Der Monddiamant

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Neuntes Kapitel

Der einundzwanzigste Juni, der Geburtstag, brach trübe und bewölkt an, aber gegen Mittag klärte sich das Wetter auf.

Wir Dienstboten begannen diesen glücklichen Jahrestag wie gewöhnlich damit, Fräulein Rachel unsere kleinen Geschenke mit der üblichen Anrede die ich jährlich als der erste Diener des Hauses hielt, darzubringen. Ich beobachtete dabei das von der Königin in ihren Thronreden befolgte System, indem ich regelmäßig jedes Jahr ungefähr dasselbe sagte. Bevor ich die Rede halte, wird sie wie die der Königin so genau erwogen, als ob noch nie etwas Ähnliches dagewesen wäre. Nachdem sie gehalten worden und es sich zeigt, daß sie der Erwartung des Publikums, etwas Neues zu hören, keineswegs entsprochen hat, wird ein bisschen raisonnirt, aber gleich wieder dem nächsten Jahre mit neuen Hoffnungen entgegengesehen Die Menschen sind eben leicht zu lenken, in der Küche wie im Parlament, das ist die Moral von der Sache.

Nach dem Frühstück hielten Herr Franklin und ich eine vertrauliche Berathung in Betreff des Mondsteins, da jetzt die Zeit gekommen war, wo derselbe wieder aus der Bank in Frizinghall genommen und Fräulein Rachel übergeben werden mußte. Ob er sein Glück bei seiner Cousine auf’s Neue versucht hatte und entschieden abgewiesen worden war, oder ob sein Nacht für Nacht gestörter Schlaf die sonderbaren Widersprüche und Unschlüssigkeiten seines Wesens gesteigert hatte, weiß ich nicht. Aber gewiß ist, daß Herr Franklin sich am Morgen des Geburtstags nicht von der besten Seite zeigte. Er äußerte ungefähr zwanzig verschiedene Meinungen in Betreff des Diamanten im Verlauf von ebenso vielen Minuten. Ich meinerseits hielt mich fest an die einfachen Thatsachen, wie sie uns bekannt waren. Es war nichts geschehen, was uns berechtigt hätte, Mylady in dieser Angelegenheit zu beunruhigen, und nichts konnte Herrn Franklin von der ihm jetzt obliegenden rechtlichen Verpflichtung den Edelstein in die Hände seiner Cousine zu legen, befreien.

Das war meine Ansicht von der Sache, und mochte er sich drehen und wenden wie er wollte, er mußte sich schließlich nothgedrungen zu derselben Ansicht bekennen. Wir kamen überein, daß er nach dem zweiten Frühstück nach Frizinghall hinüberreiten und höchst wahrscheinlich in Begleitung von Herrn Godfrey und seiner Schwestern den Diamanten zurückbringen solle.

Nachdem wir uns darüber geeinigt hatten, ging unser junger Herr wieder zu Fräulein Rachel.

Sie brachten den ganzen Morgen und einen Theil des Nachmittags bei der nie endenden Arbeit der Thürdecoration zu; Penelope stand dabei und mischte die Farben nach Vorschrift, und Mylady ging, als die Stunde des zweiten Frühstücks herannahte, ihr Schnupftuch vor der Nase haltend (denn sie verbrauchten an jenem Tage eine gehörige Portion des Bindemittels) im Zimmer aus und ein und versuchte vergebens, die Künstler von ihrer Arbeit abzubringen. Es war drei Uhr geworden, bis sie ihre Schürzen abnahmen, Penelope, die sich in Folge des Verkehrs mit dem Bindemittel schlecht befand, entließen und sich vom Farbenschmutz reinigten. Aber sie hatten ihren Zweck erreicht, sie waren am Geburtstage mit der Thür fertig geworden und waren nicht wenig stolz darauf. Die Greifen, Amoretten u. s. w. waren, wie ich bekennen muß, wunderhübsch anzusehen, obgleich sie Einem in ihrer großen Menge, in ihrer Verschlingung mit Blumen und Sinnbildern, in ihren verrenkten Stellungen und Bewegungen noch stundenlang, nach dem man sie sich betrachtet, im Kopfe wehthaten. Wenn ich hinzufüge, daß Penelope ihre Rolle bei der Morgenarbeit damit beschloß, daß sie sich nach der Waschküche begab, so geschieht das keineswegs in unfreundlicher Gesinnung gegen das Bindemittel. Nein, nein! Es hörte auf übel zu riechen, sobald es getrocknet war, und wenn die Kunst solche Opfer fordert, so sage ich, und wenn es auch meine eigene Tochter ist, die darunter leidet, diese Opfer müssen der Kunst gebracht werden.

