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Die Blinde

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Siebentes Kapitel.
Er zeigt sich den Verhältnissen gewachsen

Bei diesem überraschendem so plötzlich in wenigen Worten enthüllten Bekenntniß verlor selbst der entschlossene Nugent alle Selbstbeherrschung; er stieß einen Schrei aus, den Lucilla hörte. Sie wandte sich in dem Glauben, daß Oscar den Schrei ausgestoßen habe, sofort nach uns um.

»Ah, da bist Du!« rief sie aus. »Oscar, Oscar, was hast Du nur heute?«

Oscar war unfähig zu antworten. Er konnte nur seinem Bruder einen flehenden Blick zuwerfen, als Lucilla sich uns näherte. Der stumme Vorwurf, mit welchem Nugents Blick sein Bekenntniß beantworten, hatte den letzten Rest seiner Widerstandskraft gebrochen, er weinte still wie ein Weib an Nugent’s Brust.

Einer mußte das allgemeine Schweigen brechen; ich entschloß mich dazu.

»Es ist nichts, liebes Kind,« sagte ich, indem ich zu Lucilla trat. »Wir gingen eben am Hause vorüber und Oscar kam herausgelaufen, um uns hinein zu holen.«

Meine Begütigungen machten sie nur noch unruhiger.

»Uns?« wiederholte sie. »Wer ist denn bei Ihnen?«

»Nugent.«

Auf der Stelle zeigte sich die Wirkung des unglücklichen Mißverständnisses, zu welchem Oscar sie verleitet hatte. Sie wurde todtenbleich bei dem für sie entsetzlichen Gedanken, daß sich der Mann mit dem blauen Gesicht in ihrer unmittelbaren Nähe befinde.

»Bringen Sie mich so nahe an ihn heran, daß ich mit ihm reden kann, aber ohne ihn berühren zu müssen,« flüsterte sie mir zu. »Ich habe gehört, wie er aussieht. O, wenn sie ihn sähen, wie ich ihn in dem mich umgebenden Dunkel sehe! Aber ich muß um Oscar’s willen mit seinem Bruder reden.«

Sie ergriff meinen Arm und zog mich dicht an sich heran. Was hätte ich sagen, was hätte ich thun sollen? Ich wußte mir weder in dem Einen, noch in dem Anderen zu rathen.

Ich richtete meine Blicke von Lucilla auf die beiden Brüder. Da stand der schwache Oscar, überwältigt von der demüthigenden Lage, in welche er sich selbst dem Weibe gegenüber, das er heirathen sollte, und dem Bruder gegenüber, den er liebte, gebracht hatte. Und neben ihm stand der starke Nugent, seiner selbst vollkommen Herr, seinen Bruder mit dem Arm umschlingend, mit erhobenem Haupt und mit erhobener Hand, die mir ein Zeichen gab, zu schweigen. Er hatte Recht. Ich brauchte nur Lucilla’s Gesicht anzusehen, um mich zu überzeugen, daß die delikate und verhängnißvolle Enthüllung der Wahrheit nicht auf der Stelle und im Augenblick geschehen könne.

»Sie sind heute ungewöhnlich nervös, Lucilla,« sagte ich, »lassen Sie uns nach Hause gehen.«

»Nein,« antwortete sie, »ich muß mich daran gewöhnen, mit ihm zu reden. Ich will gleich heute damit den Anfang machen. Bringen Sie mich zu ihm, aber lassen Sie ihn mich nicht berühren.«

Nugent machte sich, als er uns auf sich zukommen sah, aus der Umarmung Oscar’s los, dessen Unfähigkeit, uns aus unserer Verlegenheit zu helfen, zu offenbar war, als daß man sich einen Augenblick darüber hätte täuschen können. Er deutete auf die niedrige Gartenmauer und bedeutete seinen Bruder, sich, ehe Lucilla wieder mit ihm reden könne, dahin zu begeben. Wie recht er daran that, sollte sich bald genug zeigen. Kaum hatte Oscar uns verlassen, als Lucilla nach ihm fragte. Nugent antwortete, Oscar sei wieder in’s Haus gegangen, um seinen Hut zu holen.

Der Klang von Nugent’s Stimme half ihr, die Entfernung, in der sie sich von ihm befand, ohne meinen Beistand zu berechnen. Noch immer meinen Arm fest haltend stand sie still und redete ihn an.

