des Zimmers öffnete sich und schloß sich hinter ihr. Eine Minute tiefen Schweigens dann plötzlich ein dumpfes Geräusch, wie das Geräusch eines fallenden Körpers.

Dann wiederum tiefes Schweigen.

~~~~~~~~~~

Stetig ihrem vorgeschriebenen Laufe folgend, durchliefen die Zeiger der Uhr Minute um Minute. Es war die zehnte Minute, nachdem sich die Thür geöffnet und wieder geschlossen hatte, als Midwinter auf seinem Kissen sich regte und im Bemühen, sich aufzurichten, den Brief in seiner Hand bemerkte.

Im selben Augenblicke wurde ein Schlüssel in der Treppenthür umgedreht. Erwartungsvoll erschien der Doctor und sah erwartungsvoll nach dem verhängnißvollen Zimmer – da entdeckte er das Flacon auf dem Fensterstock und den am Boden hingestreckten Mann, der sich eben zu erbeben suchte.«

Siebentes Kapitel

Mr. Pedgift sen. (Thorpe-Ambrose) an
Mr. Pedgift jun.(Paris)
»High-Street, den 20. December.
Mein lieber Augustus!

Gestern habe ich Deinen Brief empfangen. Du scheinst Deine Jugend, wie Du’s nennst, nach Herzenslust zu genießen. Gut! Genieße Deine Ferienzeit. Als ich in Deinem Alter war, habe ich auch meine Jugend aufs beste genossen und, merkwürdig! ich habe es noch nicht vergessen.

Du fragst mich nach Neuigkeiten und bittest besonders um nähere Auskunft über die mysteriöse Geschichte im Sanatorium.

Die Neugier, mein lieber Sohn, ist eine Eigenschaft, die, namentlich in unserm Berufe, manchmal zu großen Resultaten führt; ob sie indes in diesem Falle viel ergibt, möchte ich bezweifeln. Alles, was ich über das Sanatoriumgeheimniß weiß, das weiß ich von Mr. Armadale, und in mehr als einem wichtigen Punkte tappt er völlig im Dunkeln. Wie sie in das Haus gelockt worden sind, habe ich Dir schon erzählt, ebenso, wie sie die Nacht dort zugebracht haben. Hierzu kann ich jetzt fügen, daß Mr. Midwinter bestimmt etwas passierte, was ihn seines Bewußtseins beraubte, und daß der Doctor, der in die Sache verwickelt zu sein scheint, sich aufs hohe Pferd setzt und in seinem Sanatorium nicht behelligt sein will. Es unterliegt nicht dem geringsten Zweifel, daß das elende Weib, wie es nun auch zu seinem Tode gekommen, todt gefunden worden ist, daß eine Leichenschau die Sache näher untersucht, daß es sich herausgestellt, daß sie als Kranke im Hause aufgenommen worden, und daß das medicinische Gutachten sich dahin ausgesprochen hat, sie sei infolge eines Schlagflusses gestorben. Meine Ansicht aber ist, daß Mr. Midwinter seine besonderen Gründe haben mag, mit dem Zeugniß, das er wohl hätte geben können, nicht vor die Oeffentlichkeit zu treten. Ebenso habe ich Grund zu argwohnen, daß Mr. Armadale aus Rücksicht für ihn mit seinen Aussagen zurückgehalten hat, und daß das Verdict bei der Leichenschau, ohne daß ich darum Jemand einen Vorwurf machen will, wie so viele andere bei ähnlichen Anlässen, einer ganz oberflächlichen Untersuchung der Sache entsprungen ist.

