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Siebentes Kapitel

Sir Giles hatte es so eingerichtet, daß er auf den Bericht über den Verlauf der Sache in seinem Privatzimmer in dem Bankhause harrte, und so befand er sich denn dort in Gesellschaft von Dennis Howmore in gespannter Erwartung der kommenden Dinge.

Der Polizeisergeant betrat zuerst allein das Zimmer des Bankiers, um seinen Bericht zu erstatten. Er ließ die Thür offen stehen, so daß Iris alles hören konnte, was in dem Zimmer gesprochen wurde.

»Haben Sie Ihren Gefangenen erwischt?« begann Sir Giles.

»Ja, Euer Gnaden.«

»Ist der Schurke auch genügend gefesselt?«

»Ich bitte um Entschuldigung, Sir, aber es ist gar kein Mann.«

»Unsinn, Sergeant, es kann doch unmöglich ein Knabe sein.«

Der Sergeant erklärte, es sei allerdings kein Knabe. »Es ist eine Frau!« sagte er.

»Was???«

»Eine Frau,« wiederholte der geduldige Beamte, »und zwar eine junge. Sie fragte nach Ihnen.«

»Bringen Sie die Person herein.«

Iris gehörte nicht zu den Menschen, die warten, bis sie hineingeführt werden. Sie trat aus eigenem Antrieb in das Zimmer.

»Herr Gott im Himmel,« schrie Sir Giles, »Iris, Sie?! In meinem Ueberrock und mit meinem Hut in der Hand! – Sergeant, das ist ja ein furchtbarer Irrtum. Die Dame hier ist mein Patenkind, Miß Henley.«

»Wir fanden sie bei dem Meilenstein, Euer Gnaden. Diese junge Dame und sonst niemand.«

Sir Giles wendete sich hilflos an sein Patenkind:

»Was soll das heißen?«

Anstatt zu antworten, warf Iris einen Seitenblick auf den Sergeanten. Der Beamte, der sich seiner Verantwortlichkeit bewußt war, ließ sich nicht irre machen und blickte seinerseits Sir Giles an. Aber sein Gesicht zeigte deutlich, daß das jedem Irländer angeborene lebhafte Gefühl für Humor gekitzelt war; er verriet jedoch nicht die Absicht, das Zimmer zu verlassen. Sir Giles erkannte, daß sich das junge Mädchen in Gegenwart des Mannes auf keine Erklärung einlassen würde, und sagte daher:

»Sie brauchen nicht länger zu warten.«

»Bitte, was soll mit der Gefangenen geschehen?« erkundigte sich der Sergeant.

Sir Giles beantwortete diese höchst unnötige Frage durch eine abwinkende Bewegung seiner Hand. Er war dreifach verantwortlich – als Baronet, als Bankier und als Handelsrichter.

»Ich werde dafür sorgen,« entgegnete er, »daß Miß Henley erscheint, wenn das Gericht es verlangt. Gute Nacht!«

Dem Pflichtgefühl des Sergeanten war Genüge gethan. Er grüßte militärisch und bezeigte seine Ehrerbietung der jungen Dame gegenüber artig durch eine Verbeugung. Darauf schritt er würdevoll aus dem Zimmer.

»Jetzt darf ich,« begann Sir Giles, »wohl annehmen, daß ich eine Erklärung erhalte. Was hat dieses sonderbare, unpassende Benehmen zu bedeuten? Was hatten Sie an dem Meilenstein zu thun?«

»Ich habe die Person gerettet, welche die Zusammenkunft mit Ihnen verabredet hatte,« sagte Iris, »den armen Menschen, der nichts Schlimmes gegen Sie im Sinn hatte, der im Gegenteil alles aufs Spiel setzte, um Ihren Neffen zu erretten. O, Sir, Sie haben einen verhängnisvollen Fehler begangen, daß Sie diesem Mann nicht getraut haben!«

Sir Giles hatte sich auf Aeußerungen von Furcht und demütige Entschuldigungen ihrerseits gefaßt gemacht, und jetzt antwortete sie ihm entrüstet mit zornig erregter Stimme und mit Thränen in den Augen. Das Bewußtsein seiner eigenen Würde wurde dadurch auf das empfindlichste verletzt.

