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Drittes Kapitel.

Der Brief des Zwillingsbruders

Ohne eine Ahnung davon zu haben, welch’ einen Sturm er erregt habe, folgte uns der arme Oscar unter der väterlichen Escorte des Pfarrers in das Haus, mit seinem offenen Brief in der Hand.



Gewisse Anzeichen in dem Benehmen meines ehrwürdigen Freundes ließen mich schließen, daß die Ankündigung des Besuches Nugent Dubourgs in Dimchurch, in welcher wir Uebrigen nur die Aussicht auf die Ankunft eines Zwillingsbruders erblickten, von Herrn Finch aus dem Gesichtspunkt der bevorstehenden Ankunft eines Zwillingsvermögens betrachtet wurde. Oscar und Nugent hatten sich in die schöne väterliche Erbschaft getheilt Finch witterte Geld.



»Beruhigen Sie sich,« flüsterte ich Lucilla zu als die beiden Herren uns in das Wohnzimmer folgten; »Ihre Eifersucht auf seinen Bruder ist kindisch. Es ist Raum genug in seinem Herzen für seinen Bruder und für Sie.



Aber sie wiederholte nur hartnäckig, indem sie mich in den Arm kniff: »Ich hasse seinen Bruder!«



»Komm, setze Dich zu mir,« sagte Oscar, indem er an ihre andere Seite trat. »Ich möchte Dir Nugent’s Brief vorlesen, er scheint sehr interessant zu sein; er enthält auch eine Botschaft an Dich.« Oscar, der durch das Interesse an diesen Brief zu sehr absorbirt war, um zu merken, mit welcher verdrossenen Fügsamkeit Lucilla ihm zuhörte, führte sie an einen Stuhl und fing an zu lesen. »Die ersten Zeilen,« erklärte er, »beziehen sich auf Nugent’s Rückkehr nach England und auf seine köstliche Idee, mich auf längere Zeit in Browndown zu besuchen. Dann fährt er fort: Ich fand alle Deine Briefe bei meiner Rückkehr nach Newport. Brauche ich Dir zu sagen, liebster Bruder —«.



Lucilla unterbrach ihn bei diesen Worten, indem sie plötzlich aufstand.



»Was ist Dir?« fragte er.



»Ich mag nicht auf dem Stuhl sitzen.«



Oscar rückte ihr einen Lehnstuhl heran und nahm seinen Brief wieder auf.



Brauche ich Dir zu sagen, liebster Bruder, welchen innigen Antheil ich an Deiner beabsichtigten Heirath nehme; Dein Glück ist mein Glück. Ich fühle mit Dir, ich wünsche Dir Glück; ich sehne mich darnach, meine künftige Schwägerin kennen zu lernen!«



Lucilla stand wieder auf. Oscar fragte sie erstaunt was sie jetzt habe.



»Ich fühle mich nicht behaglich an dieser Seite des Zimmers.«



Sie ging nach der andern Seite des Zimmers. Oscar folgte ihr geduldig mit seinem Brief in der Hand. Er rückte einen dritten Stuhl für sie heran. Sie lehnte denselben ungestüm ab und nahm sich selbst einen andern Stuhl. Oscar nahm seinen Brief wieder auf.



»Wie melancholisch und doch wie interessant daß sie blind ist. Meine amerikanischen Landschaftsskizzen lagen gerade im Zimmer umher, als ich Deinen Brief las. Mein erster Gedanke, als ich Deine traurige Mittheilung las, bezog sich auf meine Skizzen. Ich sagte mir: »Wie unendlich traurig, meine Schwägerin wird meine Arbeiten nie sehen können!« Ein wahrer Künstler denkt immer an seine Arbeiten, lieber Oscar. Laß Dir erzählen, daß ich einige sehr merkwürdige, Studien zu künftigen Bildern mitbringen werde. Sie werden vielleicht nicht so zahlreich sein, wie Du erwartest. Ich verlasse mich lieber aus das in mir wohnende Ideal der Schönheit, als auf reine Abschriften der Natur. In gewissen Stimmungen ist mir die Natur, vom künstlerischen Standpunkte aus gesprochen, gerader im Wege.« Bei diesen Worten hielt Oscar inne und wandte sich an mich. »Wie er schreibt! – Wie? Ich habe es Ihnen ja immer gesagt, Madame Pratolungo, daß Nugent ein Genie sei. Jetzt sehen Sie, daß ich Recht habe. Steh’ nicht auf, Lucilla. Ich will weiter lesen. Da kommt gleich eine so hübsch geschriebene Stelle an Dich.«