Herr Franklin ließ sich kaum die Zeit, einen Bissen zu frühstücken und ritt nach Frizinghall, wie er Mylady erzählte, um seine Cousine herzubegleiten in der That aber, wie nur er und ich wußten, um den Diamanten zu holen.

Da an diesem Tage eine der festlichen Gelegenheiten war, bei welchen ich meinen Platz als Chef der bei Tisch aufwartenden Diener vor dem sideboard einnahm, fehlte es mir während Herrn Franklins Abwesenheit nicht an Beschäftigung, die mich vollauf in Anspruch nahm. Nachdem ich für den Wein gesorgt und über die männliche und weibliche Dienerschaft, die bei Tische aufwarten sollte, Musterung gehalten hatte, zog ich mich zurück, um mich bis zur Zeit des Diners zu sammeln. Ein Zug aus meiner Pfeife und ein Blick in ein gewisses Buch, das ich bereits zu erwähnen Gelegenheit gehabt habe, brachten Körper und Seele wieder in das gehörige Gleichgewicht. Ich wurde aus einem Zustand, der, glaube ich, nicht sowohl Schlummer als Träumerei war, durch draußen erschallendes Pferdegetrappel erweckt, ging vor die Thür und nahm eine Kavalkade in Empfang, die aus Herrn Franklin, seinem Vetter und seinen beiden Cousinen in Begleitung eines der Stallknechte des alten Herrn Ablewhite bestand.

Sonderbarer Weise frappierte es mich auf der Stelle, daß Herr Godfrey grade wie Herr Franklin heute nicht in seiner gewöhnlichen Stimmung zu sein schien. Er gab mir wie immer freundlich die Hand und sprach sehr höflich seine Freude darüber aus, seinen alten Freund Betteredge so wohl zu sehen. Aber seine Stirn war umwölkt, was ich mir auf keine Weise zu erklären wußte, und als ich ihn fragte, wie es mit der Gesundheit seines Vaters gehe, antwortete er etwas kurz: »Ganz wie gewöhnlich!« Die beiden Fräulein Ablewhite aber waren von einer ungeheuren Munterkeit, die das Gleichgewicht mehr als herstellte Sie waren beinahe eben so groß wie ihr Bruder, stattliche Gestalten mit blondem Haar, rosige, von blühender Gesundheit und Lebenslust strotzende Mädchen. Die armen Pferde zitterten unter ihrer Last, und die kühnen Reiterinnen sprangen, ohne einer helfenden Hand zu bedürfen, aus dem Sattel aus den Boden, als ob ihre Glieder aus Kautschuk gemacht wären. Alles, was die Fräulein Ablewhite sagten, fing mit einem großen O!, Alles, was sie thaten, mit ungestümem Gepolter an, und sie kicherten und schrien zu passender und unpassender Zeit bei der geringsten Veranlassung. Ich nannte sie nur die Dragoner.

Der Lärm den die jungen Mädchen machten, gestattete mir, Herrn Franklin unbemerkt ein Wort in der Vorhalle zu sagen.

»Haben Sie den Diamanten unversehrt bei sich, Herr Franklin?«

Er nickte und klopfte dabei auf die Brusttasche seines Rockes.

»Haben Sie irgend etwas von den Indiern gesehen?«

»Nicht die Spur« Nach dieser Antwort fragte er nach Mylady und ging, als er hörte daß sie in dem kleinen Wohnzimmer sei, geradeswegs dahin. Er konnte noch keine Minute im Zimmer gewesen sein, als es klingelte, und Penelope beordert wurde, Herrn Franklin zu sagen, daß Fräulein Rachel ihn zu sprechen wünsche.

Als ich ungefähr eine halbe Stunde später durch die Halle ging, ward ich plötzlich durch lautes, aus dem kleinen Wohnzimmer hervor dringendes Geschrei zum Stehen gebracht. Das Geschrei konnte mich durchaus nicht beunruhigen, denn ich erkannte in demselben alsbald das beliebte große Oh des Fräulein Ablewhite. Gleichwohl ging ich unter dem Vorwande, mir eine Ordre in Betreff des Mittagessens zu erbitten, in’s Zimmer, um herauszufinden, ob wirklich irgend etwas Ernstes vorgefallen sei.