»Wer ist denn eigentlich der Mensch, von dem Sie sprechen?« fragte er in hochmütigem Ton. »Und was haben Sie für eine Entschuldigung, daß Sie nach dem Meilenstein gegangen sind, um ihn zu retten – verkleidet mit meinem Ueberrock und unter meinem Hut verborgen?«

»Verschwenden Sie doch nicht die kostbare Zeit mit Fragen!« lautete die verzweifelte Antwort. »Suchen Sie das Unglück ungeschehen zu machen, das Sie schon angerichtet haben! Ihr Dazuthun – o, ich weiß genau, was ich sage! – kann vielleicht allein noch Ihren Neffen Arthur vor einem schweren Unglück bewahren. Gehen Sie auf sein Gut und retten Sie ihn!«

Sir Giles verlegte sich jetzt auf eine andere Tonart, er nahm plötzlich die mehr oder minder gut gemachte Miene der Bereitwilligkeit an, zog seine Uhr aus der Tasche und betrachtete sie spöttisch.

»Muß ich mich entschuldigen?« fragte er scheinbar zerknirscht.

»Nein, Sie müssen nur so schnell als möglich gehen.«

»Gestatten Sie, Miß Henley, daß ich Sie darauf aufmerksam mache, daß der letzte Zug schon seit zwei Stunden abgefahren ist.«

»Was thut das? Sie sind reich genug, um einen Extrazug zu nehmen.«

Jetzt konnte sich Sir Giles, der Schauspieler, nicht länger verstellen; er ließ die Maske fallen und wurde wieder Sir Giles, der Mann, der er in Wirklichkeit war. Durch ein energisches Läuten mit der Glocke rief er Dennis herbei.

»Begleiten Sie Miß Henley nach Hause,« sagte er und fuhr, sich an Iris wendend, in strengem Ton fort: »Sie haben Zeit, während der noch übrigen Nachtstunden wieder Ihre fünf Sinne zu sammeln. Morgen früh will ich dann Ihre Entschuldigungen hören.«

Am nächsten Morgen stand das Frühstück wie gewöhnlich um neun Uhr bereit. Sir Giles befand sich aber allein an dem Tisch.

Er ließ einer der Dienerinnen sagen, sie möge an Miß Henleys Zimmerthür klopfen. Sir Giles mußte ziemlich lange warten, bis die Wirtschafterin in sehr erregtem Zustand selbst vor ihm erschien. Sie war in höchst eigener Person die Treppen hinaufgestiegen, um den Befehl des Herrn auszuführen.

Aber Miß Henley befand sich nicht in ihrem Zimmer, und ebensowenig ihr Kammermädchen. Doch waren die Betten während der Nacht zum Schlafen benützt worden. An dem schweren Gepäck hingen Zettel mit der Aufschrift: »Wird vom Hotel abgeholt werden.« Das war alles, was die verschwundene Iris an sichtbaren Zeugen ihrer Anwesenheit in diesen Räumen zurückgelassen hatte.

Sir Giles ließ im Hotel nachfragen. Die junge Dame war dort mit ihrem Mädchen sehr früh am Morgen erschienen. Sie hatten ihre Reisetaschen bei sich, und Miß Henley hatte die Weisung gegeben, daß das schwerere Gepäck bis zu ihrer Rückkehr unter der Obhut des Wirtes bleiben sollte. Was sie selbst zu thun vorgehabt hatte, das wußte niemand.

Sir Giles war zu aufgebracht, als daß er sich hätte erinnern können, was Iris in der vergangenen Nacht zu ihm gesagt, oder daß er hätte erraten können, welcher Grund sie zur Abreise bewogen hätte.

