Der Monddiamant

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Der Streit zwischen ihnen entspann sich, als Herr Franklin, ich weiß nicht mehr in welcher Veranlassung, erklärte, daß er neuerdings sehr schlecht geschlafen habe.

Herr Candy bemerkte darauf, daß sein Nervensystem offenbar angegriffen sei, und daß er unverzüglich Etwas dagegen gebrauchen müsse.

Herr Franklin erwiderte, daß sich ärztlich behandeln lassen und im Dunkeln tappen für ihn ganz gleichbedeutende Dinge seien.

Herr Candy gab ihm den Hieb geschickt zurück und sagte, daß Herr Franklin selbst, medizinisch gesprochen, im Dunkeln umhertappe, um Schlaf zu suchen, und daß nur die Medizin ihm zu diesem verhelfen könne.

Herr Franklin, an dem jetzt wieder die Reihe war, einen Hieb zu führen, bemerkte, daß er oft habe sagen hören, ein Blinder könne einen Blinden führen, daß er aber jetzt zum ersten Mal den wahren Sinn dieses Wortes verstehe.

In dieser Weise ging das Scharmützel eine Weile fort, bis beide anfingen heftig zu werden, namentlich Herr Candy, der in der Vertheidigung seines Berufs die Herrschaft über sich selbst so völlig verlor, daß Mylady sich genöthigt sah, dazwischen zu treten und die Fortsetzung des Gesprächs zu untersagen. Dieser nothgedrungene Act der Autorität von Seiten der Hausfrau brachte die matt glimmende Flamme der Geister völlig zum Erlöschen. Hie und da flackerte noch ein kurzes Gespräch auf, wiewohl aber immer nur, um wenige Augenblicke kümmerlich zu glimmen. Der Dämon des Diamanten waltete über diesem Mittagessen und Jedermann fühlte sich erleichtert, als meine Herrin endlich die Tafel aufhob und den Damen das Zeichen gab, die Herren ihrem Weine zu überlassen.

Ich hatte eben die Krystallflaschen in einer Reihe vor dem alten Herrn Ablewhite aufgestellt, welcher den Hausherrn vertrat, als plötzlich ein Ton von der Terrasse herauf erklang, der mich völlig aus meiner Butler-Fassung brachte. Herr Franklin und ich sahen einander an; es war der Ton der indischen Trommel, so wahr ich lebe! Es waren die Jongleurs die zugleich mit dem Mondstein zu unserem Hause zurückkehrten!

Als sie im Begriff waren, sich an der Ecke der Terrasse aufzustellen, humpelte ich hinunter, um sie wegzuschicken; aber ein unglücklicher Zufall wollte, daß die beiden »Dragoner« mir zuvorkamen. Sie platzten in ihrem ungeduldigen Verlangen, die Indier ihre Künste produzieren zu sehen, auf die Terrasse los wie ein Paar Raketen. Die anderen Damen folgten ihnen; dann kamen auch die Herren hinzu. Ehe man sich’s versah, hatten die Spitzbuben angefangen ihre Begrüßungen zu machen, und waren die Dragoner damit beschäftigt, den hübschen kleinen Jungen zu liebkosen. Herr Franklin stellte sich an die eine Seite von Fräulein Rachel und ich postirte mich hinter sie. Wenn unser Argwohn begründet war, so präsentierte sie ohne Ahnung irgend einer Gefahr wie sie dastand den Diamanten an ihrer Brust den danach lüsternen Indiern! Was sie für Taschenspielerstücke und wie sie sie machten, kann ich nicht sagen.

Der unangenehme Verlauf des Mittagessens und das fatale Erscheinen dieser Spitzbuben, die eben im rechten Moment gekommen waren, um den Edelstein mit ihren eigenen Augen zu sehen, brachten mich nachgerade außer Fassung. Die erste bemerkenswerthe Thatsache war dann das plötzliche Erscheinen des indischen Reisenden, Herrn Murthwaite. Indem er aus dem Halbkreis« in welchem die Damen und Herren saßen oder standen, heraustrat, stellte er sich ruhig hinter die Jongleurs und fing plötzlich an, sich in ihrer Landessprache mit ihnen zu unterhalten.

Hätte er ihnen einen Bajonnettstoß versetzt, hätten sie sich schwerlich tigerartig wilder gegen ihn geberden können, als sie es bei den ersten indischen Worten, die er aussprach thaten.

Im nächsten Augenblick verbeugten sie sich gegen ihn — und begrüßten ihn in ihrer höflichsten und kriechendsten Manier.