Aber Lucilla ließ sich nicht abhalten aufzustehen; sie schien keine Lust zu verspüren, die hübsch geschriebene Bestellung zu hören. Sie ging ans Fenster und pflückte ungeduldig an den Blumen, die vor demselben standen. Oscar sah mit mildem Erstaunen erst mich, dann den Pfarrer an. Der Ehrwürdige Finch, der mit der respectvollsten Aufmerksamkeit zuhörte; welche der Correspondenz eines wohlhabenden Mannes mit einem anderen wohlhabenden Manne gebührt, legte sich ins Mittel, um Oscar ein williges Gehör von Lucilla zu verschaffen.



»Meine liebe Lucilla, suche Deine Ruhelosigkeit zu bemeistern, Du störst unseren Genuß an diesem interessanten Briefe; ich wünsche, daß Du weniger oft Deinen Platz wechseln und dem, was Oscar Vorliest, eine ungetheiltere Aufmerksamkeit zuwenden möchtest.«



»Mich interessirt es nicht, was er vorliest!« Lucilla warf bei dieser unwillkürlich ihr entschlüpften ungraziösen Aeußerung, die sie selbst erschreckte und aufregte, einen der Blumentöpfe am Fenster um. Oscar stellte ihn freundlich wieder auf, indem er verwundert fragte: »Es interessirt Dich nicht? Warte nur noch ein wenig. Du hast Nugent’s Bestellung noch nicht gehört. Höre nur was jetzt kommt: »Sage der zukünftigen Frau Oscar Dubourg mit meinen besten Grüßen (der liebe Junge!), daß sie mir einen neuen Sporn gegeben habe, meine Rückkehr nach England zu beschleunigen.« Nun sage selbst, Lucilla, ist das nicht hübsch ausgedrückt? Bekenne, daß es der Mühe werth ist zu hören, was er über Dich schreibt.«



Sie wandte sich zum ersten Male nach Oscar um; der liebevolle Ton, in dem er diese Worte sprach, besiegte ihren Mißmuth.



»Ich bin Deinem Bruder sehr verbunden und schäme mich dessen, was ich soeben gesagt habe,« antwortete sie sanft, indem sie verstohlen ihre Hand in die seinige legte und ihm zuflüsterte: »Du liebst Nugent so sehr, daß ich fast fürchte, es bleibt kein Raum für mich in Deinem Herzen.«



Oscar war entzückt. »Warte bis Du ihn kennen lernst und Du wirst ihn ebenso lieben wie ich; er nimmt die Leute sofort bei der ersten Bekanntschaft für sich ein; Niemand kann ihm widerstehen.«



Sie hielt noch immer seine Hand in der ihrigen, während sich Trauer und Befangenheit in ihren Zügen malte. Die bewunderungswürdige Neidlosigkeit Oscar’s, sein unbegrenztes Vertrauen in ihre Liebe waren stumme und doch beredte Vorwürfe für sie.



»Fahren Sie fort, lieber Oscar,« sagte der Pfarrer im tiefsten Baß, vermuthlich um Oscar zum Weiterlesen zu ermuthigen. »Was kommt jetzt, mein Junge?«



»Wieder eine interessante Stelle ganz anderer Art,« erwiderte Oscar. »Auf der nächsten Seite des Briefes findet sich etwas Mysteriöses, das sehr geeignet ist, uns in Spannung zu versetzen; Nugent schreibt: »Ich habe hier in Newport die Bekanntschaft eines merkwürdigen Mannes gemacht, eines Deutschen, der sich in den Vereinigten Staaten ein großes Vermögen erworben hat. Er wird England in diesem Frühjahr einen Besuch abstatten und wird mich sofort von seiner Ankunft in Kenntniß setzen. Es wird mir eine besondere Freude sein, ihn mit Dir und Deiner zukünftigen Frau bekannt zu machen und wer weiß, vielleicht werdet Ihr Grund haben, dem glücklichen Zufall, der mir seine Bekanntschaft zugeführt hat, dankbar zu sein. So Viel für heute von meinem neuen Freunde. Näheres berichte ich mündlich.« —