 

Nach meiner festen Ueberzeugung ist der Schlüssel des ganzen Räthsels darin zu suchen, daß das elende Geschöpf versuchte, als Mr. Armadale’s Wittwe zu figuriren, sobald sie die Kunde von seinem vermeintlichen Tode in den Zeitungen las. Warum aber und durch welche unbegreifliche Finten sie Mr. Midwinter bewogen hat, sie, wie der Trauschein darthut, unter Mr. Armadale’s Namen zu heirathen, vermag sich Mr. Armadale selbst nicht zu erklären. Aus dem einfachen Grunde, weil die Leichenschau sich nur auf die aus ihren Tod bezüglichen Umstände beschränkte, kam dieser Punkt bei der Untersuchung nicht zur Sprache. Auf die Bitte seines Freundes hat Mr. Armadale alsbald Miß Blanchard seinen Besuch gemacht und durch sie den alten Darch bitten lassen, über den Anspruch, der wegen des Wittweneinkommens bei ihm erhoben worden ist, unverbrüchliches Schweigen zu beobachten. Da der Anspruch niemals anerkannt worden ist, so hat sich selbst unser steifnackiger Herr College unverzüglich herbeigelassen, dem Anliegen zu willfahren. Demgemäß wurde die Angabe des Doctors, daß seine Kranke die Wittwe eines Gentleman Namens Armadale sei, unangefochten gelassen und so die Sache vertuscht. Sie ist auf dem großen Kirchhofe beerdigt worden, der sich in der Nähe ihrer Todesstätte befindet. Niemand als Mr. Midwinter und Mr. Armadale, der durchaus mitgehen wollte, hat ihr die letzte Ehre erwiesen, und auf ihrem Grabstein steht nichts weiter eingeschrieben als die Anfangsbuchstaben eines Taufnamens und das Datum ihres Todes. So ruht sie endlich nach allem Bösen, was sie gethan, und so haben die beiden Männer, denen sie Uebles zugefügt, ihr vergeben.

Du fragst ferner, ob Grund zu der Annahme vorhanden sei, daß der Doctor aus der Geschichte wirklich mit so reinen Händen hervorgeht, wie sie aussehen? Mein lieber Augustus, ich glaube, der Doctor ist schon in mehr schlimme Händel verwickelt gewesen, als wir je werden ausfindig machen können, und hat von dem Stillschweigen, das sich Mr. Midwinter und Mr. Armadale selbst auferlegt, seinen Nutzen zu ziehen gewußt, wie Schurken immer aus dem Mißgeschick und der Noth ehrlicher Leute ihren Nutzen zu ziehen wissen. Es steht fest, daß er wider die falsche Angabe hinsichtlich Miß Milroy’s nichts einzuwenden fand, und nach meiner Old-Bailey-Praxis ist das hinreichend für mich. Evidenz gegen ihn ist nicht das Jota da, und was eine Vergeltung anlangt, so kann ich nur von Herzen wünschen, daß sie in dem langen Laufe, den sie zusammen machen werden, schließlich die schlauere von beiden sein möge. Für jetzt ist dazu nicht viel Aussicht vorhanden. Wie ich höre, beabsichtigen die Freunde und Bewunderer des Doctors ihm ein Zeugniß zu überreichen, worin ihre Theilnahme bei dem traurigen Begebniß, das auf die Eröffnung seines Sanatoriums einen so tiefen Schatten geworfen, und ihr ungemindertes Vertrauen in seine Rechtschaffenheit und seine ärztliche Befähigung ausgedrückt werden sollen.

Wir leben, Augustus, in einer Zeit, welche das Gedeihen jedweder Schurkerei, die so vorsichtig ist, den nöthigen guten Schein zu wahren, außerordentlich begünstigt. In unserm aufgeklärten neunzehnten Jahrhundert betrachte ich den Doctor als einen Mann der in die Höhe kommen wird.

Um jetzt auf angenehmere Gegenstände als das Sanatorium zu kommen, will ich Dir mittheilen, daß Miß Neelie so frisch und gesund ist wie früher und nach meiner bescheidenen Meinung hübscher aussieht als je. Sie befindet sich unter der Obhut einer verwandten Dame in London, und Mr. Armadale überzeugt sie, falls sie es etwa vergessen wollte, Tag für Tag von dem Factum seines Daseins. Im Frühling soll ihre Hochzeit stattfinden, wenn nicht vielleicht Mrs. Milroy’s Tod die Festlichkeit aufschiebt; die Aerzte sind nämlich der Ansicht, daß die arme Dame endlich ihrer Auflösung entgegengeht. Es ist nur noch eine Frage von Wochen oder Monaten, wie sie sagen. Sie ist übrigens im höchsten Grade verwandelt, ruhig und sanft und mit ihrem Manne und ihrer Tochter äußerst zärtlich und liebevoll; nach dem Urtheile der Aerzte ist aber eben diese Wandelung ein Anzeichen ihres nahen Todes. Dem Major kann man dies schwer beibringen; er sieht nur, daß sie wieder ihrem bessern Selbst gleicht, wieder so wird wie damals, als er sie geheirathet, und stundenlang sitzt er an ihrem Bette und erzählt ihr von seiner wunderbaren Uhr.

