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Die Blinde

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Ich trat einige Schritte vor, während ich mir zu überlegen versuchte, was ich sagen solle. Umsonst; ich konnte weder denken noch sprechen. Ich konnte sie nur ansehen; ich konnte nichts thun, als in nervöser Erregung »Lucilla« rufen.

Sie fuhr leicht zusammen, erröthete abermals und war wieder auf der Erde, war wieder bei uns. Sie wandte sich der Stelle zu, von der aus ich sie angeredet hatte und flüsterte:

»Kommen Sie her.«

Im nächsten Augenblick hatte ich sie mit meinen Armen umschlungen, und ließ ihren Kopf an meinen Busen sinken. Ohne ein Wort gesprochen zu haben, hatten wir uns versöhnt. In einem Augenblick waren wir wieder Freundinnen, Schwestern.

»War ich ohnmächtig? habe ich geschlafen?« fragte sie mich mit schwacher Stimme. »Bin ich eben aufgewacht? Ist dies Browndown?« Plötzlich richtete sie sich auf: »Nugent! sind Sie da?«

»Ja.«

Sanft entwand sie sich meiner Umarmung und näherte sich Nugent.

»Haben Sie eben mit mir gesprochen? Waren Sie es, der den Zweifel in mir wachrief, ob ich wirklich zu lebenslänglicher Blindheit verurtheilt sei? Ich habe mir das doch nicht eingebildet? Sie haben doch wirklich gesagt, der Mann werde herkommen und die Zeit werde kommen?« Plötzlich wurde ihre Stimme lauter: »Der Mann, der mich vielleicht heilen wird! Die Zeit, wo ich vielleicht wieder sehen werde!«

»Das habe ich gesagt, Lucilla! und das habe ich gemeint!«

»Oscar! Oscar!« Ich trat auf sie zu, um sie zu ihm zu führen. Nugent berührte mich leicht und deutete auf Oscar, als ich ihre Hand ergriff. Er stand mit einem Ausdruck der Verzweiflung, den ich noch deutlich vor mir sehe, während ich diese Zeilen schreibe, dicht vor dem Spiegel und betrachtete schweigend das widerwärtige Abbild seines Gesicht’s. Von Mitleid überwältigt, zauderte ich, sie zu ihm zu führen. Aber sie trat vor, streckte die Hand aus und berührte seine Schulter. Das Bild ihres reizendes Gesichts erschien über dem seinigen im Spiegel. Fröhlich neigte sie sich, beide Hände auf seine Schultern legend, über ihn hin und, sagte: »Die Zeit wird kommen, mein Liebsten wo ich Dich sehen werdet!«

Mit einem Freudenschrei zog sie sein Gesicht an sich heran und küßte ihn auf die Stirn. Kaum aber hatte sie seinen Kopf wieder losgelassen, als er denselben auf die Brust sinken ließ, sein Gesicht mit beiden Händen bedeckte, und für den Augenblick jeden äußeren Ausdruck seines Kummers gewaltsam niederdrückte. Ich zog sie rasch von ihm weg, bevor ihr feines Gefühl Zeit haben möchte, sie merken zu lassen, daß hier etwas nicht in Ordnung sei. Aber schon jetzt widersetzte sie sich mir, schon jetzt fragte sie argwöhnisch: »Warum ziehen Sie mich von ihm fort?«

Was sollte ich zu meiner Entschuldigung sagen? Ich wußte mir nicht zu helfen. Sie wiederholte die Frage; aber dieses eine Mal war uns das Glück günstig. Ein rechtzeitiges Klopfen an die Thür that ihr gerade in dem Augenblick, wo sie sich von mir loszumachen versuchte, Einhalt.

»Es klopft Jemand,« sagte ich. In demselben Augenblick trat der Diener mit einem Brief aus dem Pfarrhause ein.

Zehntes Kapitel.
Resumé der Parlaments-Verhandlungen

O, der willkommenen Unterbrechung Nach der Aufregung, die wir durchgemacht hatten, waren wir Alle einer Erholung, wie sie sich uns hier darbot, gleich bedürftig. Es war unter diesen Umständen ein wahrer Hochgenuß, in den gewöhnlichen Schlendrian des täglichen Lebens wieder hineingezwängt zu werden. Ich fragte, an wen der Brief gerichtet sei? Nugent antwortete: »Der Brief ist an mich und von Herrn Finch.« Nachdem er den Brief gelesen hatte, wandte er sich zu Lucilla.

