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Das Geheimnis der Abtei

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Als ich dessen gewiss war, dass alle Dienstboten der Abtei sich beim Mittagessen befanden, schlich ich mit Mr. Davis, den von Lady Deighton gegebenen schriftlichen Anweisungen folgend, durch das zu den geheimen Gemächern führende Labyrinth und langte vor der scheinbar massiven Wand an, hinter der der Eingang lag. Mr. Davis entdeckte bald die Feder, welche die drehbare Maschine vorspringen ließ, und der Brief wurde hinein getan. In atemlosem Schweigen wartete ich dessen, was darauf erfolgen werde, und zitterte so sehr, dass ich mich auf den Fußboden niedersetzen musste, während mein Begleiter mit fest geschlossenen Händen und starr auf die Wand gerichteten Augen neben mir stand. Eine peinliche, endlos scheinende Pause folgte. Endlich drehte sich die Maschine wieder, und ein Streifen Papier fiel heraus, auf dem mit deutlicher, aber zitternder Hand die Worte geschrieben standen: »Heute abend um zehn Uhr werde ich die Riegel öffnen. Gott vergebe Ihnen, wenn Sie mich täuschen!«

Es lag etwas außerordentlich Rührendes in diesen wenigen Worten, – scheues Vertrauen und natürliche Bangigkeit. So sonderbar es scheinen mag, war ich doch überrascht von der Gewissheit, dass die entsetzliche Geschichte wirklich wahr sei. Ja, dort hinter jener Mauer befand sich das arme Wesen, Grace Wilson, die Zeugin des Mordes, die siebenjährige Gefangene. Dieser Gedanke überwältigte mich so, dass Mr. Davis mehrere Male rufen musste, ehe ich mich genügend ermannen konnte, um aufzustehen und den Ort zu verlassen.

Alle unsere Pläne wurden glücklich ausgeführt. Als die Kinder sich im Bett befanden und alles still in der Abtei war, kam Mr. Davis, und wir begaben uns in den nach den geheimen Gemächern führenden Gang, wo wir warteten, bis die Glocke zehn Uhr schlug. Dann drückte er an die Feder, welche die Oberfläche der scheinbar massiven Wand auf die Seite schob und eine schmale Tür in der eigentlichen Wand des Zimmers sichtbar werden ließ. Wir näherten uns und hörten deutlich das Rasseln der inneren Riegel, welche zurückgezogen wurden. Mr. Davis legte die Hand auf den Türgriff und drückte nach kurzem Zaudern; die Tür öffnete sich, und er zog mich mit sich in das Zimmer. Mein Herz schlug so heftig, dass mir fast schwindelte. Ich sah nur ein erleuchtetes Zimmer, aber konnte anfangs keinen einzelnen Gegenstand erkennen. Erst mehrere Stunden später, als ich mich allein befand, vermochte ich mir die näheren Umstände klar zu machen, welche unseren Eintritt in jenes Gemach, den Schauplatz einer so großen Schuld und eines so schweren Leidens, begleiteten, denn im Augenblicke selbst sah, hörte und handelte ich wie eine Träumende.

Mr. Davis folgend gelangte ich in das geheime Gemach, wo er stehen blieb und mich an seine Seite zog. Der erste Gegenstand, den ich erkannte, war ein langes, schmales Bett, welches der Tür gegenüber an der Wand stand, und auf dem eine unförmliche Gestalt in einem weiten sie umschlotternden Kleide saß. Ich dachte an das Bild des zarten Kindes in der Hütte, aber sah stattdessen ein schwerfälliges Wesen mit hellem Haar, bleichgelben Gesichte und verschwollenen, kaum sichtbaren Augen vor mir. Sie zitterte am ganzen Körper, sah nicht auf und sprach kein Wort. Ich ergriff eine ihrer Hände, und augenblicklich klammerte sie sich mit beiden an die meinige, senkte den Kopf darauf und ließ ein Stöhnen hören, das ich nie vergessen werde. Ich drückte ihre Hände an meine Brust, küsste sie auf ihre Stirn und versuchte zu sprechen, aber konnte nicht. Mr. Davis kam mir zur Hilfe, indem er sagte:

»Mein armes Kind, fürchten Sie nichts. Sie sind jetzt in Sicherheit und bei Freunden, die Ihnen allen Beistand leisten werden. Beruhigen Sie sich und kommen Sie mit uns!«

