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Die Frau in Weiss

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»Du weißt Nichts von meinen Beweggründen, um deretwillen ich Italien verließ,« begann er, »ausgenommen, daß sie politischer Art waren. Wären es Verfolgungen von Seiten meiner Regierung gewesen, die mich nach diesem Lande trieben, so würde ich diese Gründe weder Dir noch sonst Jemandem verschwiegen haben. Ich habe sie verschwiegen, weil keine Regierungsbehörde das Urtheil meiner Verbannung ausgesprochen hat. Du hast von den politischen Verbindungen gehört, Walter, welche sich in jeder großen Stadt des Festlandes von Europa verstecken? Zu einer dieser Gesellschaften gehörte ich in Italien – und gehöre ich noch jetzt in England. Als ich nach diesem Lande kam, geschah es auf Befehl meines Vorgesetzten. Ich war in meiner Jugend zu diensteifrig, und lief Gefahr, mich und Andere dadurch zu compromittiren. Aus diesem Grunde erhielt ich Befehl, nach England auszuwandern und zu warten. Ich wanderte aus – ich habe gewartet – ich warte noch jetzt. Morgen schon kann ich fortgerufen werden. Doch ist es mir einerlei – ich bin hier, ernähre mich durch Unterricht und kann warten. Ich breche keinen Eid (Du sollst sogleich hören, warum), indem ich meine Mittheilung durch Nennung des Namens der Gesellschaft, zu der ich gehöre, vollständig mache. Alles, was ich thue, ist, daß ich mein Leben in Deine Hände gebe. Falls je ein Mensch erfährt, daß Das, was ich Dir jetzt sagen werde, über meine Lippen gekommen ist, bin ich, so wahr wir hier sitzen, des Todes.«

Er flüsterte mir die nächsten Worte ins Ohr. Ich bewahre das Geheimniß, welches er mir auf diese Weise mittheilte. Der Bund, zu welchem er gehörte, wird für den Zweck dieser Erzählung hinlänglich individualisirt sein, wenn ich ihn bei den wenigen Gelegenheiten, in welchen es nothwendig sein wird seiner zu erwähnen, »die Verbindung« nenne.

»Der Zweck der ›Verbindung,‹ fuhr Pesca fort, ist ganz einfach derselbe, den andere Gesellschaften dieser Art im Auge haben – der Sturz der Tyrannei und die Behauptung der Rechte des Volks. Die Grundsätze dieser ›Verbindung‹ sind zweierlei Art. So lange eines Mannes Leben nützlich oder auch nur harmlos ist, hat er das Recht, dasselbe zu genießen. Sobald aber sein Leben dem Wohlergehen seiner Mitmenschen entgegentritt, hat er dieses Leben verwirkt, und es ist nicht allein kein Verbrechen, sondern ein positives Verdienst, ihn desselben zu berauben. Es liegt mir nicht ob, zu sagen, in welchen furchtbaren Verhältnissen des Druckes und der Tyrannei diese Gesellschaft ihren Ursprung hatte. Und es liegt Euch nicht ob – Euch Engländern, die Ihr Eure Freiheit vor so langer Zeit erranget, daß Ihr ganz bequem vergessen habt, wie viel Blut ihr dabei vergossen, und zu welchen äußersten Mitteln Ihr dabei geschritten – es liegt Euch nicht ob, zu sagen, wie weit die schlimmste aller Erbitterungen die bis zum Wahnsinne gereizten Männer einer tyrannisirten Nation fortreißen darf. Das Eisen, das in unsere Seelen gedrungen, ging zu tief, als daß Ihr es finden könntet. Laßt den Flüchtling zufrieden! Lacht über ihn, mißtrauet ihm, verwundert Euch über das geheime Wesen, das zuweilen unter der alltäglichen Respectabilität und Ruhe eines Mannes wie ich, zuweilen unter der Armuth und entsetzlichen Unsauberkeit von Männern schlummert, die weniger glücklich, weniger schmiegsam und weniger geduldig sind als ich – aber richtet uns nicht! Zur Zeit Eures ersten Karl hättet Ihr uns vielleicht Gerechtigkeit widerfahren lassen; aber jetzt hat der lange Genuß Eurer eigenen Freiheit Euch unfähig gemacht, sie uns angedeihen zu lassen.«

Alle die tiefsten Gefühle seiner Natur schienen sich in jenen Worten Luft zu machen; zum erstenmale in unserem Leben schüttete er mir sein ganzes Herz aus – aber noch immer in leisen Tönen – seine Furcht vor der fürchterlichen Offenbarung, die er mir machte, verließ ihn keinen Augenblick.