Da stand Fräulein Rachel am Tisch, wie von einem Zauber gebannt, den unseligen Diamanten des Obersten in der Hand. Und zu ihren beiden Seiten knieten die beiden »Dragoner,« die den Edelstein mit den Augen verschlangen und in Ekstase ausbrachen, so oft der Stein in einer neuen Farbe spielte. An der andern Seite des Tisches stand Herr Godfrey, klaschte in die Hände wie ein großes Kind und lispelte einmal über das andere: »Köstlich, köstlich!« Auf einem Stuhl neben dem Bücherschrank saß Herr Franklin, zupfte sich am Bart und blickte ängstlich nach dem Fenster hin. Der Gegenstand seiner Aufmerksamkeit aber war Mylady, die, den Auszug aus dem Testament des Obersten in der Hand, am Fenster stand und der ganzen Gesellschaft den Rücken zukehrte. Sie maß mich, mit den Augen, als ich um meine Ordres bat, und ich sah das der Familie eigenthümliche Zusammenziehen der Brauen über ihren Augen und die Familienlaune in ihren Mundwinkeln zucken. »Kommen Sie in einer halben Stunde zu mir in in mein Wohnzimmer,« antwortete sie, »ich habe Ihnen dann etwas zu sagen.« Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer. Es war klar, daß sie durch dieselbe Schwierigkeit betroffen gemacht wurde, welche Herrn Franklin und mir bei unserer Beratung am Zitterstrand bereits so viel Kopfbrechen verursacht hatte. Mußte sie in dem Vermächtnisse des Mondsteins einen deutlichen Beweis dafür erkennen, daß sie ihren Bruder mit grausamer Ungerechtigkeit behandelt habe? Oder war dies Vermächtniß ein Beweis, daß die Schlechtigkeit seines Charakters noch ihre schlimmsten Erwartungen übertroffen habe? Das waren schwierige Fragen, welche Mylady entscheiden sollte, während ihre Tochter ohne von dem Charakter des Obersten irgend etwas zu wissen, das Geburtstagsgeschenk desselben in der Hand, unbefangen dastand.

Ich war im Begriff das Zimmer zu verlassen, als Fräulein Rachel, die immer gegen den alten Diener, der schon im Hause gewesen, als sie geboren wurde, freundlich und rücksichtsvoll war, mich zurückhielt. »Sehen Sie nur, Gabriel!« sagte sie, und ließ den Diamanten vor meinen Augen im Sonnenlicht spielen.

Da sah ich den Diamanten leibhaftig vor mir, so groß, oder doch beinahe so groß wie ein Möwen-Ei! Der Stein strahlte wie das Licht des Vollmonds. Wenn man in den Diamanten hineinblickte, so wurden die Augen von einem tiefen Gelb so mächtig angezogen, daß sie nichts Anderes zu sehen vermochten. Dieser kleine Stein, den man zwischen Zeigefinger und Daumen halten konnte, schien unermeßlich tief wie der Äther. Wir legten ihn in die Sonne und machten dann das Zimmer dunkel; da erhellte er dasselbe mit seinem wunderbar geisterhaft mondartigen Licht. Kein Wunder, daß Fräulein Rachel wie von einem Zauber gebannt war und daß ihre Cousinen laut aufschrien. Der Diamant machte auf mich selbst einen solchen Eindruck, daß ich in ein ebenso gewaltiges »Oh!« ausbrach, wie die Dragoner. Der einzige unter uns, der seine Fassung behielt, war Herr Godfrey. Er schlang seine Arme um seine beiden Schwestern und sagte, indem er mitleidig zwischen dem Diamanten und mir hin- und herblickte: »Kohlenstoff, Betteredge! nichts als Kohlenstoff, lieber Freund.«

 

Er wollte vermuthlich meine Kenntnisse vermehren. Die Wirkung seiner Anrede war jedoch nur, daß ich mich des Mittagsessens erinnerte. Ich begab mich daher zu meiner Aufwärter-Armee hinunter. Noch in der Thür hörte ich, wie Herr Godfrey sagte: »Der gute alte Betteredge! Ich habe die größte Achtung für ihn!« Während er mir dieses ehrende Zeugnis; ausstellte, umarmte er seine Schwestern und liebäugelte mit seiner Cousine. War das Herz dieses Jünglings nicht offenbar eine unerschöpfliche Quelle von Liebe? Neben ihm erschien Herr Franklin wie ein Barbar.