Nachdem sie einige Worte in ihrer unverständlichen Sprache mit einander gewechselt hatten, entfernte sich Herr Murthwaite ebenso ruhig wieder, wie er gekommen war. Darauf näherte sich der Anführer der Indier, der ihnen als Dolmetscher diente, wieder den Damen und Herren. Es entging mir nicht, daß das kaffeefarbige Gesicht des Kerls grau geworden war, seit Herr Murthwaite mit ihm gesprochen hatte. Er verneigte sich gegen Mylady und erklärte ihr, daß die Vorstellung zu Ende sei.

Die »Dragoner,« welche über diesen plötzlichen Schluß unbeschreiblich desapointirt waren, brachen in ein lautes »Oh!« gegen den Urheber dieses unerwarteten Schlusses, Herrn Murthwaite, aus.

Der Anführer der Indier legte seine Hand demüthig auf seine Brust und sagte zum zweiten Mal, die Jongleur-Vorstellung sei vorüber.

Der kleine Junge ging mit einem Hute in der Hand umher. Die Damen zogen sich in den Salon zurück und die Herren gingen mit Ausnahme der Herren Franklin und Murthwaite wieder zu ihrem Wein. Ich und der Diener folgten den Indiern, bis wir überzeugt waren, daß sie unsern Grund und Boden verlassen hatten.

Aus unserem Rückwege längs der Büsche spürte ich Tabakgeruch und fand Herrn Franklin und Herrn Murthwaite, den Letzteren eine indische Zigarre rauchend, langsam unter den Bäumen auf- und abgehend.

Herr Franklin forderte mich auf, mich zu ihnen zu gesellen.

»Das ist,« sagte Herr Franklin, indem er mich dem großen Reisenden vorstellte, »Gabriel Betteredge, der alte Diener und Freund unserer Familie, von dem ich so eben mit Ihnen gesprochen habe. Wiederholen Sie ihm, wenn ich bitten darf, was Sie mir gesagt haben.«

Herr Murthwaite nahm sein Zigarre aus dem Munde und lehnte sich in seiner müden Weise gegen einen Baumstumpf.

»Herr Betteredge,« fing er an, »die drei Indier sind so wenig Jongleurs, wie Sie und ich.«

Ich war natürlich sehr erstaunt und fragte den Reisenden, ob er schon je zuvor mit diesen Indiern zusammengetroffen sei.

»Niemals«, erwiderte Herr Murthwaite; »aber ich kenne das indische Jongleurwesen sehr genau. Alles, was Sie heute Abend davon gesehen haben, war nur eine elende und plumpe Nachahmung. Wenn mich nicht trotz einer langen Erfahrung Alles täuscht, sind diese Männer nichts Geringeres als Angehörige der Brahminen-Kaste. Ich trat ihnen mit der Erklärung entgegen, daß sie entlarvt seien, und Sie haben selbst gesehen, wie das bei allem Geschick der Indier, ihre Gefühle zu verbergen, auf die Leute gewirkt hat. Es ist etwas Geheimnisvolles in ihrem Benehmen, was ich mir nicht zu erklären weiß. Sie haben zwiefach die Gesetze ihrer Kaste übertreten, einmal indem sie über das Meer fuhren, und dann indem sie sich als Jongleurs verkleideten. Das sind für indische Brahminen ungeheuere Dinge. Sie müssen also sehr dringende Gründe für ihre Handlungsweise und ganz ungewöhnliche Momente zu ihrer Rechtfertigung haben, um hoffen zu können, wieder in ihre Kaste aufgenommen zu werden, wenn sie in ihr Vaterland zurückkehren.«

Ich war wie vernichtet. Herr Murthwaite rauchte seine Zigarre ruhig weiter.

Herr Franklin brach nach einer Pause, während deren er, wie mir schien, zwischen den verschiedenen Seiten seines, Charakters geschwankt hatte, das Schweigen mit folgenden von der italienischen und englischen Seite gleichmäßig eingegebenen Worten: »Ich trage Bedenken, Sie mit Familien-Angelegenheiten zu behelligen, Herr Murthwaite, die Sie nicht interessieren können und von denen ich außerhalb des Kreises unserer Familie lieber nicht reden möchte. Aber nach dem, was Sie eben gesagt haben, fühle ich mich im Interesse von Lady Verinder und ihrer Tochter verpflichtet, Ihnen etwas mitzutheilen, was Ihnen möglicherweise den Schlüssel zu dem Benehmen jener Leute geben kann. Ich rede zu Ihnen im Vertrauen und ich kann mich fest auf Sie verlassen, nicht wahr?«