»Nugent,« sagte sie. »ich habe Oscar veranlaßt, mir mitzutheilen, was er mir längst hätte mittheilen sollen. »Er hat,« fuhr sie fort, indem sie bei jedem Satz nach Selbstbeherrschung rang und schwer athmete, »eine thörichte Antipathie bei mir entdeckt; ich weiß nicht, wie er sie herausgefunden hat; ich hatte versucht sie vor ihm zu verbergen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wogegen diese Antipathie gerichtet ist.«

Nach diesen Worten machte sie eine längere Pause, zog mich fester an sich und kämpfte einen immer schwereren Kampf gegen die unwiderstehliche Antipathie, die wie ein Fluch aus ihr lastete. In Nugent’s Wesen aber äußerte sich, während er ihr zuhörte, der Zwang, dem er in ihrer Gegenwart immer unterlag, in noch frappanterer Weise als zuvor.

Die Augen auf den Boden heftend, schien es ihm zu widerstreben, sie auch nur anzusehen.

»Ich glaube ich verstehe,« fuhr sie fort, »warum Oscar mir nicht gern sagen wollte« – hier hielt sie wieder inne, offenbar weil sie nicht wußte, wie sie sich ausdrücken sollte, ohne Gefahr zu laufen, ihn zu verletzen – »mir nicht gern sagen wollte,« nahm sie wieder auf, »was Sie an sich haben, was Sie von anderen Leuten unterscheidet. Er fürchtete, meine alberne Schwäche möchte mich ein Vorurtheil gegen Sie fassen lassen. Ich komme aber, um Ihnen zu sagen, daß ich diese Schwäche nicht über mich Herr werden lassen will. Ich habe mich ihrer nie mehr geschämt als jetzt. Auch ich bin ja unglücklich und sollte Sympathie für Sie fühlen, anstatt —«.

Ihre Stimme war bei den letzten Worten immer schwächer geworden. Sie lehnte sich mit schwerem Kopfe an mich. Ich sah auf den ersten Blick, daß sie, wenn ich sie noch einen Augenblick fortfahren ließe, ohnmächtig werden würde.

»Sagen Sie Ihrem Bruder, daß wir nach dem Pfarrhause zurück gegangen sind—, sagte ich zu Nugent. Jetzt zum ersten Male blickte er zu Lucilla auf.

»Sie haben Recht—, antwortete er. »Bringen Sie sie nach Hause.«

Er wiederholte das Zeichen, mit dem er mich schon einmal bedeutet hatte, zu schweigen und ging zu Oscar nach der Gartenmauer an der Vorderseite des Hauses.

»Ist er fort?« fragte sie.

»Ja.«

Dicke Schweißtropfen standen ihr auf der Stirn. Ich fuhr ihr mit meinem Schnupftuch über das Gesicht und ließ ihr Gesicht vom Winde bestreichen.

»Geht es Ihnen jetzt besser?«

»Ja.«

»Können Sie nach Hause gehen?«

»Sehr gut.«

Ich legte ihren Arm in den meinigen. Nachdem wir einige Schritte gethan hatten, stand sie plötzlich still, wie es schien, in einer nervösen Angst vor einem ihren Weg hemmenden Gegenstande. Sie schwang ihren kleinen Spazierstock langsam vor- und rückwärts in der Luft, wie Jemand, der einen dichten Wald passirt und die niedrigen Zweige und Aeste, die ihn am Vorschreiten hindern, bei Seite schiebt.

»Was machen Sie da?« fragte ich.

»Ich reinige die Luft,« antwortete sie, »die Luft ist voll von ihm. Ich bin in einem Wald voll schwebender Gestalten mit blauen Gesichtern. Geben Sie mir Ihren Arm, daß wir rasch hindurchkommen!«

»Lucilla!«

»Seien Sie mir nicht böse. Ich komme schon wieder zu mir; Kein Mensch weiß besser als ich, welche Thorheit, welche Verrücktheit es ist. Ich habe einen festen Willen und ich bin entschlossen, es koste was es wolle, mich dieses Mal von meiner Schwäche frei zu machen. Ich kann und will Oscar’s Bruder nicht merken lassen, daß er ein Gegenstand des Entsetzens für mich ist.«

Sie stand abermals still und gab mir einen Versöhnungskuß. »Schelten Sie meine Blindheit, liebe Freundin, aber schelten Sie mich nicht. Wenn ich nur sehen könnte —! O, wie kann ich mich Ihnen verständlich machen, die Sie nicht im Dunkel der Nacht ihr Leben verbringen müssen.« Schweigend und nachdenklich ging sie einige Schritte weiter und sagte dann wieder: »Wollen Sie nicht über mich lachen, wenn ich Ihnen etwas sage?«

»Brauche· ich Sie das zu versichern?«

»Stellen Sie sich vor, Sie lägen Nachts im Bette.«

»Nun?«

»Ich habe mir von Leuten erzählen lassen, daß sie bisweilen mitten in der Nacht, ohne daß irgend ein Geräusch sie gestört hätte, aufgewacht sind und daß sie ohne irgend einen Grund sich eingebildet haben, es sei Jemand in ihrem dunklen Zimmer. Ist Ihnen je etwas Aehnliches begegnet?«