»Dem glücklichen Zufall – der mir seine Bekanntschaft zugeführt hat, dankbar zu sein?« wiederholte Oscar, indem er den Brief zusammenfaltete. »Nugent schreibt so etwas nicht, ohne eine bestimmte Absicht dabei zu haben. Wer mag der deutsche Herr sein?«



Herr Finch sah plötzlich mit dem Ausdruck einer gewissen Bestürzung zu Oscar auf.



»Ihr Bruder erwähnt, daß der Herr sich ein Vermögen in Amerika erworben habe,« sagte der Ehrwürdige Finch, »ich hoffe, er ist kein Börsenmann. Er möchte sonst Vielleicht Ihren Bruder mit dem Geiste der ruhelosen Speculation, die so zu sagen das Nationallaster der Vereinigten Staaten ist, anstecken und Ihr Bruder, der ohne Zweifel eine ebenso edle Natur ist wie Sie —«.



»Viel edler, Herr Finch,« unterbrach ihn Oscar.



»Und auch wie Sie im Besitze bedeutender Mittel ist,« fuhr der Pfarrer in steigendem Enthusiasmus fort.



»War,« erläuterte Oscar. »Jetzt drückt ihn sein Vermögen durchaus nicht mehr.«



»Was!« rief Herr Finch, indem er entsetzt zurückfuhr.



»Nugent hat sein Geld rasch durchgebracht,« fuhr Oscar ruhig fort. »Ich habe ihm das Geld zu der Reise nach Amerika geliehen. Mein Bruder ist eine geniale Natur, Herr Finch, und solche Naturen lassen sich nicht in die alltäglichen Schranken des Hergebrachten eindämmen. Nugent genügt nicht eine bescheidene Art zu leben; er liebt fürstliche Pracht – und Geld ist ihm nichts! Gleichviel! Er wird sich schon ein neues Vermögen mit seinen Bildern erwerben, und bis dahin kann ich ihm mit meinen Mitteln aushelfen.«



Herr Finch erhob sich mit der Miene eines in seinen Erwartungen getäuschten in seinem rückhaltlosen Vertrauen schmählich betrogenen Mannes. Welche Aussichten! Es wollte sich also in der Nähe des Pfarrhauses, in seiner Nähe Jemand niederlassen, der wie er in steter Geldnoth war, der wie er von Oscar Geld borgen werde – und dieser Mann war Oscar’s Bruder!



»Ich kann mich Ihrer leichten Auffassung der Verschwendung Ihres Bruders nicht anschließen,« sagte der Pfarrer, indem er sich im Fortgehen in einem feierlich strengen Ton an Oscar wandte. »Ich beklage und tadle den üblen Gebrauch, welchen Herr Nugent von den ihm von einer allweisen Vorsehung anvertrauten Glücksgütern gemacht hat. Sie werden gut thun, sich die Sache zu überlegen, bevor Sie den verschwenderischen Hang Ihres Bruders durch Darlehen befördern. Was sagt der große Dichter der Menschheit vom Borgen? Der Barde von Avon sagt uns: »Der Borger verliert oft das Geborgte und den Freund dazu.« Lassen Sie sich diese schönen Worte gesagt sein, Oscar. Lucilla hüte Dich vor der Ruhelosigkeit, die ich schon zu tadeln Gelegenheit gehabt habe. Ich muß Sie verlassen, Madame Pratolungo. Ich bin meiner geistlichen Pflicht nicht eingedenk gewesen; meine geistlichen Pflichten harren meiner. Adieu, adieu!«



Er sah uns der Reihe nach mit einem sehr sauern Gesicht an und ging zum Zimmer hinaus. Dieser Bruder Oscar’s, dachte ich bei mir, führt sich gut ein. Erst fühlt sich die Tochter von ihm beleidigt und jetzt folgt der Vater ihrem Beispiel. Schon von der anderen Seite des atlantischen Oceans her übt Herr Nugent Dubourg einen verderblichen Einfluß und stört die Ruhe der Familie, noch ehe er einen Fuß in das Haus gesetzt hat!«

 



Sonst ereignete sich an diesem Tage nichts Erwähnenswerthes. Wir verbrachten einen sehr langweiligen Abend; Lucilla war verstimmt; ich hatte mich noch nicht an den abschreckenden Anblick von Oscar’s entstelltem Gesicht gewöhnen können und war daher ernst und still. Wer mich an diesem Abend zum ersten Male gesehen hätte, wurde mich nicht für eine Französin gehalten haben.