Dann reichte er mir ein Tuch und einen Hut, die wir zu dem Zwecke mitgenommen hatten. Es währte lange, bis ich einen Versuch machen konnte, ihr beides anzulegen, denn sie hielt sich an meine Hände, meine Schulter und mein Kleid geklammert, ohne dabei ein Wort zu sprechen. Plötzlich wurde ihr Atem kürzer, und im nächsten Augenblicke schrie sie gellend auf und brach in ein krampfhaftes Schluchzen aus. Wir hatten die Vorsicht gebraucht, einige stärkende Mittel mit uns zu nehmen, allein lange Zeit hatten diese durchaus keine Wirkung bei ihr. Endlich ließ jedoch die Heftigkeit des Anfalls nach, sie wurde ruhiger, und wir legten sie sanft auf das Bett. Ihr Gesicht war der Wand zugekehrt, und lautlos blieb sie jetzt liegen; aber von Zeit zu Zeit überlief ihren Körper noch ein krampfhaftes Zucken.

»In diesem Zustande können wir sie nicht von hier entfernen,« flüsterte ich Mr. Davis zu.

»Nein,« erwiderte er. »Wollen Sie hier bleiben, während ich zu Mr. Dalton gelte, um ihm die Ursache des Verzuges zu erklären?«

Notgedrungen willigte ich ein. Es war zwar nicht Furcht, was ich empfand, aber leugnen kann ich nicht, dass mich ein höchst unheimliches Gefühl beschlich, als er das Zimmer verließ. Das arme Wesen blieb, abgesehen von jenen unwillkürlichen Zuckungen, völlig regungslos liegen: auch diese wurden allmählig schwächer und hörten endlich ganz auf, und ich glaubte, sie sei eingeschlafen.

Das Gemach war klein, aber hoch, und die äußere Luft musste auf irgendeinem Wege an der Decke eindringen, denn eine herabhängende Lampe flatterte heftig, während das in der Mitte des Zimmers stehende Licht ganz ruhig brannte. Das Mobiliar bestand, außer dem Bett, in einigen Tischen und Stühlen. An den Wänden befanden sich Bretter, auf denen Bücher standen, und in denselben verschiedene Wandschränke, von denen einige offen waren und mit Porzellan und Glasgeschirr angefüllt zu sein schienen. Am anderen Ende des Zimmers führte eine offen stehende Tür zu einem zweiten, Gemache. Es war, wie Grace mir später sagte, das Winterzimmer, dessen eine Seite die hinter dem großen Küchenherd befindliche Seite bildete, und das deshalb immer warm war. In demselben befanden sich ein Gossenstein und eine Pumpe, welche vortreffliches Wasser gab. In den Ecken dieser Küchenwand waren Fächer angebracht, die das Bettzeug enthielten. Noch zu erwähnen ist, dass zur Bequemlichkeit und zur Erhaltung der Gesundheit der diese Räume bewohnenden Personen das innere Gemach mit einem Gange in Verbindung stand, welcher längs der Kapellenwand lief und die äußere Luft zuließ. Er war nur für eine Person breit genug und sollte augenscheinlich als eine Promenade dienen. Der Weg, auf dem diese Zimmer frische Luft erhielten, musste sehr verdeckt sein, denn nirgends fiel ein Lichtstrahl durch. Von dem Augenblicke an, in dem das unglückliche Mädchen an der Seite ihres ermordeten Vaters bewusstlos zu Boden gesunken war, hatte es nie wieder das Tageslicht gesehen.

Ruhig und unbeweglich blieb die Unglückliche auf dem Bett liegen, und ich saß ängstlich wachend neben ihr. Endlich flüsterte sie mit heiserer Stimme:

»Ich schlafe nicht, – ich glaube, ich könnte jetzt gehen.«

Ich hob sie so zart und sanft als möglich auf, denn unwillkürlich flossen meine Tränen, während ich leise ihre Stirn küsste. Sie fühlte die Tropfen auf ihr Gesicht fallen und sagte: »Ich glaube Ihnen, – ich traue Ihnen,« legte dann den Kopf an meine Schulter und weinte still, was ihr große Erleichterung zu gewähren schien.