Nach dieser Einleitung theilte er dem indischen Reisenden in seiner präzisen französischen Weise alles Das mit, was er mir bei dem Zitterstrand erzählt hatte. Selbst den unbeweglichen Herrn Murthwaite interessierten diese Mittheilungen so lebhaft, daß er seine Zigarre ausgehen ließ. »Und nun«, schloß Herr Franklin seine Erzählung, »was sagen Sie nach Ihren Erfahrungen dazu?«

»Nach meinen Erfahrungen,« antwortete der Reisende, »sage ich, daß Sie öfter einer drohenden Lebensgefahr glücklich entronnen. sind, Herr Blake, als ich, und das will viel sagen.«

Jetzt war es an Herrn Franklin seinerseits, erstaunt zu sein.

»Ist die Sache wirklich so ernsthaft?« fragte er.

»Nach meiner Überzeugung gewiß,« antwortete Herr Murthwaite »Nach dem, was Sie mir eben mitgetheilte haben, zweifle ich nicht, daß die Wiederbefestigung des Mondsteins an seiner ursprünglichen Stelle auf der Stirn des Götzen der Grund und die Rechtfertigung der Verstöße gegen die Vorschriften der Kaste ist, von denen ich vorhin gesprochen habe. Diese Leute werden eine günstige Gelegenheit mit der Geduld einer Katze abwarten, und dieselbe, sowie sie sich darbietet, mit der Wildheit eines Tigers ergreifen. Wie Sie ihnen entkommen sind, ist mir unverständlich.« sagte der berühmte Reisende, indem er sich seine Zigarre wieder anzündete und Herrn Franklin scharf in’s Auge faßte. »Sie haben den Diamanten zu wiederholten Malen transportiert,» hier und in London, und Sie sind noch am Leben! Sehen wir näher zu, ob wir eine Erklärung dafür finden, daß Sie diesen Gefahren entronnen sind. Es war, wenn ich nicht irre, beide Male bei Tage, daß sie den Edelstein aus der Bank in London nahmen?«

»Bei hellem Tage« antwortete Herr Franklin.

»Und wie viele Leute waren auf der Straße?«

»Sehr viele!«

»Sie hatten ohne Zweifel eine bestimmte Zeit festgesetzt, zu der Sie hier in Lady Verinder’s Haus eintreffen wollten? Zwischen der Station und dem Hause hier ist die Gegend sehr einsam. Haben Sie die festgesetzte Zeit eingehalten?«

»Nein, ich traf vier Stunden früher ein, als ich mich gemeldet hatte.«

 

»Nun, zu dieser Verfrühung Ihrer Ankunft sage ich Ihnen meinen herzlichsten Glückwunsch. Wann brachten Sie den Diamanten von hier nach nach der Bank in der Stadt?«

»Eine Stunde, nachdem ich hier damit angekommen war, und drei Stunden, bevor irgend Jemand mich in dieser Gegend erwartete.«

»Auch dazu sage ich Ihnen meinen herzlichsten Glückwunsch. Brachten Sie ihn dann allein hierher zurück.«

»Nein, ich ritt zufällig mit meinem Vetter, meinen Cousinen und dem Stallknecht.«

»Nun, so gratuliere ich Ihnen zum dritten Mal. Sollten Sie jemals Neigung verspüren, Herr Blake, über die Grenze der zivilisierten Welt hinauszureisen, so lassen Sie mich es wissen und ich will Sie begleiten. Sie sind ein vom Glücke wunderbar begünstigter Mensch!«

Hier fiel ich ein. Diese Art und Weise stimmte durchaus nicht mit meinen englischen Ideen.

»Sie wollen doch nicht im Ernste sagen, Herr Murthwaite,« fragte ich, »daß die Kerle Herrn Franklin um’s Leben gebracht haben würden, um ihren Diamanten zu bekommen, wenn er ihnen die Gelegenheit dazu geboten hätte?«

»Rauchen Sie, Herr Betteredge?« fragte der Reisende.

»Ja, Herr Murthwaite!«

»Bekümmern Sie sich viel um die Asche, die in Ihrer Pfeife zurückbleibt, wenn Sie sie ausklopfen?«

»Nein, Herr Murthwaite!«

»In dem Lande, aus welchem jene Leute kommen, machen sie sich genau so viel daraus, einen Menschen um’s Leben zu bringen, als Sie sich daraus machen, die Asche aus Ihrer Pfeife zu klopfen.