»Ihr Vater hat schon Aerger und Streit mit ihr gehabt,« sagte er, »und jetzt geht mir's ebenso.«

Seine Dienstboten empfingen den bestimmten Befehl, Miß Henley nicht wieder ins Haus hereinzulassen, wenn sie etwa gar die Kühnheit haben sollte, zu ihrem Paten zurückzukehren.

Achtes Kapitel

Am Nachmittag desselben Tages langte Iris in der Ortschaft an, welche in der nächsten Nachbarschaft von Arthur Mountjoys Pachtgut gelegen war.

Die allgemeine Erregung, mit anderen Worten der Haß gegen England, der wie eine ansteckende Krankheit die Gemüter der Irländer ergriffen hatte, war sogar bis zu diesem weltentlegenen Orte gedrungen. Auf den Stufen, die in seine kleine Kapelle führten, stand der Priester, der, selbst ein Bauer, zu seinen Brüdern in lautem, lebhaftem Ton sprach. Ein Irländer, der seinem Gutsherrn den Zins zahlte, war ein Verräter an seinem Vaterland; derjenige aber, der sein freies, angeborenes Recht auf das Land behauptete, war ein erleuchteter Patriot. Das war das neue Gesetz, welches der ehrwürdige Herr seiner aufmerksamen Zuhörerschaft vorpredigte. Wenn seine Brüder gern von ihm wissen möchten, wie sie dieses Gesetz in Anwendung bringen sollten, so wolle er auf den treulosen Irländer Arthur Mountjoy hinweisen und ihnen sagen: »Kauft nichts von ihm, und verkauft nichts an ihn; geht ihm aus dem Weg, wenn er sich euch nähert; hungert ihn auf seinem Gut aus. Ich könnte noch mehr sagen. Freunde – ihr wißt schon, was ich meine!«

Den letzten Teil dieser rednerischen Leistung mit anhören zu müssen, ohne ein Wort des Widerspruchs dagegen äußern zu dürfen, war eine harte Prüfung ihrer Selbstüberwindung und Geduld, die Iris erzittern ließ. Erst in zweiter Linie machte sich bei ihr als eine durch die Ansprache des Priesters hervorgerufene Wirkung geltend, daß sich in ihrem Geist die Ueberzeugung von der Arthur drohenden Gefahr mit zehnfach verstärkter Zähigkeit festwurzelte. Nach dem, was sie soeben gehört hatte, konnte die geringste Verzögerung der Bewahrung seiner Sicherheit das beklagenswerteste Ergebnis zur Folge haben. Sie setzte einen barfüßigen Knaben, der außerhalb der den Priester umdrängenden Menge stand, durch das Geschenk eines Sechspencestückes in nicht geringes Erstaunen und erkundigte sich nach dem zur Besitzung Arthurs führenden Weg. Der kleine Irländer lief rasch vor ihr her, ernstlich bemüht, der freigebigen jungen Dame zu beweisen, wie brauchbar er schon sein konnte. In weniger denn einer halben Stunde stand Iris mit ihrem Kammermädchen vor der Thür des Gutshauses. Nichts von derartigen nützlichen Erfindungen der Zivilisation wie eine Glocke oder ein Klopfer war zu entdecken. Der Junge nahm statt dessen seine Fäuste und lief eilends davon, als er an der innern Seite den Schlüssel im Thürschloß sich drehen hörte. Er fürchtete, gesehen zu werden, wenn er mit einem Bewohner der »verfehmten Farm« spräche.

Eine einfach gekleidete alte Frau erschien und fragte argwöhnisch, was die Damen wünschten. Der Accent, mit dem sie sprach, war der unverfälscht englische. Als Iris nach Mr. Arthur Mountjoy fragte, lautete die Antwort: »Nicht zu Hause.« Darauf versuchte die Haushälterin, die Thür wieder zu schließen.

»Der wilde Lord las den Brief« etc.


»Warten Sie einen Augenblick,« sagte Iris; »die Jahre haben Sie zwar verändert, aber in Ihrem Gesicht liegt etwas, was mir nicht ganz fremd ist. Sind Sie Mrs. Lewson?«

 

Die Alte erwiderte, dies sei ihr Name.