Nach Verlauf einer halben Stunde stellte ich mich, wie mir befohlen, in Mylady’s Wohnzimmer ein. Die Unterhaltung meiner Herrin mit mir hatte ungefähr denselben Inhalt wie die zwischen Herrn Franklin und mir bei dem Zitterstrand geführte, mit dem Unterschied, daß ich meinen Rat in Betreff der Jongleurs dieses Mal für mich behielt, da ich fand, daß es durch Nichts gerechtfertigt sein würde, wenn ich Mylady in dieser Beziehung beunruhigen wollte. Als ich wieder entlassen wurde, war mir klar, daß sie die schlimmsten Motive bei dem Obersten voraussetzte, und daß sie entschlossen sei, den Mondstein bei der ersten Gelegenheit wieder aus dem Besitz ihrer Tochter zu bringen.

Auf dem Rückwege nach meinem Zimmer begegnete mir Herr Franklin. Er wollte wissen, ob ich irgend etwas von seiner Cousine Rachel gesehen habe. Ich hatte aber Nichts von ihr gesehen. Ob ich ihm sagen könne, wo sein Vetter Godfrey sei? Das wußte ich nicht, aber ich fing an zu argwöhnen, daß Vetter Godfrey nicht weit von Cousine Rachel sein werde. Offenbar waren Herrn Franklin’s Gedanken auf derselben Fährte. Er zupfte an seinem Bart, ging dann in das Bibliothekzimmer, wo er die Thür hinter sich verschloß, nachdem er sie in einer höchst ausdrucksvollen Weise hinter sich zugeschlagen hatte. Ich wurde nun nicht mehr in meinen Vorbereitungen für das Geburtstag-Diner unterbrochen, bis es Zeit für mich war, mich für den Empfang der Gäste festlich zu schmücken.

Als ich eben meine weiße Weste angezogen hatte, erschien Penelope bei meiner Toilette unter dem Vorwande, mir einige noch etwa auf meinem Rocke befindlichen Härchen abzubürsten und die letzte Hand an die Schleife meiner weißen Cravatte zu legen. Meine Tochter war sehr aufgeräumt, und ich merkte daß sie mir Etwas zusagen habe. Sie küßte mich aus meinen kahlen Schädel und flüsterte mir zu: »Ich habe Neuigkeiten für Dich, Vater! Fräulein Rachel hat seinen Antrag abgelehnt.«

»Wessen Antrag?« fragte ich.

»Des Damen-Comitée-Mannes, Vater!« antwortete Penelope. »Ein widerwärtiger Schleicher, ich hasse ihn, weil er es versucht hat, Herrn Franklin aus dem Sattel zu heben.«

Hätte ich zu Worte kommen können, so würde ich gewiß gegen diese unehrerbietige Art, über einen so ausgezeichneten Philantropen zu sprechen, Protest erhoben haben. Aber meine Tochter war gerade in dem Augenblick mit der Schleife meiner Cravatte beschäftigt und die ganze Gewalt ihrer Gefühle concentrirte sich in ihren Fingern. In meinem Leben war ich nie in so großer Gefahr gewesen, stranguliert zu werden.

»Ich habe gesehen,« sagte Penelope, »wie er mit ihr allein in dem Rosengarten ging, und ich stellte mich hinter die Hecke, um sie zurückkommen zu sehen. Auf dem Heimwege waren sie lachend Arm in Arm gegangen. Auf dem Rückwege gingen sie Beide, Jeder für sich mit höchst ernsthaftem Gesicht nach verschieden Seiten in einer Weise hinblickend, die nicht zu mißdeuten war. Vater! in meinem Leben habe ich mich nicht so gefreut! Es gibt also doch ein weibliches Wesen in der Welt, das Herrn Godfrey Ablewhite zu widerstehen vermag, und wenn ich eine Dame wäre, so würde ich die zweite sein!« Gegen diese Worte würde ich abermals protestiert haben, aber in diesem Augenblicke hatte meine Tochter die Haarbürste ergriffen und ergoß jetzt mittelst dieser die ganze Gewalt ihrer Gefühle auf mich. Wer von meinen Lesern einen Kahlkopf hat, wird verstehen was das heißen will. Wer aber keinen Kahlkopf hat mag diese Stelle überschlagen und Gott danken, daß er auf seinem Schädel Etwas hat, womit er sich gegen zu gewaltsame Berührungen seiner Haarbürste schützen kann.

»Gerade an der anderen Seite der Hecke,« fuhr Penelope fort, »stand Herr Godfrey still.«

»Sie wünschen,« sagte er, »daß ich hier bleibe, als ob Nichts vorgefallen wäre?«

Wie ein Blitz wandte sich Fräulein Rachel nach ihm um.