Wenn tausend Menschenleben zwischen ihnen und der Wiedererlangung des Diamanten ständen, und wenn sie glauben dürften, diese Leben unentdeckt zerstören zu können, so würden sie nicht das mindeste Bedenken tragen, sie alle zu opfern. Das Aufgeben einer Kaste ist eine sehr ernste Sache in Indien, die Vernichtung eines Menschenlebens aber bedeutet dort gar nichts.«

Ich äußerte darauf, daß nach meiner Meinung das Volk der Indier eine Raubmörderbande sei. Herr Murthwaite hingegen erklärte, daß sie ein höchst merkwürdiges Volk seien. Herr Franklin sprach gar keine Ansicht aus, sondern suchte die Unterhaltung wieder auf den vorliegenden Gegenstand zurückzulenken.

»Sie haben den Mondstein an Fräulein Verinder’s Brust gesehen« sagte er; »was ist jetzt zu thun?«

»Das, womit Ihr Onkel gedroht hat,« antwortete Herr Murthwaite »Herncastle kannte seine Leute. Schicken Sie den Diamanten morgenden Tages unter Bewachung von mehr als einem Mann zum Zerschneiden nach Amsterdam. Lassen Sie ein halbes Dutzend Diamanten statt eines einzigen daraus machen. Damit ist seiner geheiligten Identität mit dem Mondstein und damit zugleich der Verschwörung ein Ende gemacht.«

Herr Franklin wandte sich zu mir.

»Es hilft nichts, wir müssen morgen mit Lady Verinder sprechen!«

»Und warum nicht noch heute Abend?« fragte ich.

»Es wäre doch möglich, daß die Indier inzwischen wieder herkämen.«

Herr Murthwaite antwortete mir, bevor noch Herr Franklin reden konnte: »Die Indier werden es nicht riskieren, noch diesen Abend zurückzukommen; sie bedienen sich fast bei keiner Gelegenheit des direkten Weges, am wenigsten bei einer Affaire wie diese, wo das geringste Versehen für die Erreichung ihres Zweckes verhängnißvoll werden könnte.«

»Wenn nun aber die Spitzbuben verwegener wären, als Sie annehmen?« fuhr ich fort.

»Ja diesem Falle,« sagte Herr Murthwaite »lassen Sie die Hunde los! Haben Sie große Hunde hier auf dem Gut?«

»Zwei, Herr Murthwaite einen Kettenhund und einen Bluthund.«

»Das ist genug, die Hunde haben in unserm Fall den großen Vorzug, sich durch keine Skrupel über die Heiligkeit des menschlichen Lebens beirren zu lassen.«

Die Töne des Klaviers drangen bei diesen Worten des Herrn Murthwaite aus dem Salon zu uns. Herr Murthwaite warf seine Zigarre weg und ergriff Herrn Franklins Arm, um zu den Damen zurückzukehren. Ich beobachtete, daß der Himmel sich rasch bewölkte, während ich ihnen in’s Haus folgte. Herr Murthwaite bemerkte dies gleichfalls; er wandte sich nach mir um und sagte in seiner sonderbar trocknen Weise: »Die Indier werden heute Abend ihre Regenschirme gebrauchen, Herr Betteredge!« Er konnte wohl über die Sache scherzen, aber ich war kein berühmter Reisender; mein Weg in dieser Welt hatte mich nicht daran gewöhnt, unter Dieben und Mördern in den entferntesten Gegenden der Welt Katze und Maus um mein Leben zu spielen.

Ich ging in mein kleines Zimmer, setzte mich, um mich abzukühlen, in meinen Lehnstuhl und dachte rathlos darüber nach, was jetzt zu thun sei.

In dieser ängstlichen Gemüthsverfassung hätten andere Menschen sich vielleicht zu einer fieberhaften Aufregung gesteigert. Ich machte es anders: ich zündete mir eine Pfeife an und fing an in Robinson Crusoe zu blättern.

Bevor ich noch fünf Minuten darin gelesen hatte, stieß ich auf folgende merkwürdige Stelle Seite 161:

»Die Furcht vor Gefahren ist zehntausendmal so beängstigend als die Gefahr selbst, wenn sie uns vor die Augen tritt, und die Last der Angst ist viel drückender als das Übel selbst, vor dem wir uns fürchten.«

Um an einen solchen Ausspruch Robinson Crusoe’s nicht zu glauben, müßte Einer im Kopfe nicht recht richtig oder von Selbstüberhebung völlig verblendet sein.