Am nächsten Tage trug sich ein kleines häusliches Ereigniß zu, welches ich hier verzeichnen muß.



Unser Dimchurcher Doktor, der immer mit seiner Stellung als Arzt in einem obscuren Dorf sehr unzufrieden gewesen war, hatte eine sehr vortheilhafte Stellung in Indien erhalten. Vor seiner Abreise machte er uns einen Abschiedsbesuch. Ich fand eine Gelegenheit, mit ihm über Oscar zu sprechen. Er stimmte mir durchaus darin bei, daß Oscars Versuch, die durch den Höllenstein bewirkte Veränderung seiner Hautfarbe vor Lucilla zu verheimlichen, verkehrt sei. Die Sache würde ihr, sagte er, nicht lange verborgen bleiben. Mit dieser gegen mich allein ausgesprochenen Voraussagung verließ er uns. Der Arzt war, wie ich meine Leser zu erinnern bitte, ein wichtiger Zeuge der ärztlichen Behandlung Oscar’s und sein Abtreten vom Schauplatz daher vielleicht ein für die Zukunft bedeutungsvolles Ereigniß, das ich hier nicht unerwähnt lassen will.



Zwei weitere Tage verflossen, ohne daß sich etwas ereignet hätte. Am Morgen des dritten Tages war die Prophezeihung des Doctors nahe daran, in Erfüllung zu gehen und zwar durch die wandernde Zigeunerin der Familie; unsere komische kleine Jicks. Während Lucilla und ich durch den Garten schlenderten, kam das Kind plötzlich hinter einem Baum hervor auf uns zugesprungen schlang ihre Arme um Oscar’s Beine und begrüßte ihn mit überlauter Stimme als »den blauen Mann«! Lucilla stand sofort still und sagte: »Wen nennst Du »den blauen Mann«?« Jicks antwortete ohne weiteres: »Oscar«. Lucilla nahm das Kind auf den Arm. »Warum nennst Du Oscar »den blauen Mann,«« fragte sie. Jicks deutete auf Oscar’s Gesicht, wandte sich aber dann plötzlich, als ihr Lucillas Blindheit einfiel, an mich, indem sie mir lustig zurief: »Sag’ Du es ihr!« Oscar ergriff meine Hand und warf mir einen flehenden Blick zu. Ich beschloß, mich nicht in die Sache zu mischen. Es war schon schlimm genug, wenn ich mich passiv verhielt, und sie im Dunkeln ließ. Aber ich war entschlossen, mich wenigstens nicht activ bei ihrer Täuschung zu betheiligen. Sie erröthete; sie stellte Jicks wieder auf den Boden und sagte: »Seid Ihr beide stumm? Oscar, ich will es wissen – wie kommst Du zu dem Spitznamen »der blaue Mann«?«



In seiner Rathlosigkeit nahm Oscar seine Zuflucht zu einer Lüge, und was schlimmer war, zu einer plumpen Lüge. Er erklärte, er habe diesen Spitznamen in der Zeit während Lucilla’s Abwesenheit in der Kinderstube erhalten, als er sich einmal, um die Kinder zu amüsieren, als Blaubart verkleidet und dazu das Gesicht blau angemalt habe! Hätte Lucilla die leiseste Ahnung von der Wahrheit gehabt, sie hätte sie jetzt trotz ihrer Blindheit entdecken müssen. Wie die Dinge standen, machte Oscar’s aus Mittheilung sie gereizt und verdrießlich. Ich konnte deutlich sehen, daß es ihr einen inneren Kampf kostete, etwas wie ein Gefühl von Verachtung gegen ihn zu unterdrücken. »Amüsiere die Kinder das nächste Mal auf eine andere Art,« sagte sie. »Obgleich ich Dich nicht sehen kann, mag ich doch nichts davon hören, daß Du Dein Gesicht blau angemalt und dadurch entstellt hast.«