»Ich habe Ihren Vater bitten lassen, sich hierher zu uns zu bemühen,« sagte er. »Herr Finch erwidert mir darauf, daß seine Pflichten ihn im Hause zurückhalten und daß er dafür halte, das Pfarrhaus sei ein geeigneterer Ort für die Discussion von Familienangelegenheiten. Haben Sie etwas dagegen, nach Hause zurückzukehren und wäre es Ihnen recht, mit Madame Pratolungo voranzugehen?«

Lucilla’s leicht erregbarer Argwohn wurde augenblicklich wach.

»Warum nicht mit Oscar?« fragte sie.

»Ihr Vater,« erwiderte Nugent, »giebt mir in seinem Schreiben zu verstehen, daß er über die kurze Notiz, die ich ihm von unserer hier zu pflegenden Berathung gegeben habe, ein wenig verletzt ist. Ich dachte, Sie könnten, bevor Oscar und ich erscheinen, Ihren Vater mit uns aussöhnen, indem Sie ihm versichern, daß wir keine Mißachtung seiner beabsichtigt haben. Glauben Sie nicht selbst, daß Sie uns die Sache leichter machen würden, wenn Sie das thäten?«

Nachdem er es auf diese geschickte Weise möglich gemacht hatte, Oscar und Lucilla zu trennen und Zeit zu gewinnen, seinen Bruder zu beruhigen und wieder aufzurichten, bevor er sie wiedersehe, öffnete Nugent die Thür, um mich und Lucilla hinauszulassen.

Wir ließen die Zwillingsbrüder allein in dem bescheidenen kleinen Zimmer, welches Zeuge einer Scene gewesen war, die uns Allen unvergeßlich blieb, nicht nur wegen des Interesses, das sie im Augenblick für uns hatte, sondern auch wegen der Folgen, die sich in Zukunft daran knüpfen sollten.

Eine halbe Stunde später waren wir Alle im Pfarrhause versammelt.

Unsere bis zu diesem Augenblick vertagte Berathung führte, abgesehen von einem einzigen kleinen, von mir ausgegangenen Vorschlag, zu nichts. In Wahrheit reducirte sich dieselbe auf eine von Herrn Finch gehaltene Rede. Der Gegenstand derselben war die Geltendmachung der Würde des Herrn Finch.

Ich erlaube mir hier, da mir wichtigere Dinge obliegen, die Rede des Ehrwürdigen Finch nach dem Maße seiner Gestalt zu behandeln..

Der Ehrwürdige Finch erhob sich und sagte, er protestire dagegen, daß man ihm eine Bestellung auf einer Karte, anstatt in einem angemessenen Billet habe zugehen lassen, daß man ihm zugemuthet habe, sich sofort in Browndown einzustellen, daß er anstatt der Erste der Letzte gewesen sei, den man von der exaltirten und absurden Auffassung des Falles seines armen Kindes durch Herrn Nugent Dubourg unterrichtet habe. Er sei nicht damit einverstanden, daß man sich an einen deutschen Arzt, also jedenfalls einen unbekannten Ausländer und möglicherweise einen Quacksalber wende, und damit den britischen Aerzten einen Makel anhefte, ganz abgesehen von den großen Kosten, die man sich dadurch aufbürde, er sei endlich gegen den ganzen Vorschlag des Herrn Nugent, der einer Auflehnung gegen die Fügungen einer allweisen Vorsehung entsprungen, eine Verwirrung des Gemüths seiner Tochter zur Folge habe, »eines Gemüths, das sich unter meinem Einfluß in einem Zustande christlicher Ergebung befand, das aber unter Ihrem Einfluß, Herr Dubourg, in einen Zustand ungläubiger Empörung versetzt worden ist.« Nach diesen Schlußbemerkungen setzte sich der Ehrwürdige Finch in Erwartung einer Antwort schweigend nieder.

Es folgte aber merkwürdiger Weise, was sich zur Nachahmung in einigen Parlamenten empfehlen möchte, keine Antwort.

Herr Nugent erhob sich, – nein, er blieb sitzen und erklärte, jede Betheiligung an den Verhandlungen ablehnen zu müssen. Er sei gern bereit zu warten, bis der Ausgang die Mittel, welche er anzuwenden vorgeschlagen habe, gerechtfertigt haben werde. Uebrigens fühle er sich in seinem Gewissen vollständig beruhigt und werde sich Fräulein Finch’s Entscheidung unbedingt fügen. Herr Finch würde sich wohl nicht so leichten Kaufes haben abfinden lassen, wenn nicht ein besonderer Umstand obgewaltet hätte. Ich habe es bereits als einen Ausfluß des eigenthümlichen Zwanges, welchen Lucilla auf Nugent übte, erwähnt, daß ihr Vater denselben in ihrer Gegenwart immer ohne Mühe zum Schweigen bringen konnte. Sie war auch dieses Mal anwesend und Herr Finch profitirte von diesem Umstande.