Bald hatte sie sich so weit erholt, dass wir aufbrechen konnten. Den Hut befestigte sie selbst und ließ sich das Tuch von mir umhängen. Ich sah deutlich, dass ihre Kleidung aus Lady Deightons Garderobe entnommen war, denn sie hing schlotternd um ihren Körper. Während dieser Vorbereitungen kehrte auch Mr. Davis zurück und freute sich sehr, sie zum Aufbruche bereit zu finden. Ich fragte, ob sie etwas mitzunehmen wünsche, was sie jedoch kopfschüttelnd verneinte. Mr. Davis verlöschte hierauf die Lampe und das Licht, und wir verließen die Gemächer mit Hilfe einer mitgebrachten Laterne. Er verschloss die Tür, brachte die sie verdeckende Wand wieder in ihre Lage und überließ die nunmehr unbewohnten Räume wieder der früheren Stille.

Unserer Verabredung gemäß hielt Mr. Dalton in geringer Entfernung von der Abtei mit seinem Wagen. Wir halfen dem armen Mädchen einsteigen, und ich nahm an ihrer Seite Platz und legte meinen Arm um sie. Während der Fahrt erklärte ich ihr unseren Plan und sagte, dass Mr. Dalton sie bei sich aufnehmen und für sie sorgen werde. Auf einem Umwege erreichte der Wagen den Weg, welcher von der Londoner Landstraße nach dem Pfarrhause führte. Ich stieg aus und kehrte mit Mr. Davis, welcher auf einem kürzeren Wege durch die Felder dahin gekommen war, nach der Abtei zurück, wo wir uns trennten und zur Ruhe begaben.

Wie schon früher erwähnt, war ich mich des Eindrucks zur Zeit, als sie sich zutrugen, nicht klar bewusst. Ich dachte weder an Lady Deightons schwere Schuld, noch an die peinliche Lage des armen Sinclair, denn Grace Wilsons Leiden beschäftigten mich allein. Dessen ungeachtet schlief ich fest, da meine Ermüdung übermäßig war. Am folgenden Morgen erwachte ich mit einer wirren, dunkeln Erinnerung und konnte die Ereignisse des letzten Tages kaum für wirklich halten. Meine Zöglinge traf ich beim Frühstück und entband sie für diesen Tag von den Unterrichtsstunden. Sie erkundigten sich sehr angelegentlich nach ihrem Vater und gingen dann an ihre kindlichen Beschäftigungen. Davis und Mac Ivor hatten mit den Papieren und den eingegangenen Briefen zu tun, da Capitain Sinclair sie ermächtigt hatte, ihn in allen Beziehungen zu vertreten, und namentlich dem Hausmeister und der Haushälterin die nötigen Anweisungen zu erteilen.

Bald nach dem Frühstücke kam Mrs. Dalton, wie sie versprochen hatte, aber brachte nicht viel Neues. Grace hatte gut geschlafen und befand sich in einem verdunkelten Zimmer noch im Bett. Ihre Aufregung war gewichen, sie lag jetzt ganz ruhig und sprach sehr wenig. Mrs. Dalton meinte, ihr Geist sei jetzt bemüht, sich die vorgegangene große Veränderung klar zu machen. Ich begleitete sie nach dem Pfarrhause und fand daselbst das arme Mädchen noch still und ruhig liegen. Als ich die Hand derselben fasste, ergriff sie die meinige und küsste sie, ohne jedoch zu sprechen. Gegen Abend stand sie auf, und am folgenden Morgen verließ sie das Bett schon vor dem Frühstück. Mrs. Dalton gab ihr einen Augenschirm, mit Hilfe dessen sie sich in wenigen Tagen an das hellere Licht gewöhnte; aber sie blieb sehr schweigsam und schien immer in tiefe Gedanken versunken zu sein. Lange dauerte es, bis sie auf ein Gespräch einging, und noch länger, bis sie sich dazu verstand, eine Schilderung ihrer Leiden in den sieben einsamen Jahren zu geben, während deren sie weder eine menschliche Stimme vernommen noch das Tageslicht gesehen hatte. Über die Mordtat selbst konnte man ihr nie mehr als einige flüsternde Worte entlocken, und wer den Schrecken sah, welcher stets bei jeder Berührung dieses Gegenstandes in ihrem Gesichte ausdrückte, konnte unmöglich länger davon sprechen. Nur einmal schilderte sie ihre Empfindungen, als sie in dem geheimen Gemache zuerst das Bewusstsein wieder erlangt hatte. Sie sagte, es sei ihr bald klar gewesen, dass sie an einen geheimen Ort gebracht worden war, und habe deshalb nur einen grausamen Tod von derselben ruchlosen Hand erwartet, die vor ihren Augen den Vater ermordet hatte. Nach einiger Zeit habe sie jedoch die Riegel an der Tür wahrgenommen, diese eiligst vorgeschoben, und das Zimmer genau durchsucht, ob sich noch ein anderer Eingang finde, und als sie die Überzeugung gewonnen, dass sie in dieser Beziehung sicher sei, habe sie gebetet und sich dann, die Augen auf die Tür gerichtet, mit der Erwartung niedergesetzt, dass sie verhungern müsse, was ihr lieber gewesen sei, als jede Annäherung von Lady Deighton. Wie lange sie bei diesem Entschlusse beharrt hätte, wenn ihr keine Nahrung zugekommen wäre, lässt sich nicht sagen; aber nicht unwahrscheinlich ist es, dass eine Änderung nicht eher eingetreten wäre, als bis ihre Kraft zu weit geschwunden war, um noch die Riegel öffnen zu können, da sie fest glaubte, dass ihr Leben geopfert werden würde, sobald sie ihre Gefangenenwärterin einließ.