Mit diesen Worten verließ sie uns und ging eine Strecke allein; sie fand sich offenbar zum ersten Male, seit sie ihren Verlobten kannte, in ihm getäuscht.«



Er warf mir abermals einen flehenden Blick zu und flüsterte: »Haben sie gehört, was sie von meinem Gesicht sagte?«



»Sie haben sich eine vortreffliche Gelegenheit, ihr die Wahrheit zu sagen, entgehen lassen,« antwortete ich. »Ich glaube, Sie werden die Thorheit und Grausamkeit Ihrer Täuschung noch einmal bitter bereuen.«



Er schüttelte den Kopf, mit dem zähen Eigensinn eines schwachen Charakters.



»Nugent denkt nicht wie Sie,« sagte er, indem er mir den Brief reichte. »Lesen Sie doch einmal jetzt, wo Lucilla es nicht hören kann, diese Stelle.«



Ich stutzte einen Augenblick, ehe ich zu lesen begann. Die Aehnlichkeit der Zwillinge erstreckte sich selbst auf ihre Handschrift. Wenn ich den Brief zufällig irgendwo liegend gefunden hätte, würde ich ihn Oscar als einen von ihm geschriebenen Brief übergeben haben. Die fragliche Stelle lautete:



»Dein letzter Brief hat mich von meiner Sorge für Deine Gesundheit befreit. Ich stimme Dir völlig bei, daß jedes persönliche Opfer, welches Dich von Deinen furchtbaren Zufällen heilen kann, gerechtfertigt erscheint. Was Deine Absicht betrifft, die Veränderung in Deinem Aeußern vor der jungen Dame geheim zu halten, so kann ich nur sagen, daß Du am besten selbst wissen wirst, was Du bei dieser Gelegenheit zu thun hast. Ich muß mich darüber jeder eigenen Ansicht enthalten, bis wir uns wiedersehen«



Ich gab Oscar den Brief zurück.



»Das ist gerade keine sehe lebhafte Billigung Ihres Verfahrens,« sagte ich. »Der einzige Unterschied zwischen Ihrem Bruder und mir ist der, daß er sich sein Urtheil noch vorbehält und daß ich das meinige ausspreche.



»Ich fürchte mich nicht vor meinem Bruder« erwiderte er. »Nugent wird mit mir fühlen und mich verstehen, wenn er die Verhältnisse in Browndown näher kennt. Inzwischen soll mir das nicht wieder passiren.«



Er beugte sich zu Jicks herab. Das Kind hatte sich, während wir sprachen, bequem aufs Gras gelagert und sang sich Stellen aus einem Kinderliede vor. Oscar stellte sie etwas unsanft wieder aus ihre Füße. Er war böser auf sie, wie aus sich selbst.



»Was wollen Sie thun?« fragte ich.



»Ich will zu Herrn Finch gehen und ihn bitten, dafür zu sorgen, daß Jicks nicht wieder in Lucilla’s Garten kommt.«



»Ist denn Herr Finch mit Ihrem Schweigen einverstanden?«



»Herr Finch überläßt es mir völlig, Madame Pratolungo, meine Entscheidung in einer Angelegenheit zu treffen, die Niemand angeht als Lucilla und mich.«



Mit dieser Antwort war mir natürlich die Möglichkeit jeder ferneren Vorstellung abgeschnitten. Oscar ging mit seiner kleinen Gefangenen ins Haus. Jicks trabte neben ihm her, ohne eine Ahnung von dem Unheil, das sie angestiftet und sang wieder einen Vers aus dem Kinderlied. Ich ging zu Lucilla, nachdem ich mit mir selbst über das künftig zu beobachtende Verfahren ins Reine gekommen war. Ich war entschlossen, falls es Oscar gelingen sollte, die Wahrheit vor ihr geheim zu halten, sie vor ihrer Verheirathung, es möge daraus entstehen, was da wolle, selbst über die Sache aufzuklären Wie? Nachdem ich mein Wort gegeben hatte, das Geheimniß zu bewahren? Ja! Denn ich achte ein Versprechen gering, das mich zwingt, falsch gegen eine Person zu sein, die ich liebe.