Oscar, der sich hinter seinem Bruder versteckt hielt, befolgte Nugent’s Beispiel. Die Entscheidung der zu berathenden Angelegenheit bleibe Lucilla allein überlassen. Er habe keine eigene Meinung über die Sache.

Lucilla selbst, welche demnächst zu einer Aeußerung veranlaßt wurde, hatte nur eine Antwort zu geben. Wenn ihr ganzes Vermögen bei dem Versuch, ihre Sehkraft wieder zu erlangen, aufgewendet werden müßte, werde sie mit Freuden dieses Opfer bringen. Bei allem gebührenden Respect vor ihrem Vater wagte sie doch zu glauben, daß er so wenig wie sonst Jemand, der sich im Besitz seiner Sehkraft befinde, ihre Gefühle bei der gegenwärtigen Sachlage ganz verstehen könne. Sie bitte Herrn Nugent Dubourg inständigst, ohne Verzug den deutschen Arzt nach Dimchurch zu bringen.

Frau Finch, an welche nun die Reihe kam, sprach, nachdem sie ein paar Minuten nach ihrem Schnupftuch gesucht hatte. Sie erklärte, sich nicht anmaßen zu wollen, anderer Ansicht zu sein als ihr Gatte, der nach ihrer Erfahrung noch immer bei allen Gelegenheiten Rechts gehabt habe. Sollte aber der deutsche Arzt kommen, so möchte sie denselben, wenn Herr Finch nichts dagegen halte, sehr gern (womöglich umsonst) über Baby’s Augen consultiren. Frau Finch war eben dabei, näher auseinanderzusetzen, daß in diesem Augenblick, soviel sie sehen könne, Baby’s Augen glücklicherweise ganz in Ordnung seien und daß sie nur wünsche, die Meinung eines kundigen Arztes für den möglichen Fall eines künftigen Augenleidens des Kindes zu vernehmen, als sie von Herrn Finch zur Ordnung gerufen wurde. Der ehrwürdige Herr forderte gleichzeitig Madame Pratolungo auf, die Debatte durch den offenen Ausdruck ihrer eigenen Ansicht zu schließen.

Madame Pratolungo bemerkte demgemäß schließlich, daß die Frage der Consultation des deutschen Arztes nach der Aeußerung von Fräulein Finch sich jedem Meinungsausspruch von Seiten einer anderen Person entziehe. Daß sie daher proponire, über die Consultation hinaus die Ergebnisse, welche dieselbe zur Folge haben möchte, ins Auge zu fassen, daß sie in Bezug auf diese möglichen Folgen eine sehr entschiedene Ansicht habe, welche sie offen auszusprechen sich erlauben wolle. Nach ihrer Ansicht könnte die proponirte Untersuchung in Betreff der etwa vorhandenen Aussichten, die Sehkraft Fräulein Finch’s wieder herzustellen, viel zu ernste Folgen nach sich ziehen, als daß man dieselbe der Entscheidung eines einzelnen Mannes, und wäre derselbe noch so geschickt und noch so berühmt, anvertrauen dürfe. Dieser Ansicht gemäß erlaube sie sich vorzuschlagen: Erstens, daß ein ausgezeichneter englischer Augenarzt zu der Consultation des deutschen Augenarztes hinzugezogen werde, zweitens, daß eine genaue Darlegung der Ansicht, über welche sie sich etwa einigen möchten, den hier Versammelten vorgelegt und von diesen discutirt werden möge, bevor irgend eine entscheidende Maßregel getroffen werde, ls und endlich drittens, daß dieser Vorschlag der Versammlung in Form einer Resolution vorgelegt und sofort, falls es erforderlich sein sollte, zur Abstimmung gebracht werden möge.

 

Die vorstehende Resolution wurde alsbald zur Abstimmung gebracht und mit der Majorität der von vier gegen zwei Stimmen angenommen:

Mit »Ja« stimmten:

Fräulein Finch,

Herr Nugent Dubourg,

Herr Oscar Dubourg,

Madame Pratolungo.

Mit »Nein« stimmten:

Herr Finch (auf Grund der bedeutenden Kosten),

und Frau Finch (weil Herr Finch »Nein« gesagt habe).

Die Debatte wurde bis zu einem später anzuberaumenden Tage vertagt.