»Aber wie kommt es, daß Sie mir ganz unbekannt sind?« fragte sie mißtrauisch.

»Wenn Sie lange in Mr. Mountjoys Diensten gewesen sind,« antwortete Iris, »so werden Sie ihn vielleicht von Miß Henley haben sprechen hören?«

Das Gesicht der alten Frau erstrahlte sofort in freudigem Glanz; sie riß mit einem frohen Ausruf des Wiedererkennens die Thüre weit auf.

»Treten Sie ein. Miß, treten Sie ein! Wer hätte gedacht, Sie an diesem schrecklichen Ort zu sehen! Ja, ich war die Kinderfrau, unter deren Obhut Sie alle drei – Sie, Miß, Mr. Arthur und Mr. Hugh – zusammen gespielt haben!«

Ihre Augen ruhten mit Wohlgefallen auf ihrem Liebling vergangener Tage. Ihre feinfühlige Sympathie deutete Iris diesen Blick. Liebevoll bot sie der alten Wärterin die Wange zum Kuß. Nachdem sie dieser herzlichen Aufforderung Folge geleistet hatte, brach die Fassung der armen alten Frau zusammen; sie entschuldigte ihre Thränen mit den Worten:

»Wie oft ich jener, ach, so glücklichen Zeit denken mußte, Miß, werden Ihnen diese Thränen erzählen, – wenn Sie sie selbst nicht vergessen haben!«

Als sie das Empfangszimmer betraten, war der erste Gegenstand, den Iris erblickte, der Brief, den sie an Arthur geschrieben hatte; er lag noch uneröffnet auf dem Tisch.

»Er ist also wirklich nicht zu Hause?« fragte sie mit dem frohen Gefühl der Erleichterung.

Er war schon länger als eine Woche von dem Gut abwesend gewesen. Hatte er von einer andern Seite eine Warnung erhalten und in weiser Vorsicht sein Heil in der Flucht gesucht? Das Erstaunen, welches sich in dem Gesicht der Haushälterin ausdrückte, verlangte eine nähere Erklärung. Iris bekannte ohne Zurückhaltung die Gründe, die sie zu der Reise veranlaßt hatten, und erkundigte sich angelegentlich darnach, ob ihre Annahme unrichtig gewesen sei, daß sich Arthur in der ernstlichen Gefahr, ermordet zu werden, befunden hätte.

Mrs. Lewson schüttelte den Kopf. Es unterlag nicht dem geringsten Zweifel, daß Arthur in Gefahr schwebte; aber Iris hätte seine Natur besser kennen sollen, als daß sie glauben konnte, er habe sich dem drohenden Unheil durch die Flucht entzogen. Er hätte es selbst dann nicht gethan, wenn alle Mitglieder der Landliga zusammen ihn bedroht hätten. Nein, gewiß nicht! Lachend hätte er der Gefahr Trotz geboten. Er hatte sein Gut mit der Absicht verlassen, einen Freund in der nächsten Grafschaft zu besuchen, und die alte Frau hatte sich scharfsinnig zusammengereimt, daß ein junges Mädchen, welches sich dort befand, die Anziehungskraft wäre, die ihn so lange entfernt hielt.

»Auf jeden Fall wird er, wie es auch seine Absicht war, morgen zurückkommen,« sagte Mrs. Lewson. »Hoffentlich besinnt er sich aber eines Bessern und benützt die sich ihm bietende günstige Gelegenheit, nach England zu entweichen. Wenn die Barbaren hier in dieser Gegend durchaus jemand töten müssen, ich bin da – eine alte Frau, die doch nicht mehr lange zu leben hat. Mich können sie ruhig ermorden.«