 

»Aber flößte Ihnen denn der Umstand keine Hoffnung ein,« fragte ich sie, »dass Sie regelmäßig Nahrung, Wäsche, Licht und alle anderen Bedürfnisse von ihr empfingen?«

»Nein,« versetzte sie, »denn ich war der Meinung, dass alles nur geschehe, um mich zu verlocken. Viele Briefe mit Bitten und Versprechungen schrieb sie mir, aber nach der Tat, deren Zeuge ich gewesen war, konnte ich ihr nicht mehr trauen! Meinen einzigen Freund, die einzige Person, die ich je geliebt hatte, hilflos im Bett zu —«

Hier brach sie ab, wie immer, wen der Mord berührt wurde. Ich wunderte mich, dass sie nie an Gift gedacht zu haben schien, aber fand später, dass ihr diese Befürchtung während der ganzen Gefangenschaft nicht fremd gewesen war, nur hatte sie aus irgend einer irrtümlichen Vorstellung die Idee gefasst, dass es nicht anders als in Flüssigkeiten beigebracht werden könne, und hatte deshalb nichts als Wasser und Tee getrunken, welchen sie sich selbst bereiten konnte.

Eine seltsame Ruhe war ihrem ganzen Wesen eigen, die ihr ohne Zweifel natürlich, aber durch die lange Einsamkeit gewiss sehr genährt worden war. Ein Geist von höherem Schlage würde nie in eine solche Erschlaffung versunken sein, wie die war, in der sie den größten Teil der Zeit zugebracht hatte; dagegen hätte ein noch tiefer fühlendes Gemüt als das ihrige, furchtbar gelitten und würde entweder wahnsinnig geworden oder dem Tode erlegen sein. Grace Wilson besaß eine natürliche Ruhe, welche besonders geeignet war, einer Prüfung, wie die ihr auferlegte, zu ertragen. Sie besaß ziemlich gute Fähigkeiten und hatte so viel gelernt, dass sie geläufig lesen und schreiben konnte. Ohne Zweifel war sie weder ein träges, noch ein geistig beschränktes Kind bis zu dem Augenblicke gewesen, der sie von ihren Mitmenschen trennte; aber ebenso gewiss hatte sie seitdem auch keine Fortschritte gemacht. Als ich sie mit der Zeit besser kennen lernte, fand ich, dass sie einen gesunden Verstand, ein gutes Herz und ein offenes Gemüt besaß; allein nie gab sie mir Wunsch zu erkennen, sich weiter auszubilden, und war in manchen Beziehungen sehr lässig. Die ihr eigene Ruhe hatte ohne Zweifel viel zur Erhaltung ihrer Gesundheit beigetragen, denn wunderbarer Weise war sie in der ganzen Zeit ihrer Gefangenschaft nie krank gewesen und hatte, obgleich sie mit der Zeit sehr beleibt und schwerfällig wurde, doch niemals einer Arznei bedurft.