»Gewiß, liebes Kind; es begegnet vielen Menschen, sich einmal so etwas einzubilden, wenn ihre Nerven ein wenig aufgeregt sind.«

»Nun gut. Das bilde ich mir in meiner nervösen Aufregung ein. Und was haben Sie gethan, als Ihnen das begegnete?«

»Ich zündete ein Licht an, überzeugte mich, daß meine Vorstellung falsch sei.«

»Nun denken Sie sich, Sie wären in einer endlosen Nacht, ohne sie erhellen zu können, allein mit Ihrer Phantasie im Dunkeln. Das ist meine Lage. In einer so hilflosen Lage aber würden Sie sich nicht leicht von der Verkehrtheit Ihrer Vorstellung überzeugen können, nicht wahr? Sie würden vielleicht sehr mit Unrecht, aber doch entsetzlich unter dieser Vorstellung leiden. »Vielleicht,« schloß sie, indem sie ihren kleinen Spazierstock mit einem traurigen Lächeln in die Höhe hielt, »vielleicht wären Sie dann eine ebenso große Thörin wie die kleine Lucilla und würden die Luft um sich her mit einem solchen Spazierstock zu reinigen suchen.«

Der Zauber ihrer Stimme und ihres Wesens erhöhte noch den Eindruck der rührenden Einfachheit; der tiefen Wahrheit dieser Worte. Sie ließ mich besser erkennen, wie ich es zuvor erkannt hatte, was es heiße, zugleich des Segens einer lebhaften Einbildungskraft theilhaftig und mit dem Fluch der Blindheit beladen zu sein. Einen Augenblick lang war ich in tiefe Bewunderung und Liebe für sie versunken, vergaß ich die schreckliche Lage, in der wir uns alle befanden. Unbewußt erinnerte sie mich wieder daran, als sie meinen Arm ergriff, mit mir weiter ging und zu mir sagte:

»Vielleicht war es Unrecht von mir, Oscar die Wahrheit abzunöthigen. Vielleicht hätte ich mich mit seinem Bruder ausgesöhnt, wenn ich nie erfahren hätte, wie derselbe aussieht. Und doch habe ich von Anfang an gefühlt, daß er etwas Sonderbares an sich habe, ohne daß man mir gesagt und ohne daß ich gewußt hätte, was es sei. Diese Antipathie muß also ihren Grund in meiner Disposition gehabt haben.«

Diese Worte schienen mir beruhigend für den Gemüthszustand, der Lucilla zu ihrem beklagenswerthen Irrthum verleitet hatte. Ich that ihr vorsichtig einige Fragen, um die Richtigkeit meiner Ansicht zu erproben.

 

.

»Sie sprachen eben davon, daß Sie Oscar die Wahrheit abgenöthigt hätten,« sagte ich »Was hatte Sie argwöhnen lassen, daß; er Ihnen die Wahrheit verberge?«

»Er war so eigenthümlich verlegen und verwirrt,« antwortete sie; »jeder andere an meiner Stelle würde auch Verdacht geschöpft haben, daß Oscar mir die Wahrheit vorenthalte.«

Die Antwort war bündig.

»Und wie haben Sie die Wahrheit herausgefunden?« fragte ich weiter.

»Ich errieth sie durch etwas erwiderte sie, »was er in Bezug auf seinen Bruder sagte. Erinnern Sie sich, daß ich eine grillenhafte Abneigung gegen Nugent Dubourg faßte, noch ehe er nach Dimchurch kam?«

»Allerdings.«

»Und erinnern Sie sich ferner, daß ich in meinem Vorurtheil gegen ihn noch bestärkt wurde, als ich ihm am ersten Tage mit der Hand über das Gesicht fuhr, um dasselbe mit Oscar’s Gesicht zu vergleichen?«

»Ich erinnere mich dessen sehr gut.«

»Nun, während Oscar hin- und her redete und sich widersprach, sagte er etwas, etwas ganz Nebensächliches, was mich auf den Gedanken brachte, daß die Person mit dem blauschwarzen Gesicht sein Bruder sein müsse. Das war die von mir bisher vergeblich gesuchte Erklärung meiner beharrlichen Abneigung gegen Nugent! Sein schreckliches dunkles Gesicht muß bei seiner ersten Berührung auf mich eine ähnliche Wirkung geübt haben wie die, welche Ihr schrecklich dunkelviolettes Kleid auf mich geübt hatte.«

Ich begriff nur zu deutlich. Oscar verdankte es lediglich der Mißdeutung, die seine Worte von Seiten Lucilla’s erfahren hatten, daß sein Geheimniß gewahrt blieb. Und Lucilla’s Mißdeutung offenbarte sich jetzt als das natürliche Ergebniß ihres ängstlichen Verlangens, sich ihr Vorurtheil gegen Nugent Dubourg zu erklären. Obgleich das Unheil einmal angestiftet war, machte ich doch zur Beruhigung meines eigenen Gewissens noch einen Versuch, Lucilla’s Glauben an die Richtigkeit ihres falschen Schlusses zu erschüttern.