Zwei weitere Tage verflossen, bevor ein Telegramm in Browndown eintraf. Oscar kam mit seiner Nachricht zu uns in’s Pfarrhaus gelaufen; Nugent war in Liverpool gelandet. Oscar sollte ihn am nächsten Tage in Dimchurch erwarten.




Viertes Kapitel.

Er setzt uns Alle zurecht

Ich habe bisher unterlassen, einer der Haupttugenden den des Ehrwürdigen Finch Erwähnung zu thun. Er war ein vollendeter Meister in jener besonderen Art der Peinigung unserer Mitmenschen, genannt: »Vorlesen« und er wandte dieses Peinigungsmittel so oft er konnte bei seiner Familie an. Von dem, was wir bei diesen Gelegenheiten litten, will ich schweigen. Es genüge, wenn ich sage, daß es dem Pfarrer einen unaussprechlichen Genuß gewährte, seine eigene prächtige Stimme zu hören.



Wenn die Vorlese-Rage Herrn Finch befiel, gab es kein Mittel, ihm zu entrinnen. Bald unter diesem, bald unter jenem Vorwande kam er mit seinem Buche in der Hand zu uns unglücklichen Frauen hinunter, ließ uns an dem einen Ende des Zimmers Platz nehmen, setzte sich an das andere Ende, öffnete seinen schrecklichen Mund und feuerte stundenlang seine Worte auf uns ab, wie Schüsse nach einer Zielscheibe. Bisweilen las er uns Shakespearesche oder Milton’sche Poesie, bisweilen parlamentarische Reden von Burke oder Sheridan vor. Er mochte aber lesen, was er wollte, er declamirte Alles in derselben lauten und prätentiösen Weise; immer stellte er sein eigenes Ich so durchaus in den Vordergrund und ließ die Dichter oder Redner, die er uns vorzuführen vorgab, so ganz zurücktreten, daß sie jede Spur ihres eigenthümlichen Gepräges verloren und alle nur zu unerträglichen Abbildern des Ehrwürdigen Finch wurden.



Ich datire meine ersten Zweifel an der unerreichbaren Vollendung der Shakespeare’schen Poesie von den Vorlesungen des Pfarrers her und schreibe derselben Veranlassung meinen unversöhnlichen Haß gegen Burke’s Abhandlungen über die politischen und anderen Fragen seiner Zeit zu.



An dem Abende, wo Nugent Dubourg in Browndown erwartet wurde und wo wir besonders wünschten, in Ruhe gelassen zu werden, um Toilette machen und über den erwarteten Besuch im Voraus plaudern zu können, bekam Herr Finch nach dem Thee wieder das Gelüste, seine Familie mit Worten zu beschießen. Dieses Mal wählte er Hamlet als Mittel zur Entfaltung seiner Stimme und erklärte, sein heutiges Leseexercitium vorzüglich zum Besten für meine arme Person unternehmen zu wollen.



»Mein liebes Kind, ich habe es zufällig neulich mit angehört, wie Sie Lucilla etwas vorlasen. Es war ganz artig in seiner Art – wirklich ganz artig. Aber sie werden mir als einem mit der Kunst des Vorlesens sehr vertrauten Manne gestatten, Ihnen zu bemerken, liebe Madame Pratolungo, daß Ihnen ein paar Winke von mir sehr förderlich sein würden. Ich will Ihnen einige Ideen an die Hand geben. Liebe Frau, ich beabsichtige, Madame Pratolungo einige Ideen an die Hand zu geben. Achten Sie gefälligst besonders genau auf meine Pausen und auf meine Behandlung der Stimme am Schluß der Zeilen. Lucilla, die Sache ist von Interesse für Dich, liebes Kind. Madame Pratolungo’s Vervollkommnung im Vorlesen ist eine für Dich wichtige Angelegenheit. Geh’ nicht fort.«



Lucilla und ich waren an jenem Abende gerade Gäste am Tische des Pfarrers. Es war einer der regelmäßig wiederkehrenden Tage, wo wir unsere Seite des Hauses verließen, um uns dem Familienkreise anzuschließen, oder wie Herr Finch es nannte, an der Abendmahlzeit des Seelenhirten Theil nahmen. Seine Zuhörerschaft bestand also aus seiner Frau, seiner ältesten Tochter und mir. Ein Lächeln entsetzlicher Freude überflog das Antlitz Seiner Ehrwürden, als er uns von dem anderen Ende des Zimmers aus mit seinen Blicken überflog und das Feuer seiner Stimme gegen uns eröffnete:



»Hamlet. Erster Art; erste Scene.