Wir blieben mehrere Monate beisammen, während deren Sinclair sich von dem Schlage, der ihn getroffen, zu erholen und Schritte für die Zukunft zu tun suchte. Auf den Rat von Davis, dessen Eingebungen und Vorschlägen er unbedingt Folge leistete, bat er mich, mit Grace Wilson und seinen beiden Töchtern nach einem entfernten Orte zu gehen, wo uns niemand kannte. Lady Deighton hatte ihm eine sehr bedeutende Summe vermacht, aber richtig vorausgesehen, dass er ein solches Vermächtnis nicht annehmen werde. In einem Nachtrage zu ihrem Testamente bestimmte sie deshalb für diesen Fall, dass jede seiner Töchter ein Legat von zehntausend Pfund erhalten solle, welches der Vater nicht abzulehnen befugt war, und das bis zur Volljährigkeit der Kinder von Vormündern verwaltet werden sollte. Sinclair selbst nahm nur eine dritte Summe von zehntausend Pfund an und ließ sie auf Grace Wilson übergeben. Lady Deightons gesamte übrige Verlassenschaft wurde dem gesetzlichen Erben, einem Seitenverwandten, ausgeantwortet.

Mac Ivor, welcher sich bewusst war, ein schweres Missgeschick, wenn auch wider Willen, über einen so ehrenwerten Mann wie Capitain Sinclair gebracht zu haben, und viel Bekanntschaft mit einflussreichen Personen hatte, bot alles auf, um ihm eine Anstellung bei der Regierung zu verschaffen. Seine Bemühungen blieben auch nicht fruchtlos, und Sinclair wurde zum englischen Konsul in einer Hafenstadt des östlichen Europas ernannt, was seinen Wünschen ganz entsprechend war. Er wurde dadurch von dem verhasst gewordenen England entfernt und der Möglichkeit entzogen, mit denjenigen Personen zusammen zu kommen, welche Lady Deightons Geschichte kannten. Nie konnte er es über sich bringen, Grace Wilson zu sehen, und auch mich besuchte er nicht eher wieder, als bis ich mit meinen Zöglingen nach einem entfernt gelegenen Dorfe gezogen war. In seinem ganzen Wesen und Benehmen zeigte sich, als ich ihn dann wiedersah, eine große Veränderung. Er bewies sich zwar sehr dankbar und freigebig gegen mich, aber sein Auge konnte dem meinigen nicht begegnen, und vor jedem von mir geäußerten Worte schien er sich zu fürchten. Seine Pläne für die Zukunft waren damals noch unklar, aber bald darauf wurde ihm jene Stelle angeboten. Von dem Augenblicke an schien er ein ganz anderer Mensch zu werden. Bereitwillig nahm er sie an und beschäftigte sich dann eifrigst mit den Vorbereitungen zur sofortigen Abreise.

Als alles fertig war, kam er, um seine Töchter zu holen. Bei dem Abschiede von mir war er sehr weich, und auch Ellen und Janet zeigten sich so bewegt, wie Mädchen in einem solchen Alter sein können, wenn sie eine ihnen vom Vater mit den glänzendsten Farben ausgemalte schöne Aussicht vor sich haben. Wir schieden, und ich wusste, dass es der letzte Abschied war. Anfangs schrieben die jungen Mädchen häufig und liebevoll an mich, aber allmälig wurden ihre Briefe seltener, und endlich hörten sie ganz auf. Wie ich später erfahren habe, sind beide glücklich an Ausländer verheiratet.

Ich hatte mich verbindlich gemacht, mindestens ein Jahr lang nach Sinclairs Abreise von England bei Grace Wilson zu bleiben. Wir lebten mit einander friedlich und freundschaftlich. In Folge der jetzt gesünderen Lebensweise veränderte sich ihre äußere Erscheinung sehr vorteilhaft. Sie verlor die entstellende Beleibtheit und bekam eine frischere Farbe. Ihre Augen wurden größer und heller, und der schwerfällige Ausdruck schwand aus ihren Zügen und ihrer Haltung. Ich hätte leicht die arme Grace zu einer interessanten Persönlichkeit machen können, wenn es meine Absicht gewesen wäre, eine Geschichte zu erdenken, statt gewissenhafte Begebenheiten nach der strengen Wahrheit zu erzählen. Dennoch ist die Wendung, welche ihr Schicksal unerwartet nahm, so seltsam, dass sie auch einer Novelle als Schluss dienen könnte.