Am nächsten Morgen reiste Nugent Dubourg mit dem ersten Zuge nach London. Als wir beim zweiten Frühstück saßen, traf das folgende Telegramm von ihm ein: »Ich habe meinen Freund gesehen, er stellt sich uns zur Verfügung; er ist auch bereit, mit jedem englischen Augenarzte, den wir wählen werden, zu consultiren. Ich will mich eben aufmachen, den Mann zu finden. Weiteres melde ich noch heute telegraphisch.«

Das zweite Telegramm traf Abends ein und lautete wie folgt:

»Alle in Ordnung. Der deutsche und der englische Augenarzt verlassen London mit mir, mit dem um zwölf Uhr vierzig Minuten von hier abgehenden Zuge.«

Nachdem ich dieses Telegramm Lucilla vorgelesen hatte, schickte ich es Oscar nach Browndown. Ich brauche dem Leser wohl nicht zu sagen, wie er und wie wir die folgende Nacht zubrachten.

Elftes Kapitel.
Herr Grosse

Es sind noch verschiedene Umstände zu erwähnen, die am Morgen des Tages, an welchem wir den Besuch der beiden Augenärzte erwarteten, eintrafen. Ich habe auch den besten Willen, diese Umstände zu berichten, an der Fähigkeit dazu gebricht es mir aber leider durchaus.

Wenn ich an jenen ereignißreichen Morgen zurückdenke, blicke ich auf eine Scene angstvoller Spannung und Verwirrung, deren bloße Erinnerung mich noch jetzt nach so langer Zeit völlig außer Fassung bringt. Dinge und Personen vermengen sich unterschiedslos mit einander. Ich sehe die reizende Gestalt meiner blinden, in Rosa und Weiß gekleideten Lucilla, wie sie hin und her flattert, bald in das Haus eilt, bald wieder zum Hause hinaus, wie sie bald ungeduldig der Ankunft der Aerzte entgegensteht, bald aus Furcht vor dem bestehenden Gottesgericht und der vielleicht bevorstehenden Enttäuschung zusammenschaudert.

Im nächsten Augenblick zerfließt für mich die liebliche Gestalt und verwandelt sich in die jammervolle Erscheinung Oscars, wie er zwischen Browndown und dem Pfarrhause ruhelos hin und her wandert, in der schmerzlichen Voraussicht neuer Complicationen in seinem Verhältniß zu Lucilla, wobei er sich dennoch auch jetzt nicht zu dem männlichen Entschluß aufzuraffen vermag, die Gelegenheit zu ergreifen, um mit Lucilla in’s Reine zu kommen. Und wieder einen Augenblick später drängt sich eine kleine stolzirende, von ihrer Bedeutung erfüllte Gestalt in den Vordergrund meiner Erinnerungen. Ich höre eine gewaltige Stimme mit entsprechender Ausdrucksweise mir in’s Ohr brüllen.

»Nein, Madame Pratolungo, nichts soll mich vermögen, diese unsinnige ärztliche Consultation, diesen unheiligen und lächerlichen Versuch, die Fügungen einer allweisen Vorsehung durch rein menschliche Mittel umzustoßen, durch meine Gegenwart zu sanctioniren. Ich bestehe auf meinem Stück – bemerken Sie wohl, daß ich mich eines vulgären Ausdrucks bediene, um es Ihnen desto nachdrücklicher einzuprägen – ich bestehe auf meinem Stück.«

Und wieder einen Augenblick später ist Herr Finch aus dem Bereich der vor mir auftauchenden Erinnerungen geschwunden; die feuchte Frau Finch und das Baby, dessen Tagewerk sich unabänderlich zwischen Saugen und Schlafen theilt, nehmen den leergewordenen Raum ein. Frau Finch vertraut mir mit wässeriger Feierlichkeit unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit das Geheimniß an, daß sie womöglich hinter dem Rücken ihres Gatten die englische und deutsche Arzneikunde ihrem Baby gratis zu statten kommen lassen wolle. Nun stelle man sich vor, wie sich alle diese Personen durch mein armes Gehirn mit ihren Reden und Handlungen verwirrend kreuzen und nehme dazu meine eigenen kleinen Sorgen, die Leitung des Frühstücks für die Aerzte und so weiter und man wird sich nicht wundern, wenn ich über etwa sechs Stunden kostbarer Zeit wie ein Lämmchen hinwegspringe und mich meinen verehrten Lesern präsentire, wie ich im Wohnzimmer einsam auf meinem Posten sitze, um das ärztliche Concil bei seiner Ankunft im Hause zu empfangen.