Ich war schon lange bei meiner zweiten Pfeife und saß noch immer in Bewunderung dieses merkwürdigen Buches verloren da, als Penelope, die den Thee herumgereicht hatte, zu mir kam, um mir über den Zustand der Dinge im Salon Bericht zu erstatten. Bei ihrem Fortgehen hatten eben die Dragoner angefangen, ein Duett zu singen, dessen Text mit einem großen »Oh!« anfing. Mylady hatte sich zum ersten Male, so lange Penelope denken konnte, verschiedene Versehen beim Whistspiel zu Schulden kommen lassen. Der große Reisende war in einer Ecke eingeschlafen.« Herr Franklin hatte seinen Witz auf Kosten der Damenwohlthätigkeit an Herrn Godfrey ausgelassen, und Herr Godfrey hatte die Hiebe schärfer pariert, als einem Manne von so wohlwollendem Wesen anstand. Fräulein Rachel war damit beschäftigt gewesen, anscheinend Mrs. Threadgall zu beschwichtigen, indem sie ihre Photographien zeigte, in der That aber Herrn Franklin verstohlene Blicke zuzuwerfen, welche einem intelligenten Kammermädchen nicht einen Augenblick entgehen konnten. Den Doktor Herrn Candy hatte sie vermißt: er war aus geheimnißvolle Weise aus dem Salon verschwunden, war dann plötzlich wieder ebenso geheimnißvoll zurückgekommen und hatte sich in eine Unterhaltung mit Herrn Godfrey eingelassen. Im Ganzen ging es besser, als man nach dem Verlauf des Mittagessens hätte hoffen können. Wenn die Sache sich nur noch eine Stunde halten ließ, so führte die alte Mutter Zeit die Wagen der Gäste und erlöste uns von ihnen Allen.

Alles in dieser Welt geht vorüber und selbst die tröstende Wirkung Robinson Crusoes ging vorüber, als Penelope mich wieder verließ. Ich wurde wieder unruhig und beschloß, noch einmal durch den Garten zu gehen, bevor der drohende Regen zu fallen anfing. Statt des Dieners, der doch nur eine menschliche Nase hatte und mir daher bei möglichen Ereignissen nutzlos gewesen wäre, nahm ich den Bluthund mit mir, auf dessen sichere Spürnase man sich verlassen konnte. Wir gingen durch den ganzen Garten bis aus die Landstraße und kamen ebenso klug, wie wir gegangen waren, wieder zurück, denn es war uns kein herumstreifendes menschliches Wesen begegnet Ich kettete also den Hund wieder an, nahm meinen Weg wieder längs der Gebüsche und begegnete Zweien unserer Herren, die eben den Salon verlassen hatten. Es waren Herr Candy und Herr Godfrey noch immer wie vorher nach Penelopes Bericht in lebhafter Unterhaltung begriffen und über ihre eigenen Witze lachend. Es kam mir sonderbar vor, daß diese beiden Männer sich befreundet haben sollten, ich ging aber natürlich, anscheinend ohne mich irgend um sie zu kümmern, an ihnen vorüber.

Die Ankunft der Wagen schien das Signal für den Ausbruch des Regens zu sein. Es goß, als ob es die ganze Nacht nicht wieder aufhören wolle.

Mit Ausnahme des Doktors, für den ein offener Einspänner bereit stand, fuhr die übrige Gesellschaft wohlverwahrt in geschlossenen Wagen nach Hause. Ich drückte Herrn Candy meine Besorgnis aus, er werde vom Regen durchnäßt werden, worauf er, mir erwiderte, es wundere ihn, daß ich so alt geworden sei, ohne zu wissen, daß die Haut eines Arztes wasserdicht sein müsse. So fuhr er über seinen kleinen Selbstwitz lachend im Regen fort und so wurden wir unsere Mittagsgesellschaft los.

Was ich nun zunächst zu berichten habe, ist der Verlauf der Nacht.

Elftes Kapitel.

Als die letzten Gäste weggefahren waren, ging ich wieder in die Halle, wo Samuel an dem Seitentisch mit Cognac und Sodawasser stand. Mylady und Fräulein Rachel traten eben, von beiden Herren gefolgt, aus dem Salon. Herr Godfrey nahm etwas von jenen Getränken, Herr Franklin aber nahm nichts zu sich. Er sah sehr abgespannt aus und setzte sich nieder: die Unterhaltung an diesem Geburtstag war ihm, wie mir schien, zu viel geworden.