Iris fragte, ob Arthurs Sicherheit auch in der nächsten Grafschaft gefährdet sei und in dem Hause seines Freundes.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, Miß, denn ich bin niemals dort gewesen. Er ist in Gefahr, wenn er darauf besteht, nach seinem Gute zurückzukehren. Da gibt es auf dem ganzen Weg bis hierher Gelegenheiten genug, ihn aus dem Hinterhalt niederzuschießen. O, er weiß es, der arme, liebe Junge, ebenso gut, wie ich es weiß. Aber Menschen seiner Art sind so wunderliche, eigensinnige Geschöpfe. Er geht seine eigenen Wege und hört nicht auf eine alte Frau, wie ich bin. Und was seine Freunde anbetrifft, die ihm raten könnten – der einzige von ihnen, der unsere Schwelle betreten hat, ist ein Taugenichts, der besser weggeblieben wäre. Sie mögen vielleicht auch schon von ihm gehört haben. Der alte Earl, ein schlechter Mensch, wurde gewöhnlich mit einem schlimmen Namen bezeichnet, und der wilde junge Lord ist seines Vaters echter Sohn.«

»Doch nicht Lord Harry?« rief Iris aus.

Ihr Kammermädchen bemerkte die heftige Erregung in ihrer Stimme und in ihrem ganzen Wesen, sagte aber nichts. Die Haushälterin Arthurs dagegen machte gar nicht den Versuch, ihre Gedanken darüber zu verbergen.

»Hoffentlich kennen Sie diesen Vagabunden nicht,« sagte sie sehr ernst. »Vielleicht denken Sie an seinen älteren Bruder, den ältesten Sohn des alten Earl, der ein durchaus ehrenhafter Mann ist, wie man mir gesagt hat.«

Miß Henley ließ diese Fragen vollständig unbeachtet. Einzig und allein getrieben von dem Interesse für ihren Geliebten, welches sich jetzt mehr denn je ihrer Beherrschung entzogen hatte, fragte sie:

»Ist Lord Harry seines Freundes wegen in Gefahr?«

»Er hat nichts von dem Gesindel zu fürchten, das unsere Gegend unsicher macht,« entgegnete Mrs. Lewson. »Berichte erzählen, er gehöre selbst dazu. Die Polizei, die ist's, vor der seine junge Lordschaft auf der Hut sein muß, wenn nämlich alles wahr ist, was über ihn gesprochen wird. Jedenfalls kam er damals, als er meinem Herrn seinen Besuch abstattete, heimlich wie ein Dieb in der Nacht, und ich hörte Mr. Arthur, als sie beide zusammen hier im Empfangszimmer waren, ihn laut und heftig tadeln wegen etwas, was er gethan hatte. Und jetzt nichts mehr über Lord Harry, Miß! Ich habe mit Ihnen etwas Wichtiges zu besprechen. Wollen Sie, wenn ich Ihnen das Versprechen gebe, es Ihnen so behaglich wie möglich zu machen, wollen Sie dann bis morgen hier bleiben, damit Sie mit Mr. Arthur reden können? Wenn es einen Menschen auf der Welt gibt, der im stande ist, ihn zu einiger Vorsicht zu bewegen, so sind Sie es nach meiner Meinung ganz allein.«

Iris erklärte sich sofort bereit, auf Arthur Mountjoys Rückkunft zu warten. Als Mrs. Lewson, um ihren häuslichen Obliegenheiten nachzugehen, sie mit ihrer Kammerzofe allein gelassen hatte, bemerkte sie in dem Gesichte des Mädchens etwas von Mißstimmung.

»Es scheint mir, Rhoda, als ob Du jetzt schon anfingest, zu wünschen,« sagte Iris, »ich hätte Dich nicht an diesen fremden Ort unter diese rohen und wilden Gesellen gebracht?«

Rhoda war ein stilles, freundliches Mädchen, augenscheinlich von sehr zarter Gesundheit. Sie lächelte matt und antwortete:

»Ich dachte gerade an einen andern Edelmann, Miß, als den, von dem Mrs. Lewson soeben sprach; er scheint ein sehr freies, leichtsinniges Leben geführt zu haben. Es stand in einer Zeitung gedruckt, die ich gelesen habe, bevor wir London verließen.«

»War sein Name erwähnt?« fragte Iris.