Ich hatte nur zwei Dinge, die mich trösten und aufrecht erhalten konnten. Erstens eine von mir selbst bereitete Küken-Mayonnaise auf dem Frühstückstisch, von der ich weiter nichts sage, als daß sie ein vollendetes Kunstwerk war – und zweitens mein grünes seidenes, mit den herrlichen Spitzen meiner Mutter besetztes Kleid, ein in seiner Art ebenso vollendetes Kunstwerk. Ob ich den Frühstückstisch ansah, oder ob ich mich im – Spiegel sah, immer fühlte ich, daß ich meine Nationalität würdig zur Geltung kommen ließ. Ich konnte mir sagen, daß selbst in diesem entfernten Winkel der Erde der Wanderer, der nach Civilisation und nach Luxus des Lebens strebt, die Superiorität Frankreichs anerkennen müsse.

Die Uhr schlug ein Viertel nach drei. Lucilla, die zum hundertsten Male des Wartens in ihrem Wohnzimmer überdrüssig geworden war, steckte ihren Kopf durch die Thür und wiederholte die stehende Frage:

»Ist noch nichts von ihnen zu sehen?«

»Nichts, mein Schatz.«

»Ach, wie lange wollen sie uns noch warten lassen!«

»Geduld, Lucilla, Geduld!«

Mit einem müden Seufzer verschwand sie wieder. Wieder vergingen fünf Minuten, als die alte Zillah in’s Zimmer guckte.

»Sie sind da, Madame, sie halten in einem Wagen vor der Pforte!«

Ich zapfte noch einmal an meinem grünseidenen Kleide, warf einen letzten Blick auf die Mayonnaise, um mir Muth zu machen. Die muntere Stimme Nugent’s, der die Fremden führte, drang vom Garten aus zu mir herein.

»Hierher, meine Herren, folgen Sie mir gefälligst.« Dann wurde es wieder still. Daran hörte ich Schritte, die Thür öffnete sich und Nugent führte die Herren zu mir herein.

»Herr Grosse ans Amerika. Herr Sebright aus London.«

Der Deutsche fuhr ein wenig zusammen,« als mein Name genannt wurde; der Engländer schien völlig unberührt davon zu bleiben. Herr Grosse hatte den Namen meines berühmten Gatten schon nennen gehört; Herr Sebright war ein Barbar, der von der Existenz Pratolungo’s nichts wußte. Ich will zuerst Herrn Grosse schildern und mir dabei die größte Mühe geben.

Ein untersetzter, breiter, stämmiger Körper, der auf zwei kurzen krummen Beinen hin und her wackelte, in unordentlichem, schäbigem, schlecht gebürstetem Anzuge; ein großes, viereckiges, gelbes Gesicht, von einem Wisch dicker stahlgrauer Haare überragt, dunkle, buschigte Augenbrauen, ein Paar; stiere wildblickende Glotzaugen, vor denen zwei riesige runde Brenngläser wie Bollwerke standen, ein grauschwarzer Backen- und Schnurrbart; ein Paar dicht behaarter Hände, deren eine auf dem Zeigefinger einen colossalen Siegelring trug, während die andere fortwährend mit einer silbernen Schnupftabaksdose von der Größe eines Theekastens beschäftigt war; eine rauhe raspelnde Stimme; ein teuflisch satyrisches Lächeln; eine kurz ungebundene selbstgewisse Art zu reden; eine seiner ganzen Erscheinung aufgeprägte Entschlossenheit, Unabhängigkeit und Entschiedenheit des Wesens – das ist das Bild des Mannes, der, wenn man Nugent glauben dürfte, die Wiederherstellung der Sehkraft Lucilla’s in seiner Hand hattet!

Der englische Augenarzt war seinem deutschen Collegen so unähnlich wie es nur ein menschliches Wesen dem andern sein kann.

Herr Sebright war schlank und mager und in seiner Erscheinung peinlich sauber und zierlich. Sein glattes blondes Haar war sorgfältig gescheitelt, auf seinem wohlrasirten Gesicht prangten zwei kleine gekräuselte, ungefähr zwei Zoll lange Stückchen Backenbart und sonst weiter kein Haar. Sein feiner schwarzer Anzug war von vollendetem Schnitt; er trug keinerlei Schmuck, nicht einmal eine Uhrkette; seine Bewegungen waren gemessen, seine Redeweise ruhig und feierlich; eine wohldisciplinirte Aufmerksamkeit blickte Einem aus seinen hellgrauen Augen kalt entgegen und jede Regung seiner dünnen, fein geschnittenen Lippen sagte: »Hier bin ich, wenn Ihr mich braucht.« Ohne allen Zweifel ein sehr tüchtiger Mann, aber Gott behüte mich davor, zufällig neben ihm bei Tische zu sitzen, oder ihn auf einer langen Reise zum einzigen Gefährten zu haben.