»Sie haben die Einladung meiner Mutter angenommen,« antwortete sie, »und Sie sind hier, um andere Gäste zu treffen, und wenn Sie nicht Aufsehen erregen wollen, so müssen Sie natürlich bleiben!«

Sie ging wieder einige Schritte vorwärts und dann wieder etwas langsamer.

»Lassen Sie uns das Vorgefallene vergessen«, sagte sie, »und lassen Sie uns unser verwandtschaftliches Verhältnis aufrecht erhalten.« Dabei gab sie ihm die Hand. Er küßte sie, was ich ziemlich frei von ihm fand, und dann ging sie fort. Er blieb eine Weile mit gesenktem Kopfe allein stehen, grub mit seiner Hacke langsam ein Loch in den Kiesweg — und sah so niedergeschlagen aus, wie du gewiß in deinem Leben keinen Menschen gesehen hast. »Fatal!« murmelte er zwischen den Zähnen, blickte dabei in die Höhe und ging in’s Haus, »sehr fatal!«

Wenn er damit seine Meinung über sich selbst aussprechen wollte, so hatte er ganz recht. Er ist fatal genug; das weiß Gott. Und das Ende von Allem, was ich Dir erzählt habe, Vater,« rief Penelope, indem sie mir zum letzten Male mit der Bürste über den Scheitel fuhr, »das Interessanteste ist: Herr Franklin ist der Mann!«

Ich ergriff die Haarbürste und öffnete meine Lippen, um einen Tadel auszusprechen, den, wie meine Leser zugestehen werden, die Sprache und das Benehmen meiner Tochter reichlich verdient hatten. Aber, ehe ich ein Wort sagen konnte, erklang draußen das Rollen von Wagenrädern und verhinderte mich am Reden. Die ersten Tischgäste waren erschienen. Penelope lief ohne Weiteres fort. Ich zog meinen Rock an und warf noch einen Blick in den Spiegel. Mein Kopf war so roth wie ein Hummer, aber im Übrigen war ich für die festliche Gelegenheit so stattlich angethan, wie es sich schickte. Ich traf eben rechtzeitig in der Vorhalle ein, um die beiden ersten Gäste zu melden. Der Leser braucht sich für dieselben nicht besonders zu interessieren. Es waren nur der Vater und die Mutter des Philanthropen, Herr und Frau Ablewhite.

Zehntes Kapitel.

Einer nach dem Andern folgten die übrigen Gäste den Ablewhites. Als die Gesellschaft versammelt war, zählte sie, die Familie mit einbegriffen, vierundzwanzig Mitglieder. Es war ein schöner Anblick, als sie um den Tisch saßen und der Pfarrer von Frizinghall mit klangvoller Stimme das Tischgebet sprach. Ich brauche meine Leser nicht mit der Aufzählung der Gäste zu langweilen; sie werden mit Ausnahme von Zweien wenigstens in dem Theil dieser Geschichte den ich aufzuzeichnen habe, keinem derselben wieder begegnen. Jene zwei saßen zu beiden Seiten von Fräulein Rachel, welche als Königin des Festes natürlich den Hauptanziehungspunkt in der Gesellschaft bildete.