Mylady warf, indem sie den Herren gute Nacht sagte, noch einen scharfen Blick aus das Vermächtniß des bösen Obersten, das an der Brust ihrer Tochter glänzte. »Rachel,« fragte sie, »wo willst Du Deinen Diamanten heute Nacht hinlegen?«

Das Fräulein war in sehr ausgelassener Stimmung, so recht aufgelegt, dummes Zeug zu reden, wie es junge Mädchen am Ende eines aufregenden Tages wohl zu sein pflegen. Zuerst erklärte sie, sie wisse nicht, wohin sie den Diamanten legen solle. Dann sagte sie, natürlich auf ihren Toilette-Tisch mit ihren anderen Sachen. Dann erinnerte sie sich wieder, daß der Diamant sie mit seinem mondlichtartigen Scheine inkommodieren und während des Dunkels der Nacht erschrecken konnte. Dann wieder fiel ihr ein indisches Schränkchen ein, das in ihrem Wohnzimmer stand, und sie beschloß sofort, den indischen Diamanten in das indische Schränkchen zu legen, damit die zwei schönen Produkte desselben Landes sich einander Gesellschaft leisten könnten. Nachdem sie ihrem Gelüste, dummes Zeug zu schwatzen, soweit freien Lauf gelassen hatte, trat ihre Mutter dazwischen und machte der Sache ein Ende.

»Liebes Kind, Dein indisches Schränkchen hat ja gar kein Schloß,« sagte die Mutter.

»Guter Gott!« rief Fräulein Rachel »Sind wir hier in einem Hotel? Oder sind hier Diebe im Hause?«

Ohne von diesen Worten Notiz zu nehmen, wünschte Mylady den Herren gute Nacht, wandte sich dann zu Fräulein Rachel, küßte sie und fragte: »Soll ich nicht lieber den Diamanten diese Nacht zu mir nehmen?«

Fräulein Rachel war über diesen Vorschlag so entrüstet, wie sie vor zehn Jahren über die Zumuthung gewesen sein würde, sich von ihrer Lieblingspuppe zu trennen. Mylady sah, daß diesen Abend nicht vernünftig mit ihr zu reden sei.

»Rachel, komme morgen früh, so bald Du aufgestanden bist, zu mir in mein Zimmer! Ich habe Dir etwas zu sagen.«

Mit diesen Worten verließ sie uns langsam, ihren eigenen Gedanken nachhängend, die allem Anschein nach nicht sehr beruhigender Natur waren.

Nach ihr sagte auch Fräulein Rachel den Herren gute Nacht.

Sie gab zuerst Herrn Godfrey, der am anderen Ende der Halle stand und sich ein Bild ansah, die Hand, und wandte sich dann zu Herrn Franklin, der noch immer ermüdet und schweigsam in seiner Ecke saß.

Was sie mit einander redeten kann ich nicht sagen. Da ich aber ganz in der Nähe des alten großen Spiegels mit seinem Rahmen von schwerem Eichenholz stand, sah ich in demselben, wie sie das Medaillon, das ihr Herr Franklin geschenkt hatte, verstohlen aus ihrem Busen zog und es ihm, bevor sie die Halle verließ, mit einem sehr ausdrucksvollen Lächeln zeigte.

Dieser Vorfall machte mich in dem Vertrauen auf mein eigenes Urtheil etwas wankend. Ich fing an zu glauben, daß Penelope am Ende doch in Betreff der Neigung ihrer Herrin Recht haben könnte. Sobald Herr Franklin wieder für etwas Anderes in der Welt Augen hatte, wurde er meiner ansichtig. Sein wankelmüthiges Temperament, das ihn seine Ansichten über alle Dinge fortwährend wechseln ließ, hatte ihn auch in Betreff der Indier schon wieder zu einer neuen Ansicht gelangen lassen.

»Betteredge,« sagte er, »ich glaube fast, daß ich es mit dem, was Herr Murthwaite bei unserer Unterhaltung unter den Büschen gesagt hat, zu ernst genommen habe; ich bin versucht zu glauben, daß er sich mit einer Jagdgeschichte über uns lustig gemacht hat. Wollen Sie wirklich die Hunde loslassen?«

»Ich will ihnen ihr Halsband abnehmen, Herr Franklin,« antwortete ich, »und es ihnen möglich machen, sich während der Nacht frei zu bewegen, wenn sie in ihrer Nase eine Aufforderung dazu finden sollten.«

 

»Gut,« sagte Herr,Franklin, »wir wollen morgen weiter sehen. Betteredge; ich habe durchaus keine Lust, meine Tante ohne sehr dringende Gründe zu beunruhigen. Schlafen Sie wohl!«

Er sah so erschöpft und blaß aus, als er mir gute Nacht sagte und sein Licht ergriff, um in sein Zimmer zu gehen, daß ich ihm riet, ein wenig Cognac und Wasser als Schlaftrunk zu nehmen.