»Bis hierher,« fuhr er fort, erscheint Dir die Gesellschaft wie jede andere Gesellschaft. Ihr Zweck ist (Eurer englischen Ansicht nach) Anarchie und Revolution. Sie nimmt das Leben eines schlechten Fürsten oder eines schlechten Ministers, als ob der Eine und der Andere gefährliche, wilde Thiere wären, die bei der ersten Gelegenheit erschossen werden müßten. Ich gebe dies zu. Aber die Gesetze der ›Verbindung‹ sind von allen anderen Gesellschaften der Welt verschieden. Die Mitglieder sind einander nicht bekannt. Es ist ein Präsident in Italien, und, es sind Präsidenten im Auslande. Jeder derselben hat seinen Sekretär. Die Präsidenten und Sekretäre kennen die Mitglieder; aber die Mitglieder unter sich sind einander Alle fremd, bis ihr Vorgesetzter es in der politischen Nothwendigkeit der Zeit oder der privaten Nothwendigkeit der Gesellschaft für nöthig erachtet, sie mit einander bekannt zu machen. Unter solchem Schutze bedarf es keines Eides bei der Ausnahme. Wir sind mit der ›Verbindung‹ durch ein geheimes Zeichen identificirt, das wir Alle tragen und bis ans Ende unseres Lebens tragen. Wir haben Befehl, unseren gewöhnlichen Geschäften nachzugehen und uns viermal des Jahres für den Fall, daß man unserer Dienste bedürfte, bei dem Präsidenten oder dem Sekretär zu melden. Wir sind gewarnt, daß, falls wir die ›Verbindung‹ verrathen oder ihr schaden, indem wir anderen Interessen dienen, wir nach den Gesetzen der ›Verbindung‹ sterben müssen – durch die Hand eines Fremden, der vielleicht vom andern Ende der Welt herkommt, um den Schlag zu führen, oder durch die Hand unseres eigenen Herzensfreundes, der uns unbekannt während all’ der langen Jahre unseres vertrauten Umganges ein Mitglied gewesen sein mag. Zuweilen wird der Tod verschoben, zuweilen aber folgt er dem Verrathe auf dem Fuße nach. Unsere erste Sache ist, zu warten zu verstehen – die zweite, zu gehorchen, wenn der Befehl kommt. Einige von uns mögen ihr Lebelang warten und nicht gebraucht werden. Andere wieder mögen vielleicht schon am Tage ihrer Aufnahme zum Werke oder zur Vorbereitung zum Werke gerufen werden. Ich selbst – der leichte, fröhliche kleine Mann, den Du kennst, und der aus freiem Antriebe kaum mit einem Taschentuche die Fliege von seinem Gesichte verjagen mag – ich trat in meiner Jugend unter so furchtbarer Ausreizung, wie ich sie Dir nicht beschreiben will, durch einen Impuls in die ›Verbindung‹ ein, wie ich mich durch Impuls hätte tödten mögen. Jetzt muß ich in ihr verbleiben – sie hält mich bis zu meinem Tode gefaßt, wie ich auch immer jetzt in meinen verbesserten Umständen und meiner ruhigeren Männlichkeit über sie denken mag. Als ich noch in Italien war, wurde ich zum Sekretär erwählt, und alle Mitglieder jener Zeit, die angesichts des Präsidenten gebracht wurden, wurden auch mir vorgestellt.«

Ich fing an, ihn zu verstehen; ich sah das Ende seiner außerordentlichen Mittheilung. Er schwieg einen Augenblick, mich aufmerksam beobachtend – bis er offenbar errathen, was in mir vorging.

»Du hast bereits Deinen Schluß gezogen,« sagte er. »Ich lese es in Deinem Gesichte. Sage mir Nichts. Behalte das Geheimniß Deiner Gedanken für Dich. Laß mich dies eine letzte Opfer meiner selbst für Dich machen, – und dann von diesem Gegenstande auf immer schweigen.«

Er machte mir ein Zeichen, nicht zu sprechen – stand auf – zog seinen Rock aus – und krämpte den linken Aermel seines Hemdes um.