Ich empfing die beiden Herren mit bester Grazie. Herr Grosse erwiderte meine Begrüßung mit einem Compliment über meinen berühmten Namen und reichte mir die Hand. Herr Sebright verneigte sich und sagte, es sei heute schönes Wetter. Sobald der Deutsche sich umsehen konnte, richtete er seinen Blick auf den Frühstückstisch. Der Engländer sah zum Fenster hinaus.

»Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten, meine Herren?«

Herr Grosse nickte zum Zeichen seiner freudigen Zustimmung mit seinem Krauskopf. Seine wilden Augen stierten durch die riesigen Brillengläser hindurch gierig nach der Mayonnaise.

»O, davon bin ich ein großer Freund,« sagte der berühmte Arzt, mit dem beringten Zeigefinger auf die Schüssel deutend. »Sie verstehen das zu bereiten; Sie bereiten es mit Sahne. Ist es Hühner – oder Hummer-Mayonnaise? Ich ziehe Hammer vor, aber Hühner sind auch gut. Die Schüssel ist reizend garniert – Anchovis, Oliven, Rothebeet; braun, grün und roth auf der fetten weißen Sauce. Das nenne ich eine Himmelsspeise. Herrlich, fühlend für das Auge und für die Zunge. So, wir wollen einen Angriff darauf machen. Madame Pratolungo, Sie sollen den Anfang machen.«

, Aber feine Aufmerksamkeit wurde durch seinen höflichen englischen Collegen von der Mayonnaise ab, und der Patientin wieder zugelenkt.

»Ich bitte um Vergebung, Herr College,« sagte Herr Sebright. »Sollte es nicht angezeigt sein, die junge Dame zu sehen, bevor wir etwas Anderes thun? Ich muß mit dem nächsten Zuge nach London zurück.« Herr Grosse, der sich bereits eine Serviette um den Hals gebunden hatte, starrte, in der einen Hand eine Gabel und in der anderen einen Löffel, seinen Collegen mit kläglicher Miene an, schüttelte seinen Krauskopf und trennte sich mit schwerem Herzen von der Mayonnaise.

»Gut, wir wollen erst unsere Arbeit thun und dann unser Frühstück verzehren. Wo ist die Patientin? Kommen Sie, lassen Sie uns anfangen, rasch ans Werk!« Er nahm seine Serviette wieder ab, blies – es läßt sich nicht anders ausdrücken – einen Seufzer und tauchte seinen Daumen und Zeigefinger in seine Theekasten-Schnupftabaksdose. »Wo ist die Patientin?« wiederholte er ungeduldig »Warum ist sie nicht hier?«

»Sie wartet im Nebenzimmer,« sagte ich. »Ich will sie gleich herbringen. Sie werden gewiß Nachsicht mit ihr haben, meine Herren, wenn Sie sie ein wenig nervös aufgeregt finden sollten,« fügte ich mit einem Blick auf die beiden Augenärzte hinzu. Der schweigsame Herr Sebright verneigte sich; Herr Grosse grinste teuflisch und sagte: »Beruhigen Sie sich, mein gutes Kind. Ich bin keine so rohe Bestie wie ich aussehe.«

»Wo ist Oscar,« fragte mich Nugent, als ich auf dem Wege nach Lucilla’s Zimmer an ihm Vorüber ging.

»Nachdem er lange hin- und hergeschwankt hat,« erwiderte ich, »hat er endlich beschlossen, bei der Untersuchung nicht gegenwärtig zu sein.«

Kaum hatte ich das gesagt, als sich die Thür öffnete und Oscar eintrat. Er hatte sich also wieder anders besonnen und kam in Folge dessen zu uns.

Bei dem Anblick von Oscar’s Gesicht brach Grosse in den Ausruf aus: »Ach Gott, der hat Höllenstein im Leibe, davon ist seine Hautfarbe so verdorben. Der arme Junge! Der arme Junge!« Er schüttelte seinen zottigen Kopf, drehte sich um und spie mitleidig in eine Ecke des Zimmers. Oscar schien gekränkt, Herr Sebright degoutirt, nur Nugent sah aus, als ob ihn die Sache höchlich ergötze. Ich ging hinaus und schloß die Thür hinter mir.

 

Aber kaum war ich auf den Vorplatz hinausgetreten, als sich die Thür schon wieder hinter mir öffnete. Als ich mich sofort umblickte, sah ich zu meinem Erstaunen Herrn Grosse vor mir stehen, der mich durch seine Brillengläser hindurch wild anstarrte und mir seinen Arm bot.

»Still!« flüsterte der berühmte Augenarzt, »sagen Sie Niemand etwas davon, ich komme Ihnen zu helfen.«

»Mir zu helfen?« wiederholte ich.