Bei dieser Gelegenheit war sie noch ganz besonders der Mittelpunkt dem sich die Blicke Aller zuwandten; denn zu Mylady’s geheimem Verdruß trug sie ihr wundervolles Geburtstagsgeschenk, welches alles Übrige verdunkelte, den Mondstein. Der Stein war nicht gefaßt, als er ihr übergeben wurde; aber unser Universalgenie, Herr Franklin, hatte es mittelst seiner geschickten Finger und ein wenig Silberdraht möglich gemacht, denselben als Brosche an ihr weißes Kleid zu befestigen. Jedermann bewunderte die fabelhafte Größe und Schönheit des Diamanten; aber die einzigen beiden Personen in der Gesellschaft, welche mehr als das ganz Gewöhnliche über den Stein sagten, waren die erwähnten beiden Gäste, welche zu beiden Seiten von Fräulein Rachel saßen. Der Gast zur Linken war Herr Candy, unser Arzt in Frizinghall. Er war ein kleiner Mann und ein angenehmer Gesellschafter, nur mit dem einzigen Fehler, daß er zu viel Geschmack zu rechter und zu unrechter Zeit an seinen eigenen Witzen fand und daß er es zu sehr liebte, sich in eine lange Unterhaltung mit Fremden zu stürzen. Er beging fortwährend große Taktlosigkeiten indem er die Leute unabsichtlich verletzte. In seiner ärztlichen Praxis war er vorsichtiger, indem ihn hier, wie selbst seine Gegner zugestanden, ein gewisser Instinkt der Diskretion leitete, der ihn das Rechte finden ließ, wo sorgsamere Ärzte leicht auf eine falsche Fährte geriethen. Was er Fräulein Rachel über den Diamanten sagte, war wie gewöhnlich ein Gemisch von Scherzen und Mystificationen. Er bat sie ganz ernsthaft, im Interesse der Wissenschaft ihm zu erlauben, den Diamanten mit nach Hause zu nehmen und zu verbrennen. »Wir wollen ihn erst,« sagte der Doktor, »bis zu einem gewissen Grade erhitzen, wollen ihn dann einem Luftstrome aussetzen und allmälig verdampfen lassen. Und so ersparen wir Ihnen eine Welt voll Angst und Sorgen um die sichere Aufbewahrung eines so kostbaren Juwels.« Mylady, die mit einem sorgenvollen Ausdruck zuhörte, schien zu wünschen, daß der Doktor ernsthaft spräche und daß er Fräulein Rachel veranlassen könnte, aus wissenschaftlichem Eifer ihr Geburtstagsgeschenk zu opfern.

Der andere Gast, der an der rechten Seite meines jungen Fräuleins saß, war eine berühmte Persönlichkeit, der bekannte indische Reisende Murthwaite, der mit Lebensgefahr und in Verkleidungen in Gegenden vorgedrungen war, welche nie zuvor ein europäischer Fuß betreten hatte. Er war ein langer, hagerer, muskulöser, sonnverbrannter, schweigsamer Mann. Trotz eines Ausdrucks von Abspannung war sein Blick scharf und aufmerksam. Es hieß, er sei des ewigen Einerlei des Lebens in unserer Gegend überdrüssig und sehne sich darnach, den Wanderstab wieder in die Hand zu nehmen und in die unerforschten Länder des Ostens zurückzukehren. Ich glaube, daß er mit Ausnahme dessen, was er zu Fräulein Rachel über ihren Diamanten sagte, während des ganzen Mittagessens keine sechs Worte sprach und kein einziges Glas Wein trank. Der Mondstein war der einzige Gegenstand, der ihm das mindeste Interesse einflößte. Der Ruf desselben schien an einigen jener gefährlichen indischen Orte, wohin ihn seine Wanderung geführt hatte, zu ihm gedrungen zu sein. Nach dem er denselben so lange schweigend angesehen hatte, daß Fräulein Rachel verlegen zu werden anfing, sagte er zu ihr in seiner kühlen, ruhigen Weise: »Wenn Sie je nach Indien gehen sollten, Fräulein Verinder, so hüten Sie sich, das Geburtstags-Geschenk Ihres Onkels mitzunehmen. Ein indischer Diamant ist zuweilen ein religiöses Symbol. Mir ist eine indische Stadt und ein Tempel in dieser Stadt bekannt, wo Sie, geschmückt wie Sie in diesem Augenblicke sind, nicht fünf Minuten lang Ihres Lebens sicher sein» würden.«

Fräulein Rachel, die sich in England vollkommen sicher fühlte, amüsierte sich sehr, von einer ihr in Indien drohenden Lebensgefahr zu hören; die »Dragoner« amüsierten sich noch mehr darüber. Sie ließen ihre Messer und Gabeln auf den Tisch fallen und brachen gemeinschaftlich in den heftigen Ausruf aus: »O, wie interessant!«

Mylady wurde offenbar nervös und leitete die Unterhaltung auf einen andern Gegenstand über.

Im Verlauf des Diners wurde es mir allmälig klar, daß dieses Fest keinen so fröhlichen Fortgang nehme, wie es andere ähnliche Feste bei uns gethan hatten. Wenn ich jetzt nach Allem, was seitdem geschehen ist, an den Geburtstag zurückdenke so bin ich fast geneigt zu glauben, daß der unselige Diamant wie ein Alp auf der Gesellschaft lastete. Ich füllte die Gläser fleißig und begleitete als eine privilegierte Person weniger beliebte Speisen bei ihrem Umgang um den Tisch, indem ich den Gästen vertraulich zuflüsterte: »Bitte, kosten Sie doch einmal davon; ich bin überzeugt, es wird Ihnen schmecken.« In den meisten Fällen befolgten sie meinen Rath, wie sie freundlich bemerkten aus Achtung für ihren alten Freund Betteredge. Aber das half Alles nichts. Es entstanden peinliche Pausen in der Unterhaltung, die mich persönlich unbehaglich stimmten. Kam die Unterhaltung dann wieder einmal in Fluß, so geschah es ganz unabsichtlich in der denkbar ungeschicktesten Weise und mit sehr unangenehmen Wirkungen. So sagte z. B. Herr Candy, der Arzt, mehr unpassende Dinge, als ich je früher von ihm gehört hatte.