Herr Godfrey, der vom andern Ende der Halle her auf uns zutrat, unterstützte diesen Vorschlag und drang in der freundschaftlichsten Weise in Herrn Franklin, vor dem Schlafengehen noch Etwas zu sich zu nehmen.

Ich thue dieser geringfügigen Umstände nur deshalb Erwähnung, weil es mir nach Allem, was ich an diesem Tage gesehen und gehört hatte, Vergnügen machte zu beobachten, daß unsere beiden Herren noch auf ebenso gutem Fuße standen wie vorher. Weder ihr Wortkampf, den Penelope im Salon mit angehört hatte, noch ihre Rivalität in der Bewerbung um Miß Rachels Neigung schien ihr gutes Verhältnis beeinträchtigt zu haben. Beide hatten ein glückliches Temperament und Beide waren Männer von Welt. Und das ist ein entschiedener Vorzug der Gebildeten, daß sie bei Weitem nicht so zanksüchtig sind wie Ungebildete.

Herr Franklin dankte für Cognac und Wasser und ging mit Herrn Godfrey hinaus, Beide in ihre neben einander liegenden Zimmer. Kaum oben angelangt, wurde aber Herr Franklin schon wieder, wie gewöhnlich, anderen Sinnes.

»Vielleicht brauche ich es doch während der Nacht.« rief er mir hinunter: »Schicken Sie mir etwas Cognac herauf!«

Ich schickte Samuel mit Cognac und Wasser hinauf, ging dann in den Hof und nahm den Hunden ihre Halsbänder ab. Beide schienen höchst erstaunt, sich zu so später Nachtstunde losgemacht zu sehen und sprangen wie ein paar junge Hunde auf mich los; der Regen aber kühlte sie bald wieder ab. Beide tranken ein wenig Wasser und krochen dann wieder in ihr Hundehaus zurück. Als ich wieder in’s Haus trat, bemerkte ich am Himmel Zeichen, welche eine Wendung des Wetters zum Bessern andeuteten. Augenblicklich regnete es noch heftig und der Boden war völlig aufgeweicht. Samuel und ich gingen durch’s ganze Haus und schlossen alle Thüren wie gewöhnlich. Ich untersuchte Alles selbst und überließ meinem Adjutanten bei dieser Gelegenheit nichts. Alles war sicher und wohl verwahrt, als ich zwischen Mitternacht und ein Uhr Morgens meine alten Glieder zur Ruhe brachte.

Die Anstrengungen des Tages waren, glaube ich, ein wenig zu viel für mich gewesen; wenigstens hatte ich diese Nacht einen Anfall von Herrn Franklin’s Krankheit. Erst bei Sonnenaufgang schlief ich endlich ein. Bis dahin aber hatte Grabesstille im Hause geherrscht. Kein Laut war vernehmbar, als das Fallen des Regens und das Rauschen des Windes in den Zweigen.

Ungefähr um halb acht Uhr erwachte ich und öffnete mein Fenster, um in einen schönen, sonnigen Morgen zu blicken. Die Uhr hatte acht geschlagen, und ich war eben hinausgetreten, um die Hunde wieder anzuketten, als ich plötzlich das Rauschen eines Frauenkleides aus der Treppe hinter mir vernahm. Ich drehte mich um und sah Penelope wie von Sinnen auf mich losstürzen »Vater!« schrie sie, »um Gottes willen! komm heraus, der Diamant ist fort!«

»Bist Du von Sinnen?« fragte ich.

»Fort!« sagte sie, »fort! Kein Mensch weiß, wie. Komm selbst hinauf und sieh!«

Sie schleppte mich hinter sich her in das Wohnzimmer unseres Fräuleins, das an ihr Schlafcabinet stieß. Da stand Fräulein Rachel an der Schwelle ihres Schlafzimmers, fast so weiß im Gesicht wie das weiße Morgengewand, das sie trug. Da stand auch das indische Schränkchen offen da, eines der Schuhfächer desselben war weit aufgezogen.

»Da sieh!« sagte Penelope, »ich habe selbst gestern Abend gesehen, wie Fräulein Rachel ihren Diamanten hineinlegte.« Ich trat an das Schränkchen. Das Schubfach war leer.

»Ist das wahr, Fräulein?« sagte ich.

Mit einem Blick und einer Stimme, die nicht ihr anzugehören schienen, antwortete Fräulein Rachel, wie meine Tochter geantwortet hatte:

»Der Diamant ist fort.«

Mit diesen Worten zog sie sich in ihr Schlafzimmer zurück und verschloß dasselbe hinter sich.