»Nur eines verstehe ich noch nicht recht,« sagte ich; »ich begreife Oscar’s Verlegenheit Ihnen gegenüber nicht. Nach Ihrer Auffassung hatte er ja nichts zu fürchten und konnte nicht vermuthen, daß Sie das, was er Ihnen sagte, so aufnehmen würden. Wozu brauchte er verlegen zu sein?«

Ein sarkastisches Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Wo haben Sie Ihr Gedächtniß, liebe Freundin?« rief sie. »Sie vergessen, daß Oscar als er mit mir von seinem Bruder sprach, sich in einem argen Dilemma befand. Auf der einen Seite mahnte ihn meine Abneigung gegen dunkle Farben und dunkle Menschen zu schweigen. Auf der anderen Seite trieb ihn mein ihm bekannter Widerwille, dagegen daß man sich meine Blindheit zu Nutze mache, um Dinge vor mir geheim zu halten, dazu, mir die Wahrheit zu sagen. Ist das, wenn man die Schüchternheit des armen Jungen hinzunimmt, nicht Grund genug, seine Verlegenheit zu erklären? Ueberdies,« fügte sie ernsthafter hinzu, »hatte er’s vielleicht an meinem Benehmen gemerkt, daß er mir Verdruß und Kummer bereitet hatte.«

»Wie das?« fragte ich.

»Erinnern Sie sich nicht, daß er einmal im Garten zugestand, er habe sich das Gesicht blau angemalt, um Blaubart vorzustellen und die Kinder damit zu amüsieren? Das war nicht delikat, nicht zartfühlend von ihm; es sah ihm gar nicht ähnlich, eine solche Unempfindlichkeit gegen die schreckliche Entstellung seines Bruders zur Schau zu tragen. Er hätte daran denken und nicht darüber Scherz treiben sollen. Nun, wir wollen nicht weiter davon reden. Wir wollen hineingehen und etwas musiciren, vielleicht daß wir dann die Sache vergessen.«

Selbst Oscar’s plumpe Entschuldigung bei jenem Auftritt im Garten hatte, anstatt sie in ihrem Argwohn zu bestärken, nur dazu gedient, das bei ihr festgewurzeltel Vorurtheil noch fester zu begründen. In jenem kritischen Augenblick war es für mich unmöglich, mehr zu sagen, ehe ich mich mit den Zwillingsbrüdern berathen hatte, was zunächst zu geschehen habe. Der Gedanke an die Zukunft beunruhigte mich lebhaft. Wie, fragte ich mich, würde sie es aufnehmen, was würden die Folgen für Oscar sein, wenn sie erfährt, was sie doch erfahren mußte, wie schrecklich sie betrogen sei. Ich gestehe offen, daß ich vor der Beantwortung dieser Frage zurückschreckte.

Als wir an den Punkt gelangten, wo das Thal eine Biegung macht, sah ich mich noch einmal nach Browndown um. Die Zwillingsbrüder standen noch an derselben Stelle, an der wir sie verlassen hatten. Obgleich ihre Gesichter nicht mehr zu erkennen waren, konnte ich doch ihre Gestalten noch deutlich unterscheiden. Oscar saß lauernd auf der Gartenmauer; Nugent stand aufrecht neben ihm, die eine Hand auf seine Schulter gelegt. Selbst in dieser Entfernung sprachen sich die Charaktere beider Männer in ihrer Haltung aus.

Als wir in die Wendung des Thales einbogen, welche uns ihren Anblick abschnitt, fühlte ich, so leicht ist es, ein Weib zu trösten, daß die gebietende Stellung Nugent‘s einen ermuthigenden Eindruck auf mein Gemüth gemacht hatte. »Er wird schon einen Ausweg finden’, sagte er mir, »Nugent wird uns hindurch helfen!«

Achtes Kapitel.
Nugent findet einen Ausweg

Wir setzten uns ans Klavier, wie Lucilla es vorgeschlagen hatte; sie bat mich zuerst, etwas allein zu spielen. Ich lehrte sie damals gerade eine Sonate von Mozart und versuchte es nun, diese Lection fortzusetzen; aber ich spielte an diesem Tage so schlecht wie nie zuvor. Die göttliche Heiterkeit und Vollkommenheit, welche Mozart’s Musik nach meinem Urtheil vor aller übrigen Musik auszeichnet, kann nur von einem Spieler würdig wiedergegeben werden, der sich mit ganzem Gemüthe ungetheilt dem Werke hingibt. In meiner verzehrenden Angst konnte ich jene himmlischen Ideen nur profaniren, konnte ich sie nicht wiedergeben. Lucilla ließ es gelten, als ich mich entschuldigte, und setzte sich statt meiner ans Klavier.