Herr Grosse nickte heftig, so heftig, daß seine ungeheuren Brillengläser auf seiner Nase hin und her hüpften.

»Sie haben mir gesagt, die Patientin sei nervös. Nun gut. Ich komme, um mit Ihnen zu der Patientin zu gehen und Ihnen zu helfen, sie zu holen. Sehen Sie wohl, ich bin nicht so roh wie ich aussehe. Kommen Sie rasch! Wo ist sie?«

Ich zauderte einen Augenblick, diesen merkwürdigen Abgesandten in Lucilla’s Schlafzimmer zu führen. Ader ein Blick auf ihn machte meinem Zaudern ein Ende. Am Ende war er doch ein Arzt und noch dazu ein so häßlicher! Ich nahm seinen Arm.

Wir gingen zusammen nach Lucilla’s Zimmer. Sie fuhr vom Sopha, auf welchem sie gesessen hatte, auf, sobald sie die fremden Fußtritte zugleich mit den meinigen im Zimmer vernahm.

»Wer ist da?« rief sie.

»Ich bin es, liebes Kind!« sagte Herr Grosse. »Ach, Gott« welch ein hübsches Mädchen! Sie hat gerade den Teint, den ich liebe, hübsch blond, hübsch blond! Ich komme, um zu sehen, was ich für Ihre Augen thun kann, mein hübsches Fräulein. Wenn ich Ihnen Ihr Augenlicht wiedergeben kann – wie? da werden Sie mich lieb haben, nicht wahr? Dann werden Sie selbst einen so häßlichen Deutschen, wie ich einer bin, küssen. Kommen Sie einmal her und nehmen Sie meinen Arm; wir wollen wieder in das andere Zimmer gehen. Da ist noch Einer, der Ihnen das Augenlicht wiedergeben will, Herr Sebright. Zwei Augenärzte für ein hübsches Fräulein, ein englischer und ein deutschen was? Wir beide wollen das hübsche Mädchen schon kuriren. Madame Pratolungo, nehmen Sie meinen anderen Arm. Wie – was? Sie sehen meinen Rockärmel an? Der ist schäbig und fettig; ich muß mich schämen. Aber einerlei. Sie können sich ja Herrn; Sebright’s Aermel in dem andern Zimmer ansehen; der ist funkelnagelneu. Kommen Sie, vorwärts, Marsch!«

Nugent, der uns auf dem Corridor erwartet hatte, riß jetzt die Thür weit auf und flüsterte mir, als wir ins Zimmer traten, zu, indem er auf seinen Freund deutete:

»Ist er nicht köstlich? Unser deutscher Doctor hat Lucilla schon gut gethan.«

Die Untersuchung ging von Anfang an ohne Verlegenheit und Angst vor sich; Herr Grosse hatte sie zum Lachen gebracht, hatte sie vollkommen behaglich gemacht.

Als wir in’s Zimmer traten, unterhielten sich Herr Sebright und Oscar in höchst freundschaftlicher Weise. Der reservirte Engländer schien etwas Anziehendes für den blöden Oscar zu haben. Selbst Herr Sebright war von dem Anblick Lucilla’s betroffen, sein kaltes Gesicht leuchtete, als er ihr vorgestellt wurde. Er rückte einen Stuhl für sie an das Fenster und bat sie mit einer Wärme des Tones, die mir überraschend war, sich zu setzen. Sie that es. Darauf trat Herr Sebright wieder zurück und verneigte sich gegen Herrn Grosse mit einer höflichen Handbewegung, welche bedeutete: »Sie zuerst.«

Herr Grosse erwiderte diese Höflichkeit auch seinerseits mit einer Handbewegung und einem heftigen Schütteln seines Krauskopfes, welches bedeutete: »Das fällt mir gar nicht ein.«

»Um. Vergebung,« bat Herr Sebright, »Sie sind der Aeltere der Fremde und Meister in unserer Kunst.«

Herr Grosse regalirte sich mit drei rasch hintereinander genommenen Prisen und sagte dabei: »Ach was, soviel für den Aelteren, soviel für den Fremden und soviel für den Meister der Kunst.« Eine lange Pause folgte. Keiner der beiden Aerzte wollte den Anfang machen. Da legte sich Nugent ins Mittel.