Mr. Midwinter, von dem Du wohl zunächst etwas erfahren willst, geht rasch seiner Genesung entgegen. Nachdem er anfangs den Aerzten, nach deren Meinung er an einer bedenklichen Nervenerschütterung litt, über deren Ursachen der Kranke das hartnäckigste Schweigen beobachtete, ernstliche Besorgnisse eingeflößt hatte, erholt er sich jetzt, wie nur, um abermals den Ausspruch der Doctoren zu citiren, Menschen von seinem reizbaren Temperamente sich erholen können. Er und Mr. Armadale haben zusammen eine stille Wohnung bezogen; ich habe ihn besucht, als ich das letzte Mal in London war. Sein Gesicht zeigte noch die Spuren von Gram und Leiden, die an einem so jungen Manne traurig anzusehen waren, allein er sprach von sich selbst und seiner Zukunft mit einem Muthe und einer frohen Zuversicht, um die ihn Männer, doppelt so alt wie er, nach dem, was er, wie ich vermuthe, zu leiden gehabt hat, beneiden dürften. Verstehe ich mich nur etwas auf Menschen, so ist er kein gewöhnlicher Mensch, und wir werden noch Ungewöhnliches von ihm hören.

Du wirst Dich wundern, wie ich nach London gekommen bin. Ich bin mit einem Retourbillet (vom Sonnabend bis zum Montag) hinaufgefahren, um in der streitigen Sache mit unsern Agenten zu conferiren. Es war ein harter Streit, doch, merkwürdig genug, fiel mir gerade, als ich gehen wollte, der richtige Gesichtspunkt ein; ich nahm wieder in meinem Stuhle Platz und brachte die Frage in wenigen Minuten zur Entscheidung. Natürlich logirte ich in unserm Hotel in Covent-Garden. William, der Kellner, erkundigte sich nach Dir mit der Herzlichkeit eines Vaters, – und Mathilde, das Stubenmädchen, erzählte mir, daß Du sie bei Deiner letzten Anwesenheit in London fast beredet hättest, sich einen hohlen Zahn herausnehmen zu lassen. Ich hatte den zweiten Sohn unsers Agenten (den jungen Menschen, dem Du den Scherznamen Mustapha geegeben, als er einen solchen Heidenlärm wegen der türkischen Papiere erhob) am Sonntage zu Tische geladen. Abends passierte ein kleiner Vorfall, der, als im Zusammenhange stehend mit einer gewissen alten Dame, welche nicht zu Hause war, als Ihr, Du und Mr. Armadale, früher einmal ihre Wohnung in Pimlico aufsuchtet, vielleicht bemerkenswerth ist.

Wie alle Ihr jungen Leute von heute wurde Mustapha nach Tische unruhig. »Lassen Sie uns eine öffentliche Belustigung besuchen, Mr. Pedgift«, sagte er. »Oeffentliche Belustigung? Wie, am Sonntagabend?« erwiderte ich. »Ganz recht, Sir«, sagte er. »Gewiß, das Schauspiel auf der Bühne verbietet man Sonntags, aber das Schauspiel auf der Kanzel hindert man nicht. Kommen Sie und lassen Sie uns unsern neuesten Sonntagsdarsteller sehen.« Da er keinen Wein mehr trinken wollte, so blieb mir nichts übrig, als mit ihm zu gehen.