 

Hier nur ein Beispiel und meine Leser werden verstehen, was ich, dem das fröhliche Gedeihen des Festes so sehr am Herzen liegen mußte, auf meinem Posten am Buffet auszustehen hatte.

Eine der Damen unserer Gesellschaft war die würdige Mrs. Threadgall, die Wittwe des verstorbenen Professors dieses Namens. Die gute Dame sprach fortwährend von ihrem verstorbenen Manne, ohne jemals gegen Fremde zu erwähnen, daß er todt sei. Sie glaubte vermuthlich, daß jeder Mensch in England das wissen müsse.

Nach einer jener peinlichen Pausen wurde das Gespräch auf den trockenen und widerwärtigen Gegenstand der menschlichen Anatomie gebracht, worauf die gute Mrs. Threadgall, wie gewöhnlich, ihres verstorbenen Mannes gedachte, ohne zu erwähnen, daß er todt sei. Sie bezeichnete die Anatomie als die Lieblings-Beschäftigung des Professors in seinen Mußestunden. Unglücklicherweise hörte Herr Candy, der über den verstorbenen Professor nichts wußte und unserer Dame gegenüber saß, diese Worte. Als der höflichste Mann auf der Welt ergriff er die Gelegenheit, sich auf der Stelle den anatomischen Unterhaltungen des Professors zuzugesellen »In dem Kollegium der Wundärzte haben sie kürzlich einige wundervolle Skelette bekommen,« sagte Herr Candy mit lauter, munterer Stimme, »ich möchte dem Herrn Professor angelegentlichst empfehlen, verehrte Frau, sich in der ersten freien Stunde diese Skelette anzusehen.« Es entstand ein tiefes Schweigen. Die ganze Gesellschaft saß sprachlos da. Ich stand gerade hinter Mrs. Threadgall und schenkte ihr vertraulich ein Glas Rheinwein ein; sie senkte den Blick und sagte ganz leise: »Mein theurer Gatte ist nicht mehr!« Der unglückliche Herr Candy, der nichts gehört und keine Ahnung von dem wirklichen Sachverhalt hatte, fuhr lauter und höflicher als zuvor über Tisch fort: »Der Herr Professor weiß vielleicht nicht, daß er vermöge einer Mitgliedskarte an jedem Tage, außer Sonntags, in den Stunden von Zehn bis Vier in’s Colleg gelangen kann.« Mrs. Treadgall ließ ihr Haupt aus die Brust sinken und wiederholte mit noch leiserer Stimme die Worte: »Mein theurer Gatte ist nicht mehr!« Ich winkte Herrn Candy über den Tisch, Fräulein Rachel stieß ihn an, Mylady warf ihm vielsagende Blicke zu. Alles vergebens. Mit einer unbefangenen Heiterkeit, die auf keine Weise zu hemmen war, fuhr er fort: »Ich werde dem Herrn Professor mit dem größten Vergnügen meine Karte schicken, wenn »Sie die Güte haben wollen, mir seine jetzige Adresse anzugeben.«

»Seine jetzige Adresse, Herr Candy, ist das Grab,« erwiderte Mrs. Threadgall, die nun plötzlich ihre Fassung völlig verlor und diese Worte so heftig und emphatisch ausrief, daß die Gläser davon erklangen. »Der Professor ist seit zehn Jahren todt!«

»Mein Gott!« rief Herr Candy erschrocken.