Das Dorf, in welchem wir wohnten, lag in einem entlegenen Tale der westlichen Grafschaften von England. Im Laufe der Zeit lernten wir dort einen jungen Mann kennen, der uns Interesse abgewann. Er war der Sohn eines achtbaren Farmers und taubstumm, und hatte seine Erziehung in einer Anstalt für Gebrechliche dieser Art genossen. Sein Wesen und Benehmen war sanft und angenehm, und der angeborene Mängel ungeachtet galt er für einen geschickten Farmer. Seine Mutter kannten wir von Anfang unseres dortigen Aufenthaltes an, da sie uns regelmäßig Milch und Geflügel geliefert hatte. Sie war eine brave, verständige Frau, und nicht ohne Bildung. Der Vater war etwas rauher in seinem Äußeren, aber ein durchaus guter Mann. Die Eltern hingen mit großer Liebe an ihrem unglücklichen Sohne, und ich gewann ihre Herzen leicht dadurch, dass ich mit der Fingersprache bekannt war. Der Sohn wollte sich im Zeichnen üben, und ich übernahm es, ihm Unterricht zu erteilen, lieh ihm Bücher und fand, dass er gute, natürliche Fähigkeiten besaß. Unsere Vertraulichkeit nahm zu, denn auch Grace hatte die Fingersprache erlernt und war viel in der Gesellschaft des jungen Mannes.

Eines Morgens wurde ich durch einen Besuch vom Vater desselben überrascht und war nicht wenig erstaunt, als der Mann nach einer langen und weitschweifigen Rede endlich mit dem Geständnisse hervorrückte, dass sein »armer Sohn,« wie er ihn nannte, eine heftige Neigung zu Grace Wilson gefasst habe. Augenblicklich sah ich, wie blind ich gewesen war; tausend kleine Umstände fielen mir ein, die ich früher unbeachtet gelassen hatte. – namentlich des Mädchens schnelles und eifriges Erlernen der Fingersprache, – die mich jetzt vermuten ließen, dass von ihrer Seite keine große Abneigung gegen den Antrag zu erwarten sein werde. Es war so, wie ich erwartet hatte. Ihr Vermögen überraschte den Liebhaber und seine Eltern in hohem Grade, denn sie waren natürlich der Meinung gewesen, dass das junge Mädchen von mir ganz abhängig sei. Ich erklärte ihnen ihre Verhältnisse und sagte offen, dass sie die natürliche Tochter eines sehr reichen Mannes sei, aber unterließ jede Erwähnung Lady Deightons, da Sinclair bei Überweisung des Legats an Grace zur Bedingung gemacht hatte, dass tiefes Schweigen über die Verirrungen und das Ende seiner unglücklichen Frau bewahrt werde. Grace hatte es gelobt und hielt das Versprechen um so leichter, als auch ihr die Erinnerung an die in der Abtei ausgestandenen Leiden immer unerträglicher wurde.

Konnte ich meinen Pflegling unter günstigeren Umständen verlassen, – an der Seite eines zwar taubstummen, aber braven Gatten und bei liebenden Eltern? Zuweilen hatte ich daran gedacht, dass der Schutz, den ich diesem armen Mädchen zuteil werden ließ, obgleich ich es innig liebte, auf die Dauer eine drückende Fessel für mich werden könne, und fühlte mich daher gewissermaßen von einer Last befreit, als ich sie so glücklich verheiratet sah.

Ihr Gatte trug sie auf Händen und hielt sich für den glücklichsten Menschen. Im Laufe der Zeit wurden sie mit drei Kindern gesegnet, von denen keins das Gebrechen des Vaters erbte. Grace schreibt von Zeit zu Zeit an mich, und zweimal habe ich sie bereits besucht und mich überzeugt, dass ihrem jetzigen Glücke nichts fehlt.

Die alte Abtei ist niedergerissen und ein neues Gebäude an ihrer Stelle errichtet worden. Ob das unvermeidliche Bekanntwerden von der Existenz der geheimen Gemächer in der Umgegend großes Aufsehen erregte, weiß ich nicht, da Mr. Dalton nach einer anderen und entfernten Stelle versetzt wurde und dadurch alle Verbindung zwischen mir und jener Gegend aufhörte. Aber wenngleich die Spuren des dort begangenen Verbrechens vertilgt worden sind, so wird die Erinnerung daran doch nicht aufgehört haben. Lady Deightons Name wird, wie mir versichert worden, dort noch jetzt nur mit Abscheu genannt. Auf dem Grabsteine, welcher ihren Namen trägt, hat Capitain Sinclair, wie ich von Mr. Dalton erfahren habe, als Inschrift nur die Worte hinzugefügt:

»Gott ist barmherzig!«