Eine halbe Stunde herging ohne Nachricht von Browndown.

An und für sich ist eine halbe Stunde gewiß ein sehr kurzer Zeitraum; wenn man aber mit angstvoller Spannung einer Nachricht harrt, so ist sie eine Ewigkeit. Jede Minute, die verfloß, ohne daß Lucilla aus ihrer Täuschung gerissen wurde, empfand ich wie einen Gewissensbiß. Je länger wir sie in ihrer Täuschung verharren ließen, desto peinlicher mußte die Erfüllung der harten Pflicht, sie aufzuklären, werden. Ich wurde immer unruhiger; Lucilla ihrerseits fing an, über Ermüdung zu klagen; nach der Aufregung, die sie durchgemacht hatte, kam jetzt die unvermeidliche Reaction. Ich rieth ihr, auf ihr Zimmer zu gehen und sich auszuruhen. Sie befolgte meinen Rath. In dem Gemüthszustande, in welchem ich mich befand, gewährte mir es unaussprechliche Erleichterung, allein zu sein.

Nachdem ich eine Weile im Zimmer auf- und abgegangen war und vergebens versucht hatte, einen Ausweg aus den Schwierigkeiten zu finden, die uns jetzt bedrängten, entschloß ich mich, nicht länger auf die Nachrichten, die nicht kommen wollten, zu warten. Die Brüder waren noch immer in Browndown und ich beschloß daher, dorthin zurückzukehren.

Ich öffnete leise die Thür von Lucilla’s Zimmer und blickte hinein; sie schlief. Nachdem ich Zillah ans Herz gelegt hatte, gut für ihre junge Herrin zu sorgen, schlüpfte ich zum Hause hinaus.

Als ich über den Rasen ging, hörte ich die Gartenthür sich öffnen. Einen Augenblick später stand der Mann, den zu sehen mich so sehnlich verlangt hatte, stand Nugent Dubourg vor mir. Er hatte sich von Oscar den Schlüssel geliehen und war allein nach dem Pfarrhause gekommen, um mir zu sagen, was zwischen ihm und seinem Bruder vorgefallen sei.

»Das ist das erste Angenehme, das mir heute begegnet,« sagte er. »Ich hatte mir gerade überlegt, wie ich es wohl möglich machen könnte, Sie allein zu sprechen. Und da kommen Sie mir allein entgegen. Wo ist Lucilla? Können wir darauf rechnen, hier im Garten ungestört zu bleiben?«

Ich beruhigte ihn in Betreff dieser beiden Punkte. Er sah entsetzlich bleich und verstört aus. Noch ehe er die Lippen öffnete, sah ich, daß auch er, seit ich ihn verlassen, einen schweren Kampf gekämpft habe.

Am Ende des Gartens befand sich ein Pavillon mit der Aussicht über die einsam daliegenden Hügel Hier setzten wir uns nieder und hier eröffnete ich in meiner ungestümen Weise die Unterhaltung mit der furchtbaren Frage: »Wer soll sie über ihren Irrthum aufklären?«

»Niemand.«

Diese Antwort machte mich sofort stutzig. Voll Verwunderung und schweigend sah ich Nugent an.

»Da ist nichts zu verwundern, lassen Sie mich Ihnen in zwei Worten meine Auffassung der Sache darlegen. Ich habe ein ernstes Gespräch mit Oscar gehabt.«

Die Unfähigkeit der Frauen, ohne zu unterbrechen zuzuhören, ist sprichwörtlich und ich bin nicht besser als meine Mitschwestern. Ich unterbrach ihn, ehe er fortfahren konnte, mit der Frage:

»Hat Oscar Ihnen gesagt, wie Lucilla zu dem Mißverständniß gekommen ist.«

»Das weiß er so wenig, wie Sie es wissen können. Er bekennt, daß er, als er ihr von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand, seine Geistesgegenwart völlig verlor; er wußte in jenem Augenblick selbst nicht, was er sagte. Er verlor den Kopf und sie die Geduld in dem Conflict .Stellen Sie sich seine nervöse Verwirrung und ihre nervöse Reizbarkeit vor und Sie werden sehen, das nichts anderes daraus entstehen konnte, als Mißverständniß und Täuschung. Seit Sie uns verlassen, habe ich mir die Sache reiflich überlegt und es als das einzig Richtige erkannt, mich in die mir bereitete Lage zu finden. Einmal zu diesem Entschlusse gelangt, habe ich der Sache, wie ich es in der Regel bei Schwierigkeiten thue, dadurch ein Ende gemacht, daß ich den gordischen Knoten zerschnitt. Ich sagte zu Oscar: »Würde es Dich erleichtern, wenn man sie bei ihrer jetzigen Meinung verharren ließe, bis Du verheirathet bist?« Sie kennen ihn und ich brauche Ihnen wohl kaum zu sagen, was er mir antwortete »Gut,« sagte ich, »trockene Deine Thränen und beruhigte Dich. Ich habe mich einmal zum »Blaugesicht« machen lassen und ich will bis auf Weiteres »Blaugesicht« bleiben. Ich will Sie mit der Schilderung von Oscar’s Dankbarkeit verschonen. Er nahm meinen Vorschlag an. Das ist mein Ausweg aus der Schwierigkeit.«

»Es ist unwürdig und verkehrt« antwortete ich.

»Ich protestiere dagegen, daß Lucilla’s Blindheit auf diese grausame Weise gemißbraucht werde. Ich erkläre, daß ich nichts damit zu thun haben will.«

Er zog seine Cigarrentasche hervor und nahm sich eine Cigarre.

»Thun Sir, was sie wollen,« sagte er; »Sie haben gesehen, in welchem jammervollen Zustande sie sich befand, als sie sich bei der Unterredung mit mir Gewalt anthat. Sie haben gesehen, wie sie dabei schließlich von Widerwillen und Entsetzen Überwältigt wurde. Nun übertragen Sie diesen Widerwillen und dieses Entsetzen auf Oscar, fügen in seinem Fall noch ihre Entrüstung und Verachtung hinzu und setzen Sie ihn, wenn Sie den Muth dazu haben, den Folgen der Erregung solcher Gefühle bei Lucilla aus, bevor er sich den Einfluß eines Gatten auf ihr Gemüth und den Platz eines Gatten in ihrem Herzen gesichert hat. Ich liebe den armen Jungen und ich habe nicht den Muth dazu. Darf ich mir eine Cigarre anzünden?«

Ich nickte zustimmend. Bevor ich aber etwas weiteres sagte, fühlte ich das Bedürfniß, diesen unergründlichen Menschen womöglich zu verstehen. Es machte mir keine Schwierigkeit mir seine Bereitwilligkeit, sich für Oscar’s Ruhe zu opfern, zu erklären. Er that nie etwas halb, er liebte es, Schwierigkeiten zu trotzen, vor welchen andere Männer zurückgeschreckt sein würden. Derselbe Eifer, seinem Bruder zu dienen, mit dem er Oscar in seinem Proceß das Leben gerettet hatte, mochte ihn auch jetzt beseelen. Was mir unerklärlich schien, war nicht das von ihm eingeschlagene Verfahren, sondern die Sprache, in welcher er sich vor mir zu rechtfertigen suchte und noch mehr sein Benehmen, seine Art mit mir zu reden. Der wohlerzogene begabte junge Mann, als welchen ich ihn früher kennen gelernt, hatte sich jetzt in den trotzigsten und unliebenswürdigsten Menschen verwandelt. Er erwartete, was ich ihm aus seine Aeußerungen zu erwidern haben werde, mit einer herausfordernden und verzweifelten Miene, welche durch die Umstände durchaus nicht motivirt erschien und in keinem Einklange mit seinem Charakter, so weit ich denselben zu beobachten Gelegenheit gehabt hatte, stand. Daß dahinter etwas stecke, daß eine geheime Triebfeder in ihm arbeite, die er vor seinem Bruder und vor mir verbarg, lag mir so klar vor Augen, wie der Sonnenschein und der Schatten in der Aussicht, die ich vom Pavillon aus hatte. Aber worin dieses Etwas bestand oder was diese geheime Triebfeder war, das zu errathen war mir, trotz des Aufgebots meines ganzen Scharfsinns, nicht möglich. Nicht der entfernteste Gedanke an die schreckliche Wahrheit, die er vor mir verbarg, kam mir in den Sinn. Ich saß ihm gegenüber, die unbewußte Zeugin des Conflicts, in welchem dieser unglückliche Mensch mit dem Wunsche, seinem Bruder treu zu bleiben und mit der verzehrenden Leidenschaft, die sich seiner bemächtigt hatte, rang. So lange Lucilla ihn fälschlich durch die Medicin entstellt glaubte, mußte Jeder es als eine selbstverständliche Rücksicht auf ihre Ruhe betrachten, daß er sich von ihr fern hielt. In dieser Trennung war für ihn die letzte Möglichkeit gegeben, eine unübersteigliche Grenze zwischen sich und Lucilla zu erheben. Er hatte bereits vergebens versucht, sich selbst ein anderes Hinderniß in den Weg zu stellen; er hatte umsonst versucht, die Heirath, welche Lucilla als das Weib seines Bruders für ihn geheiligt haben würde, zu beschleunigen. Nachdem ihm dieser Versuch mißlungen war, blieb ihm nur noch ein einziges ehrenvolles Mittel, ihr bis zu ihrer Verheirathung mit Oscar fern zu bleiben. Er hatte die Lage, in welche Oscar ihn versetzt hatte, als das einzige Mittel, seinen Zweck zu erreichen, ohne Verdacht zu erregen, acceptirt und als Lohn für dieses Opfer war ich ihm in meiner Unwissenheit mit verstockter Opposition entgegengetreten! Das waren die Motive, die reinen, edlen Motive, die ihn, wie ich jetzt weiß, damals beseelten. Die Aufklärung der trotzigen Sprache, die mich irre machte, das herausfordernde Wesen, das mich unangenehm berührte, sollten die der Zukunft vorbehaltenen Ereignisse bringen.