»Fräulein Finch wartet,« sagte er, »kommen Sie, Grosse, Sie sind ihr zuerst vorgestellt worden; untersuchen Sie sie zuerst.«

Herr Grosse kniff Nugent ins Ohr. »Sie sind ein gescheidter Junge,« sagte er, »Sie haben das rechte Wort immer bei der Hand.« Er watschelte nach Lucilla’s Stuhl hin, blieb aber hier plötzlich wie betroffen stehen. Oscar stand über Lucilla gebeugt, ihre Hand in der seinen haltend und flüsterte ihr etwas zu. »He, was ist das,« rief Herr Grosse. »Ist das ein dritter Augenarzt? Wie, mein werther Herr, besteht Ihre Behandlung der Augen junger Damen darin, daß Sie ihnen die Hand drücken? Sie sind ein Quacksalber, scheeren Sie sich fort!« Oscar zog sich mit wenig guter Grazie zurück. Herr Grosse setzte sich auf einen Stuhl, Lucilla gegenüber und nahm seine Brille ab.

Wie die meisten kurzsichtigen Leute hatte er vortreffliche Augen für Alles, was er in hinreichender Nähe betrachten konnte. Er beugte sich vornüber, brachte sein Gesicht ganz nahe an das Lucilla’s heran, öffnete ihr mit Daumen und Zeigefinger abwechselnd die Augenlider beider Augen und blickte aufmerksam zuerst in das eine und dann in das andere Auge.

Es war ein Moment der höchsten Spannung für uns Alle. Wer konnte sagen, welchen Einfluß auf ihr künftiges Leben dieser ungeschliffene, wunderliche, freundliche, kleine Fremde üben werde.

Wie ängstlich beobachteten wir diese buschigen Augenbrauen, diese durchbohrenden Glotzaugen! Und, Himmel, wie enttäuscht waren wir über das erste Ergebniß dieser Untersuchung! Plötzlich gab Lucilla ihrem Widerwillen durch ein unfreiwilliges Zusammenschaudern Ausdruck. Herr Grosse trat einige Schritte zurück und lugte sie mit seinem himmlischen Lächeln wohlwollend an.

»Aha,« sagte er, »ich weiß schon was es ist. Ich schnupfe und rauche; ich rieche nach Tabak. Das hübsche Fräulein riecht das. Sie denkt in ihrem innersten Herzen: »Ach Gott, wie der stinkt.«

Lucilla brach in lautes Lachen aus. Herr Grosse, den die Sache ebenfalls höchlichst ergötzte, grinste vor Vergnügen und riß ihr das Schnupftuch aus ihrer Schürzentasche. »Geben Sie mir etwas Parfum,« sagte der vortreffliche Deutsche. »Ich will ihr die Nase mit ihrem Schnupftuch verstopfen. Dann wird sie mein Tabaksgeruch nicht mehr belästigen, Alles wird wieder in schönster Ordnung sein und wir werden fortfahren.« Ich gab ihm etwas Lavendelwasser auf einem auf dem Tische stehenden Riechfläschchen, Mit ernsthafter Miene tränkte er das Schnupftuch damit und stopfte es Lucilla in die Nase. »Halten Sie fest, Fräulein, jetzt können Sie nichts von Grosse riechen. Gut! Jetzt können wir fortfahren.«

Er zog eine Vergrößerungslinse aus der Westentasche und wartete, bis Lucilla sich wieder ganz von ihrem Lachanfall erholt hatte. Und dann nahm die Untersuchung, die so grausam possirlich anzusehen und doch so furchtbar ernsthaft war, ihren Fortgang, Herr Grosse seine Patientin durch seine Vergrößerungslinse betrachtend und Lucilla in ihrem Stuhl zurückgelehnt, sich das Schnupftuch vor die Nase haltend.

Es verging mehr als eine Minute, bis das Gottesgericht der Untersuchung zu Ende war.

Herr Grosse steckte sein Vergrößerungsglas wieder in die Tasche und gab dabei einen grunzenden Ton von sich, der wie ein Ausdruck der Erleichterung klang, und riß Lucilla das Schnupftuch wieder weg.

»Pfui, was für ein widerwärtiger Geruch!« sagte er, indem er das Schnupftuch mit einer Grimasse des Widerwillens an die Nase hielt. »Tabak riecht doch viel besser.« Er entschädigte seinen Riech-Apparat für die Kränkung des Lavendelwassers durch eine ungeheure Prise. »Jetzt will ich mit Ihnen reden,« fuhr er fort. »Sehen Sie ich halte mich in gehöriger Entfernung. Sie brauchen Ihr Schnupftuch jetzt nicht mehr, Sie können mich so nicht riechen.«

»Werde ich mein lebelang blind bleiben?« fragte Lucilla. »Bitte, bitte, sagen Sie es mir, Herr Grosse. Werde ich lebenslänglich blind bleiben?«

»Wollen Sie mir einen Kuß geben, wenn ich es Ihnen sage?«