Helsingör. Eine Terrasse vor dem Schlosse. Francisco auf dem Posten. Bernardo tritt auf.



Bernardo. »Wer da?«



Francisco. »Nein, antwortet mir, steht und gebt euch kund.«



(Frau Finch schlägt ihren Shawl auseinander, giebt dem Baby die Brust und versucht auszusehen, als erfreue sie sich eines großen geistigen Genusses.)



Folgt eine in tiefem Baß geführte Unterhaltung zwischen Francisco und Bernardo. Bum, bum bum.



»Horatio und Marcellus treten auf«



»He, halt; wer da?«



»Freund dieses Bodens.«



»Und Vasall des Dänen.«



Madame Pratolungo fängt an, den erklärenden Vortrag Shakespeares wie immer in ihren Beinen zu fühlen; sie versucht es, auf ihrem Stuhle zu sitzen. Vergebens! Sie leidet an der ihr aus bitterer Erfahrung schon zur Genüge bekannten Krankheit »Hamletzuckungen.« Bernardo und Francisco, Horatio und Marcellus unterhalten sich. Bumb, bum, bum. »Der Geist von Hamlet’s Vater tritt auf.« Herr Finch macht eine furchtbare Pause. In der unheimlichen Stille hören wir das Saugen des Baby. Frau Finch erfreut sich ihres geistigen Genusses. Madame Pratolungo leidet an nervösen Zuckungen. Lucilla wird von ihr angesteckt und bekommt gleichfalls Zuckungen. Marcellus-Finch fährt fort: »Du bist gelehrt; sprich Du mit ihm, Horatio.« Bernardo-Finch: »Sieht’s nicht dem Könige gleich? Schau’s an, Horatio.«



Lucilla Finch (unterbricht den Dialog): »Papa, es thut mir sehr leid, aber ich habe den ganzen Tag nervöse Kopfschmerzen gehabt; bitte, entschuldige mich, wenn ich einen Gang durch den Garten mache. (Der Pfarrer macht wieder eine Pause und starrt seine Tochter an. Lucilla geht ab.) Horatio sieht den Geist an und nimmt den Dialog wieder auf: »Ganz gleich; es macht mich starr.« Bum, bum, bum.



(Das Baby ist satt; Frau Finch sucht ihr Tuch, Herr Finch hält inne, starrt umher, fährt wieder fort und gelangt zur zweiten Scene.)

 



Der König, die Königin, Hamlet, Polonius, Laertes, Veltunand, Cornelius, Herren vom Hofe und Gefolge.« (Lauter Ehrwürdige Finche.) O, meine Beine, meine Beine! Bum, bum, bum.



Dritte Scene.



Laertes und Ophelia treten auf.



.



Beide sind Pfarrer von Dimchurch, beide haben tiefe Baßstimmen, beide sind kaum fünf Fuß hoch, blatternarbig und tragen nicht ganz saubere weiße Cravatten. Herr Finch liest weiter und weiter und immer weiter. Frau Finch und Baby schließen gemeinschaftlich die Augen und schlummern; Madame Pratolungo leidet an so furchtbarer nervöser Unruhe in ihren unteren Extremitäten, daß sie nach einem geschickten Chirurgus Verlangen trägt, der sie mit seinem Messer von ihren Beinen befreien könnte.



Herr Finch gelangt in immer tieferen Baßtönen und immer größerer Begeisterung zur



Vierten Scene.