 

»Nun?« fragte er. »Sind wir Verbündete oder nicht? Sind Sie für mich oder gegen mich?«

Ich gab den Versuch auf, ihn zu versichert und beantwortete seine deutliche Frage ebenso deutlich:

»Ich leugne nicht, daß ihre Kenntniß der wahren Sachlage ernste Folgen nach sich ziehen kann. Aber trotz alledem will ich an der Grausamkeit ihrer Täuschung keinen Theil haben.«

Nugent erhob warnend seinen Zeigefinger:

»Halten Sie inne und denken Sie nach, Madame Pratolungo. Das Unglück, das Sie anrichten können, ist, wie die Dinge stehen, unermeßlich. Es wäre unnütz, Sie zu bitten, Ihren Sinn zu ändern. Ich will Sie nur bitten, ein wenig zu warten. Wir haben noch reichlich Zeit bis zum Hochzeitstage. Es kann sich etwas ereignen, das Ihnen die Nothwendigkeit, Lucilla selbst aufzuklären, ersparen würde.«

»Was kann sich ereignen?« fragte ich.

»Lucilla kann ihn vielleicht noch sehen, wie wir,« antwortete Nugent. »Lucilla kann vielleicht mit ihren eigenen Augen die Wahrheit entdecken?«

»Wie? Haben Sie Ihre tolle Idee, ihre Blindheit zu heilen noch immer nicht aufgegeben?«

»Ich werde diese Idee nicht eher ausgeben, als bis der deutsche Arzt sie für toll erklärt.«

»Haben Sie Oscar etwas davon gesagt?

»Kein Wort. Ich werde Niemandem außer Ihnen ein Wort davon sagen, bis der deutsche Arzt den englischen Boden betreten hat.«

»Erwarten Sie ihn noch vor der Hochzeit?«

»Gewiß; er würde zugleich mit mir von Newport abgereist sein, wenn er nicht eines Patienten wegen hätte dort bleiben müssen. Er wird sich aber durch keine neuen Patienten länger in Amerika halten lassen. Er hat sich durch seine außerordentlichen Erfolge ein Vermögen erworben, sein sehnlichstes Verlangen ist es, England zu sehen, und seine Mittel erlauben es ihm, diesen Wunsch zu befriedigen. Er kann schon mit dem nächsten Dampfboot in Liverpool eintreffen«

»Und dann wollen Sie ihn nach Dimchurch bringen?«

»Ja, wenn Lucilla nichts dagegen hat.«

»Und wenn nun Oscar etwas dagegen hat? Sie hat sich mit Resignation in den Gedanken, bis an ihr Ende blind zu sein, gefunden. Wenn Sie sie aus dieser Resignation nutzlos aufstören, so können Sie sie für ihre Lebenszeit unglücklich machen. An Ihres Bruders Stelle würde ich mich weigern, eine solche Gefahr zu laufen.«

»Mein Bruder hat ein zwiefaches Interesse, diese Gefahr zu laufen. Ich wiederhole, was ich Ihnen bereits gesagt habe. Das physische Resultat wird, wenn ihre Sehkraft wieder hergestellt werden kann, nicht das einzige sein. Sie wird dadurch nicht nur einen neuen Sinn, sondern auch einen neuen Geist erhalten. Oscar hat, so lange sie blind ist, von ihrer krankhaften Einbildung alles zu fürchten. Lassen Sie nur erst ihre Augen ihre Phantasie berichtigen, lassen Sie sie ihn nur erst sehen, wie wir ihn sehen und sich an seinen Anblick gewöhnen, wie wir uns an denselben gewöhnt haben, und Oscar’s Zukunft ist gesichert. Wollen Sie also auf die Chance hin, daß der deutsche Arzt hier vor dem Hochzeitstage eintreffen kann, die Dinge für den Augenblick lassen wie sie sind?«