Mit Ausnahme der »Dragoner«, die in ein Lachen ausbrachen, befiel die ganze Gesellschaft ein stummer Schrecken. Die übrigen Gäste waren in ihrer Unterhaltung kaum minder verletzend als der Doktor. Wo sie hätten sprechen sollen, schwiegen sie, und wenn sie sprachen, so sagten sie etwas Ungeschicktes. Herr Godfrey, der bei öffentlichen Gelegenheiten eine so große Beredtsamkeit zu entfalten pflegte, schien durchaus abgeneigt, sich an einer allgemeineren Konversation zu betheiligen. Ob aus Verdruß oder aus Scham nach seiner Niederlage im Rosengarten, weiß ich nicht. Er verwandte seinen ganzen Unterhaltungsstoff auf die neben ihm sitzende Dame: sie gehörte zu seinen Comité-Damen und war eine kirchlich gesinnte Frau mit einer stattlichen Entfaltung des Busens und einer starken Liebhaberei für Champagner, den sie wohlverstanden ohne Schaum in reichlichem Maße genoß.«

Da ich auf meinen Posten am Büffet dicht hinter diesen Beiden stand, so kann ich nach dem, was ich von ihrer Unterhaltung hörte, versichern, daß der Gesellschaft ein sehr belehrendes Gespräch entging, daß nur mir zu Statten kam, während ich die Flaschen entkorkte, den Hammelbraten tranchierte u. s. w. Was sie über ihre mildthätigen Unternehmungen sprachen, konnte ich nicht hören. Als ich Zeit hatte, zuzuhören, waren sie längst von ihren armen Wöchnerinnen und ihren gefallenen Mädchen abgekommen und mit sehr ernsten Dingen beschäftigt. Religion, sagten sie, soviel ich zwischen dem Aufziehen der Pfropfen und dem Geräusch des Tranchiermessers hören konnte, bedeute Liebe, und Liebe bedeute Religion, und die Erde sei ein etwas abgetragener Himmel, und der Himmel sei die wieder wie neu ausgeputzte Erde. Auf Erden wandelten zwar einige nichts weniger als tadellose Menschen, aber dafür würden alle Frauen im Himmel Mitglieder eines ungeheuren nie uneinigen Comités sein, bei dem alle Männer den Damen als dienstbare Engel zugesellt sein würden. »Herrlich! herrlich!«

Aber weiß der Teufel, warum Herr Godfrey Alles für sich und seine Dame behielt! Dagegen aber höre ich den Leser sagen, bot Herr Franklin doch gewiß Alles auf, die Gesellschaft in eine heitere Stimmung zu versehen? Weit gefehlt! Er schien zwar seine Fassung völlig wiedererlangt zu haben und war in Folge von Penelope’s Mittheilung über Herrn Godfrey’s Aufnahme im Rosengarten sehr gut aufgelegt Aber was er auch heute sagen mochte, fast immer kam es auf eine Tactlosigkeit heraus, so daß er am Ende Einige beleidigt und Alle verlegen gemacht hatte. Seine ausländische Erziehung, jene französische, deutsche und italienische Seite, von denen ich schon früher gesprochen habe, äußerte sich am gastlichen Tische Myladys in einer höchst unliebsamen Weise.

Was soll man z. B. dazu sagen, wenn er über den Grad sprach, bis zu welchem sich die Bewunderung einer verheiratheten Frau für einen andern Mann als ihren Gatten versteigen dürfe und diese Bemerkungen in seiner witzigen, scharfsinnigen, französischen Manier an die unverehelichte Tante des Predigers von Frizinghall richtete? Oder wenn er dann wieder die deutsche Seite hervorkehrte und einem großen Gutsbesitzer, einer anerkannten Autorität auf dem Gebiete der Viehzüchtung, als dieser seine Erfahrungen über die Mittel zur Herstellung ausgezeichneter Ochsen mittheilte, entgegnete, daß, genau genommen, Erfahrung gar nichts nütze, und daß vielmehr das rechte Mittel, gute Ochsen zu züchten, das sei, sich in sich selber zu versenken, aus seinem Innern die Idee eines vollkommenen Ochsen zu entwickeln und ihn dann herzustellen? Oder was soll man endlich zu Folgendem sagen? Als beim Käse und Salat ein Mitglied unserer Grafschaft sich über die Verbreitung der Demokratie in England in folgenden heftigen Worten erging: »Wenn wir einmal die alten Stützen unserer Verfassung verlieren, was meinen Sie, Herr Blake, was wir da noch übrig behalten?« antwortete unser Freund, aus dem diesmal der Italiener sprach: »Wir würden dann noch drei Dinge übrig behalten: Liebe, Musik und Salat.« Er choquirte nicht nur durch Ausbrüche wie diese die ganze Gesellschaft, sondern er verlor auch, als er dann wieder die englische Seite seines Wesens hervorkehrte, seine ausländische Höflichkeit und sagte, als die Unterhaltung auf den ärztlichen Beruf kam, so bitter-satyrische Dinge über Ärzte, daß er den gutmüthigen kleinen Herrn Candy in eine wahre Wuth versetzte.