»Hamlet, Horatio und Marcellus treten auf.«



Gerechter Himmel, was höre ich! Kommt uns Hilfe von außen? Höre ich nicht Fußtritte auf dem Vorplatz? Ja! Frau Finch schlägt die Augen auf; sie hat wie ich die Fußtritte gehört und freut sich gleich mir über dieselben. Der Ehrwürdige Hamlet aber hört nichts als seine eigene Stimme. Er beginnt die vierte Scene:



»Die Luft geht scharf, es ist entsetzlich kalt.«



Die Thür öffnet sich. Der Pfarrer fühlt gerade im rechten Augenblick einen für die Scene passenden Luftzug. Er sieht sich um. Wehe dem Eintretendem wenn er dienende Person ist! Aber nein, es sind Gäste! Dem Himmel sei Dankt Gäste. Willkommen, meine Herren, willkommen! Dank Ihnen ist es für heute mit dem Hamlet vorbei. Es treten zwei Personen auf, die sofort berücksichtigt sein wollen, Herr Oscar Dubourg, der seinen von Amerika kommenden Zwillingsbruder, Herrn Nugent Dubourg einführt.



Erstaunen über die außerordentliche Aehnlichkeit Beider war das erste Gefühl, das uns alle Dreie bei ihrem Eintritt ergriff.



Sie waren sich vollkommen ähnlich in Wuchs, Gang, Gesichtsbildung und Stimme. Beide hatten dieselbe Haarfarbe und vollkommen bartlose Gesichter. Oscar’s Lächeln umspielte Nugent’s Lippen. Nugent hatte genau dieselben kleinen, etwas fremdländischen Handbewegungen wie Oscar. Und endlich zeigten Nugent’s Wangen gerade die Hautfarbe, vielleicht eine Nuance dunkler, welche Oscar für immer verloren hatte. Der einzige Unterschied, welcher es möglich machte, sie in dem Augenblicke, wo sie zuerst das Zimmer betraten, von einander zu unterscheiden, der schreckliche Contrast der Hautfarbe zwischen dem Bruder, den die Arznei blau gefärbt hatte, und dem, der noch so war wie ihn die Natur geschaffen hatte, diesen Unterschied war Lucilla zu entdecken unfähig.



»Es freut mich ungemein, Ihre Bekanntschaft zu machen, Frau Finch, ich habe mich lange nach diesem Vergnügen gesehnt; Ihnen, Herr Finch, sage ich meinen besten Dank für alles Freundliche, das Sie meinem Bruder erwiesen haben. Vermuthlich, Madame Pratolungo, erlauben Sie mir, Ihnen die Hand zu reichen. Ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen, daß ich von Ihrem berühmten Gatten gehört habe. O, da ist ein Baby, das Ihrige, Frau Finch? Ist es ein Mädchen oder ein Knabe? Ein schönes Kind, wenn ein Junggeselle sich ein Urtheil darüber erlauben darf. Twi, twi, twi!«



Er zirpte dem Kinde etwas vor, als wäre er der Papa und schnalzte vergnüglich dazu mit den Fingern. Der arme entstellte Oscar blickte mich mit triumphirenden Augen an, die mich zu fragen schienen: »Was habe ich Ihnen gesagt? Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß Nugent alle Menschen bei der ersten Begegnung bezaubert?« Das war sehr wahr. Nugent hatte wirklich etwas Unwiderstehliches In seinem Wesen so ganz von Oscar verschieden, glich er ihm nur, wenn er sich ruhig verhielt und war ihm doch in anderer Beziehung wieder so ähnlich. Ich kann ihn nur als ein vervollkommnetes Exemplar seines Bruders bezeichnen. Er hatte die anmuthige Lebhaftigkeit des Geistes und das behagliche gewinnende Selbstvertrauen, welche Oscar fehlten. Und einen wie vortrefflichen Geschmack zeigte er. Er liebte Kinder! Er ehrte das Andenken meines herrlichen Pratolungo! Nugent Dubourg war noch keine halbe Minute im Zimmer, als er schon Frau Finch’s und mein Herz gewonnen hatte.



Von dem Baby wandte er sich zu Herrn Finch und deutete auf den offen auf dem Tisch liegenden Shakespeare.



»Haben Sie den Damen vorgelesen?« fragte er, »ich fürchte wir haben Sie unterbrochen.«



»Bitte recht sehr,« sagte der Pfarrer mit dem Ausdruck