»Nein, Miß; ich glaube, sie fürchteten, sich dadurch Unannehmlichkeiten zu bereiten. Er hatte so viele sonderbare Wege eingeschlagen, um sich seinen Lebensunterhalt zu erwerben, daß es sich fast wie ein Roman las.«

»Erinnerst Du Dich noch der Erlebnisse des Helden?« fragte Iris.

»Ich will es versuchen, Miß, wenn Sie es zu hören wünschen.«

Die Erzählung in der Zeitung schien einen lebhaften Eindruck auf Rhodas Geist gemacht zu haben. Wenn man die selbstverständlichen Stockungen und Irrtümer und die Schwierigkeiten, sich richtig auszudrücken, in Abrechnung brachte, so wiederholte sie mit überraschend klarer Erinnerung den Inhalt dessen, was sie gelesen hatte.

Neuntes Kapitel

Die Hauptpersonen in der Geschichte waren ein alter irischer Edelmann, der einfach der Earl genannt wurde, und der jüngere seiner beiden Söhne, von seinem Bruder durch den mysteriösen Beinamen »der wilde Lord« unterschieden.

Von dem Earl wurde erzählt, daß er kein guter Vater gewesen sei; er habe auf die unverantwortlichste Weise die Erziehung seiner beiden Söhne vernachlässigt. Der jüngere, der in der Schule viel zu leiden hatte und in den Ferien sich selbst überlassen blieb, begann seine abenteuerliche Laufbahn damit, daß er davonlief. Unter angenommenem Namen fand er Anstellung als Schiffsjunge. Gleich von Anfang an hielt er sich brav, lernte seine Sache und war bei Kapitän und Mannschaft beliebt. Aber der erste Steuermann war ein roher Mensch, und das lebhafte Temperament des jungen Durchgängers empfand doppelt die schimpfliche Strafe von Schlägen. Er kam daher auf den Gedanken, sein Glück auf dem Lande zu versuchen, und schloß sich einer herumziehenden Schauspielergesellschaft an. Da er ein hübscher Junge war, eine gute Figur und eine klare, schöne Stimme hatte, so ging es ihm wenigstens eine Zeit lang ganz gut. Dann kamen schlimme Zeiten, die Gagen wurden verkürzt; der Abenteurer wurde der Gesellschaft der Schauspieler und Schauspielerinnen überdrüssig. Der nächste Abschnitt seines wechselvollen Lebens zeigt ihn in Nordbritannien als Mitarbeiter an einer schottischen Zeitung. Eine unglückliche Liebesgeschichte war der Grund, daß er auch dieser neuen Anstellung bald verlustig ging. Kurz darauf tauchte er wieder auf als Gehilfe des Stewart auf einem der großen Passagierdampfer, die zwischen Liverpool und New-York fahren. In dieser letzteren Stadt angekommen, wurde er schnell durch die nicht gerade sehr anständige und ehrenvolle Beschäftigung als »Medium«, welches sich der übernatürlichen Kraft rühmte, mit der Welt der Geister in Verbindung zu stehen, bekannt. Als der Betrug schließlich endgiltig aufgedeckt wurde, zehrte der junge Edelmann von dem Gelde, das er in dem unwürdigen Dienste des gemeinen, prosaischen Aberglaubens der modernen Tage verdient. Ein langer Zeitraum verfloß, wo man nichts von ihm hörte, bis er als verirrter und fast verhungerter Mann von einem Reisenden in einer der westlichen Prärien aufgefunden wurde. Der unglückliche irische Lord hatte sich einem Indianerstamme angeschlossen, sich aber einige Verstöße gegen dessen Gesetze zu Schulden kommen lassen und war deshalb in die Einöde hinausgejagt worden, um dem Hungertode preisgegeben zu sein. Nach seiner Auffindung schrieb er an seinen älteren Bruder, der die Titel und Besitzungen des inzwischen verstorbenen alten