Dazu erklärte ich mich bereit, unbewußt beeinflußt von dem merkwürdigen Zusammentreffen dessen, was Nugent eben über Lucilla gesagt hatte, mit dem, was Lucilla selbst einige Stunden früher zu mir gesagt hatte. Unleugbar fanden Nugent’s Aufstellungen, gewagt wie sie schienen, eine gewisse Bestätigung in Lucilla’s Auffassung ihres eigenen Falles.

Nachdem wir uns so über die zwischen uns obwaltende Differenz geeinigt hatten, brachte ich das Gespräch demnächst auf die schwierige Frage, wie sich Nugent’s Beziehungen zu Lucilla gestalten sollten.

»Wie wollen Sie ihr, nach dem Eindruck, den Sie heute auf sie hervorgebracht, wieder entgegentreten?« fragte ich.

Ueber diese Seite der Frage drückte er sich viel weniger schroff aus. Seine Sprache und sein Wesen waren wieder viel angenehmer.

»Wenn es mir nachgegangen wäre,« sagte er, »so wäre Lucilla in diesem Augenblick von jeder Furcht, mir wieder zu begegnen, befreit. Sie würde durch Sie oder Oskar erfahren, daß Geschäfte mich genöthigt haben, Dimchurch zu verlassen.«

»Will Oscar Sie nicht fortlassen?«

»Er wollte nichts von meinem Fortgehen hören. Ich that mein Bestes, ihn zu überreden, ich versprach ihm, zur Hochzeit wieder herzukommen. Alles vergebens. »Wenn Du mich hier über das Unglück, das ich angerichtet habe und die Opfer, die ich Dir abgezwungen habe, brüten lässest,« sagte er, »so wirst Du mir das Herz brechen. Du weißt nicht, wie ermuthigend Deine Gegenwart auf mich wirkt; Du weißt nicht, welche Lücke Du in mein Leben reißest, wenn Du fortgehst!« Ich bin gerade so schwach wie Oscar, wenn er so mit mir redet. Gegen meine bessere Ueberzeugung und gegen meinen Wunsch gab ich nach. Es wäre besser, viel, viel besser gewesen, ich wäre fortgegangen!«

Er sprach diese letzten Worte in einem Ton der Verzweiflung, der mich erschreckte. Wie wenig verstand ich ihn damals und wie gut verstehe ich ihn jetzt! Aus diesen melancholischen Worten sprach der letzte Rest seiner Ehre, seiner Treue. Unglückliche unschuldige Lucilla! Unglücklicher, schuldiger Nugent!

»Und nun bleiben Sie in Dimchurch?« nahm ich wieder auf, »was werden Sie beginnen?«

»Ich muß Alles aufbieten, ihr die nervösen Qualen zu ersparen, welche ich ihr heute so sehr gegen meinen Willen bereitet habe. Ueber den krankhaften Widerwillen, den sie in meiner Gegenwart empfindet, vermag sie nichts, – das sehe ich deutlich. Ich werde mich von ihr fern zu halten suchen, werde mich langsam von ihr zurückziehen, so daß ihr meine Abwesenheit nicht auffällt. Ich werde meine Besuche im Pfarrhause immer seltener werden lassen und immer länger in Browndown bleiben. Wenn sie erst verheirathet sind –,« plötzlich hielt er inne; die Worte schienen ihm in der Kehle stecken zu bleiben; er machte sich mit dem Wiederanzünden seiner Cigarre zu schaffen und brauchte sehr viel Zeit dazu.

»Wenn sie erst verheirathet sind?« wiederholte ich, »nun, was dann?«

»Wenn Oscar erst verheirathet ist, wird er meine Gegenwart nicht mehr unerläßlich zu seinem Glücke finden und dann werde ich Dimchurch verlassen.«

»Dann werden Sie aber doch einen Grund angeben müssen.«

»Ich werde den wahren Grund angeben; ich kann hier, wie ich Ihnen bereits gesagt habe, kein Atelier finden, das groß genug wäre. Und selbst wenn ich ein Atelier finden könnte, so würde ich doch in Dimchurch nichts Ordentliches schaffen können. Mein Geist würde an diesem entlegenen Orte einrosten. Mag Oscar hier als verheiratheter Mann ein ruhiges Leben führen. Ich muß eine für mich passendere Atmosphäre, die Atmosphäre von London oder Paris aufsuchen.«