Wir begaben uns direct nach einer Straße des Westend und fanden sie mit Equipagen verbarrikadiert. Wäre es nicht eben Sonntag gewesen, so hätte ich gedacht, wir gingen in die Oper. »Was habe ich Ihnen gesagt?« spricht Mustapha, während er mich an eine offene Thür zieht, an welcher unter einem mächtigen Gassterne ein Zettel der Vorstellung angeheftet ist. Ich hatte gerade Zeit wahrzunehmen, daß wir uns zu einer der Sonntagsabendpredigten über den Prunk und die Eitelkeiten der Welt begaben, die ein »Sünder, der ihnen einst gedient hat«, abhält, als Mustapha mich an den Ellenbogen stieß und flüstert: »Eine halbe Krone ist der fashionable Preis.« Als ich mich umsah fand ich mich zwischen zwei gesetzten alten Herren mit Tellern in den Händen, die mit dem fashionablen Preis bereits außerordentlich gefüllt waren. Mustapha bevorzugte den einen, ich den andern Teller. Dann gingen wir durch zwei Thüren in einen langen Saal, der gedrängt voll Menschen war, und dort auf der Tribüne stand als Redner der Versammlung nicht ein Mann, sondern eine Frau, und die Frau war Mrs. Oldershaw! In Deinem ganzen Leben hast Du keine größere Beredtsamkeit gehört. Sie war, solange wir auch zuhörten, niemals um ein Wort oder einen Satz verlegen, und was den Inhalt ihrer Rede angeht, so kann ich sie als eine Erzählung von Mrs. Oldershaw’s Praxis unter gefallenen Weibern darstellen, die mit frommen und reuevollen Flosken verschwenderisch verziert war. Du wirst fragen, wer denn das Publikum ausmachte? Vor allen Dingen Weiber, Augustus, und so wahr ich selig zu werden hoffe, sämtliche alte Vetteln der fashionablen Welt, die Mrs. Oldershaw zu ihrer Zeit gefirnißt und emailliert hatte. Jetzt saßen sie keck auf den ersten Plätzen mit ihren rothgeschminkten Backen und befanden sich in einem Zustande andächtigen Amusements, der wunderbar anzusehen war! Ich wartete das Ende der Rede nicht ab und dachte bei mir, als ich hinausging, an das, was Shakspeare irgendwo sagt: »Herr mein Gott, was für Narren sind wir Sterbliche!«

Habe ich Dir noch etwas zu erzählen? Nur noch eins, soweit ich mich besinnen kann.

Der unselige alte Bashwood hat die Besorgnisse wahr gemacht, die ich, wie Du weißt, seinetwegen hegte, als er von London hierher zurückgebracht wurde. Es ist nicht der geringste Zweifel mehr, daß er wirklich das ganze bischen Verstand verloren hat, das er einst besaß. Er ist vollkommen unschädlich und vollkommen glücklich und würde uns gar keine Noth machen, wenn wir ihn nur abhalten könnten, in seinem neuen Anzug schmunzelnd und lächelnd umherzugehen und alle Welt zu seiner bevorstehenden Hochzeit mit dem schönsten Weibe in England einzuladen. Natürlich endet die Geschichte damit, daß ihn die Gassenjungen zu ihrer Zielscheibe wählen und daß er tagtäglich Schmutzbedeckt nach Hause kommt. Sowie seine Kleider wieder gereinigt sind, fällt er in seinen Lieblingswahn zurück und stolziert vor der Kirchenthür in der Rolle eines Bräutigams einher, der auf Miß Gwilt wartet. Wir müssen sehen, daß wir den armen Burschen für die kurze Zeit, welche er noch zu leben hat, irgendwo unterbringen. Wer hätte gedacht, daß ein Mann in seinen Jahren sich noch verlieben und daß das Unheil, welches die Schönheit jenes Weibes angestiftet hat, aus unsern alten Schreiber einen so traurigen Einfluß ausüben könnte!

Für jetzt aber Adieu, mein lieber Sohn. Wenn Du in Paris eine besonders hübsche Tabaksdose siehst, so denke, daß Dein Vater, obschon er Ehrengaben perhorrescirt, gegen ein Geschenk von seinem Sohne nichts einzuwenden hat.

Dein Dich liebender
A. Pedgift sen.

Nachschrift.Höchst wahrscheinlich ist der Streit, dessen, wie Du erwähnst, die französischen Zeitungen gedenken, jener verhängnißvolle Streit unter fremden Matrosen auf einer der Liparischen Inseln, bei dem ihr Kapitän ums Leben kam, wirklich ein Streit zwischen jenen Bösewichten gewesen, welche Mr. Armadale beraubten und seine Yacht in den Grund bohrten. Zum Glück für die menschliche Gesellschaft können diese Kerle nicht immer den äußern Schhein wahren und in ihrem Falle erreichte die Vergeltung gelegentlich einmal die Schurken.«