Carls geerbt hatte. Er sagte in seinem Briefe, daß er sich über das Leben, welches er bis jetzt geführt habe, schäme und daß er das ernstliche Verlangen trage, sich zu bessern. Deshalb wolle er irgend eine ehrliche Beschäftigung ergreifen, die sich ihm darbiete. Der Reisende, der ihm das Leben gerettet hatte, und dessen Aussage vollständig zu trauen war, erklärte, daß der Brief eine aufrichtig bereuende Gemütsverfassung offenbart habe. Es lagen gute Eigenschaften in dem Vagabunden verborgen, welche nur ein klein wenig mitleidsvoller Ermutigung bedurften, um sich zu bethätigen. Die Antwort, die er aus England empfing, kam von den Anwälten, deren sich der neue Lord zur Vermittlung seiner Angelegenheiten bediente. Sie hatten mit ihren Agenten in New-York das Abkommen getroffen, dem jüngeren Bruder ein Legat von tausend Pfund auszuzahlen, welche die ganze Summe ausmachten, die ihm nach seines Vaters letztem Willen zu übergeben seien. Wenn er wieder schreiben würde, würden seine Briefe unbeantwortet bleiben, denn sein Bruder wolle nichts mit ihm zu thun haben. In so unmenschlicher Weise behandelt, wurde der wilde Lord von der Zeit an erst recht dieses seines Namens würdig. Er begann jetzt ein neues Leben als Buchmacher bei allen Wettrennen. Das Glück begünstigte ihn gleich von Anfang an, und er vermehrte sein Erbteil um ein Beträchtliches. Mit der gewöhnlichen Verblendung derjenigen Leute, welche Geld gewinnen, indem sie sich dem Verluste desselben aussetzen, verließ er sich auf sein gutes Glück; ein pekuniärer Verlust folgte dem andern und beraubte ihn buchstäblich des letzten Pfennigs. Darauf tauchte er wieder in England auf und ließ ein offenes Boot für Geld sehen, in dem er mit einem Genossen eine jener tollkühnen Fahrten über den atlantischen Ozean ausgeführt hatte, welche jetzt glücklicherweise aufgehört haben, das Interesse des Publikums zu erregen. Einem Bekannten, der ihm über dieses unsinnige Wagstück Vorwürfe machte, anwortete er, er habe darauf gerechnet, daß er auf der See umkommen würde, und daß er auf diese Weise einen Selbstmord begehen könnte, der würdig sei des elenden Lebens, das er geführt habe. Die letzten Berichte, die nach dieser That über ihn gemacht wurden, waren zu unbestimmt und widersprechend, als daß man daraus irgend etwas Sicheres hätte entnehmen können. Einmal wurde gemeldet, daß er nach den Vereinigten Staaten zurückgekehrt sei. Kurz darauf brachten die Zeitungen die sonderbarsten Geschichten über ihn, denen zufolge er zu ein und derselben Zeit in der schlechtesten Gesellschaft in Paris gelebt haben und in einem ganz verrufenen Viertel der Stadt Dublin, genannt »die Freiheit«, sich verborgen halten sollte. Jedenfalls war hinreichender Grund zu der betrübenden Annahme vorhanden, daß irisch-amerikanische Desperados den wilden Lord in das Netzwerk politischer Verschwörung verwickelt hatten.

 

Das Kammermädchen bemerkte eine auffällige Veränderung an ihrer Herrin, nachdem sie am Ende ihrer Erzählung aus der Zeitung angekommen war. Von Miß Henleys gewöhnlichem heiterem und glücklichem Wesen war keine Spur mehr zu entdecken.

»Wenige Menschen, Rhoda, erinnern sich so gut dessen, was sie gelesen haben, wie Du,« sagte sie freundlich und traurig. Sonst kam kein Wort weiter über ihre Lippen.

Sie hatte guten Grund, in sich gekehrt zu sein.