Bevor wir noch hatten überlegen können, was zu thun sei, trat Mylady ein, die meine Stimme in dem Wohnzimmer ihrer Tochter vernommen hatte und begierig war, zu erfahren, was vorgefallen sei. Bei der Nachricht von dem Verschwinden des Diamanten schien sie wie versteinert; dann ging sie an die Thür von Fräulein Rachel’s Schlafzimmer und verlangte eingelassen zu werden. Fräulein Rachel öffnete.

Die Schreckensbotschaft, die wie Feuerlärm durch das Haus lief, erreichte zunächst die beiden Herren.

Herr Godfrey war der Erste, der aus seinem Zimmer trat. Alles, was er that, als er von dem Vorgefallenen hörte, war, daß er seine Hände in einer Art von Verzweiflung in die Höhe hielt, was eben nicht sehr für seine Geistesgegenwart sprach.

Herr Franklin, von dessen klarem Kopfe ich zuversichtlich guten Rath in dieser Sache erwartet hatte, schien nicht weniger rathlos als sein Vetter, als er die Nachricht vernahm. Merkwürdiger Weise hatte er die vorige Nacht gut geschlafen, und der ungewohnte Genuß des Schlafes hatte ihn, wie er selbst sagte, anscheinend dumm gemacht; Als er jedoch seinen Kaffee getrunken hatte, den er nach ausländischer Sitte immer einige Stunden vor dem Frühstück nahm, klärte sich sein Kopf auf, seine scharfsinnige Seite trat wieder hervor und er nahm die Sache entschlossen und geschickt in folgender Weise in die Hand:

Er ließ zuerst die Dienerschaft zusammenkommen und befahl, alle Thüren und Fenster des Erdgeschosses, mit Ausnahme der Hauptthür die ich eben geöffnet hatte, völlig unberührt zu lassen, wie wir sie am Abend zuvor verschlossen hatten. Demnächst forderte er seinen Vetter und mich auf, uns, bevor wir irgend einen weitern Schritt thäten, zu überzeugen, daß der Diamant nicht irgendwohin gefallen sei, vielleicht hinter das Schränkchen oder hinter den Tisch, auf, welchem das Schränkchen stand.

Nachdem Herr Franklin beide Stellen durchsucht und nichts gefunden, dann Penelope befragt und nichts von ihr erfahren als das Wenige, was sie mir bereits mitgetheilt hatte, schlug er vor, nun Fräulein Rachel selbst zu befragen, und schickte Penelope ab, an ihre Schlafstubenthür zu klopfen. Mylady öffnete und schloß die Thür wieder hinter sich. Den nächsten Augenblick hörten wir, wie die Thür von innen von Fräulein Rachel wieder verriegelt wurde. Mylady kam wieder zu uns herein und sah ganz verstört und unglücklich aus. »Der Verlust des Diamanten scheint Rachel ganz außer sich gebracht zu haben,« sagte sie zu Herrn Franklin, »sie weigerte sich in der auffallendsten Weise, selbst mit mir davon zu reden; Sie können sie in diesem Augenblicke unmöglich sehen.«

Nach diesen Worten Mylady’s, welche unsere Verwirrung nur zu vermehren geeignet waren, gewann sie ihre Fassung wieder und handelte mit ihrer gewöhnlichen Entschlossenheit »Ich fürchte, da wird nicht zu helfen sein,« sagte sie ruhig. »Ich fürchte, wir haben keine andere Wahl, als nach der Polizei zu schicken.«

»Und das Erste, was die Polizei zu thun haben wird,« fügte Herr Franklin ergänzend hinzu, »ist, die indischen Jongleurs zu verhaften, die gestern Abend hier ihre Künste produzierten.«

Mylady und Herr Godfrey, denen von dem, was Herr Franklin und ich wußten, nichts bekannt war, schienen Beide erschreckt und erstaunt.

»Ich habe jetzt keine Zeit, mich näher zu erklären,« fuhr Herr Franklin fort, »ich kann Ihnen nur kurz soviel sagen, daß die Indier unzweifelhaft den Diamanten gestohlen haben. Geben Sie mir einen Empfehlungsbrief an ein Mitglied des Magistrats in Frizinghall,« sagte er zu Mylady gewandt, »in welchem Sie einfach erklären, daß ich Ihre Interessen und Wünsche vertrete und lassen Sie mich auf der Stelle damit wegreiten. Unsere Chance, der Diebe habhaft zu werden, kann durch den Verlust einer einzigen Minute gefährdet sein.« (NB.: gleichviel, ob es die französische oder englische Seite war, jedenfalls schien er jetzt die rechte Seite hervorgekehrt zu haben; es fragte sich nur, wie lange es dauern würde.)