Von zwei Seiten hatte Iris in kurzer Zeit von den Fehlern und Verirrungen Lord Harrys hören müssen. Die vollständige Erzählung von seinem regellosen Leben, wie es sich in der ununterbrochenen Reihe von Ereignissen darstellte, hatte jetzt zum erstenmale ihre ganze Aufmerksamkeit auf dasselbe gelenkt. Sie schauderte natürlich entsetzt davor zurück, sie fühlte, wie es nie zuvor geschehen war, daß ihr Vater vollkommen recht gehabt hatte mit seinem Widerstande gegen eine Verbindung, die ihrer unwürdig gewesen wäre. So weit, jedoch auch nicht einen Schritt weiter, gab ihr Verstand ihrer eigenen Ueberzeugung nach. Aber die einzige unüberwindliche Kraft in der Welt ist die Kraft der Liebe. Sie mag den härtesten Prüfungen des Lebens unterworfen sein; sie mag die gebieterischen Forderungen der Pflicht anerkennen, sie mag mit Stillschweigen Tadel über sich ergehen lassen, sie mag demütig duldend sich berauben lassen; es mag mit ihr geschehen, was da will, sie ist und bleibt doch die stärkste, die gewaltigste Leidenschaft, die keinen künstlichen Einflüssen unterworfen, niemand die Herrschaft über sich zugesteht als ihrem eigenen Gesetz. Iris war schon längst über den Bereich der Selbstvorwürfe hinaus, als sie sich ihrer kühnen Handlungsweise erinnerte, durch welche Lord Harry an dem Meilensteine gerettet wurde. Ihr Verstand gab zu, daß Hugh Mountjoy in jeder Beziehung dem andern vorzuziehen sei, aber ihr Herz, ihr thörichtes Herz blieb trotz allem seiner ersten Wahl treu. Sie verließ ihr Kammermädchen und Mrs. Lewson nach einigen flüchtigen Entschuldigungsworten, um im Garten ihr Gleichgewicht wieder zu gewinnen.

Die Abendstunden schlichen langsam dahin.

Ein Spiel Karten war im Hause; die Frauen versuchten sich damit die Zeit zu vertreiben, aber der Versuch mißlang. Die Angst um Arthur lag drückend auf den Gemütern von Miß Henley und Mrs. Lewson. Selbst das Kammermädchen, welches ihn nur bei seinem letzten Besuch in London gesehen hatte, wünschte, der morgige Tag wäre erst gekommen und vergangen. Sein liebenswürdiges Wesen, sein hübsches Gesicht und seine anregende Unterhaltung hatten Arthur bei allen beliebt gemacht. Mrs. Lewson hatte ihr wohnliches englisches Heim verlassen, um ihm die Haushaltung zu führen, als er seinen tollkühnen Plan, sich in Irland niederzulassen, zur Ausführung brachte, und was noch viel wunderbarer war, selbst der langweilige Sir Giles wurde in seiner Gesellschaft ein ganz erträglicher Mensch.

Iris zog sich beizeiten auf ihr Zimmer zurück.

Es lag etwas Beängstigendes in der ringsum herrschenden feierlichen Stille und vereinigte sich geheimnisvoll mit der Angst um Arthur; es flüsterte leise von Verrat, der bewaffnet auf den Zehen umher schleicht, von durch die Luft pfeifenden Flintenkugeln, von dem durchdringenden Schrei eines tödlich verwundeten Mannes, und dieser Mann war vielleicht . . . Iris schrak zurück vor ihren eigenen Gedanken. Eine plötzliche Schwäche übermannte sie; sie öffnete das Fenster. Als sie ihren Kopf hinausstreckte, um die kühle, erfrischende Nachtluft einzuatmen, kam ein Mann auf das Haus zugeritten. War es Arthur? Nein, die hellfarbige Bedientenlivree, die der Mann trug, wurde gerade sichtbar.

Bevor er noch absteigen konnte, um an der Thür zu klopfen, trat ein großer Mann aus der Dunkelheit an ihn heran.

»Ist das Miles?« fragte der große Mann.

Der Reitknecht kannte die Stimme. Sogar Iris wußte genau, wessen Stimme da sprach. Es war Lord Harry.