»Ich versprach Dir, daß diese Mittheilung eine vollständige sein solle,« flüsterte er dicht an meinem Ohre, während er mit den Augen aufmerksam die Thür bewachte. »Was auch danach kommen möge, Du sollst mir nicht den Vorwurf zu machen haben, daß ich Dir irgend Etwas verschwiegen hätte, was Dir für Deinen Zweck nothwendig zu wissen war. Ich habe gesagt, daß die ›Verbindung‹ ihre Mitglieder durch ein Zeichen identificirt, welches mit ihnen in das Grab geht. Sieh’ her, dies ist die Stelle, und dies das Zeichen.«

Er erhob seinen entblösten Arm und zeigte mir hoch im Oberarme und auf der Innenseite eine Brandmarke, die tief ins Fleisch gebrannt und von heller Blutfarbe war. Ich enthalte mich, die Devise dieser Brandmarke zu beschreiben. Genüge es zu sagen, daß dieselbe in runder Form und so klein war, daß eine Schillingmünze sie vollkommen bedeckt hätte.

»Ein Mann, der dieses Zeichen auf dieser Stelle eingebrannt trägt,« sagte er, seinen Arm wieder bedeckend, »ist ein Mitglied der ›Verbindung.‹ Ein Mann, welcher der ›Verbindung‹ falsch geworden, wird früher oder später von den Präsidenten oder Sekretären entdeckt werden, welche ihn kennen. Und ein Mann, der von den Vorgesetzten als Verräther entdeckt worden, ist todt. Kein menschliches Gesetz kann ihn schützen. Bedenke, was Du gesehen und gehört hast; ziehe Deine Schlüsse und handle wie Du willst. Aber um Gotteswillen; was Du auch entdecken mögest, was Du auch thuest, sage mir Nichts! Laß mich von einer Verantwortlichkeit frei bleiben, an die zu denken mich schaudern macht – und die, wie ich in meinem Gewissen überzeugt bin, jetzt noch nicht meine Verantwortlichkeit ist. Zum letzten Male sage ich es – bei meiner Ehre als Gentleman, bei meinem Eide als Christ, falls der Mann, den Du mir in der Oper bezeichnetest, mich kennt, so ist er so verändert oder so verstellt, daß ich ihn nicht kenne. Ich weiß Nichts von seinen Handlungen oder Absichten in England – ich habe ihn nie gesehen – habe nie, soviel ich weiß, vor heute Abend seinen Namen gehört. Ich sage weiter Nichts. Verlasse mich eine Weile, Walter; ich fühle mich überwältigt durch das, was sich zugetragen hat, erschüttert durch das, was ich Dir mitgetheilt habe. Laß mich versuchen wieder der Alte zu werden, ehe wir wieder zusammenkommen.«

Er sank auf einen Stuhl, und sich von mir abwendend barg er sein Gesicht in seinen Händen. Ich öffnete leise die Thür, um ihn nicht zu stören – und sprach ein paar Abschiedsworte mit leiser Stimme, so daß er sie hören konnte oder nicht, wie er wollte.

»Ich will die Erinnerung an heute Abend in der tiefsten Tiefe meines Herzens bewahren,« sagte ich. »Du sollst niemals bereuen, mir Dein Vertrauen geschenkt zu haben. Darf ich morgen zu Dir kommen? Darf ich schon um neun Uhr zu Dir kommen?«

 

»Ja, Walter,« entgegnete er mich liebevoll anblickend und wieder englisch sprechend, wie wenn es jetzt sein größter Wunsch sei, zu unseren früheren Beziehungen zueinander zurückzukehren. »Komm zu meinem kleinen Frühstück, ehe ich zu meinen Schülern gehe.«

»Gute Nacht, Pesca.«

»Gute Nacht, lieber Freund.«

XVII

Meine erste Ueberzeugung, als ich mich in der Straße befand, war die, daß mir Nichts weiter übrig bleibe, als nach den Mittheilungen zu handeln, die mir gemacht worden – mich des Grafen noch in dieser Nacht zu versichern, oder mich der Gefahr auszusetzen, falls ich bis zum Morgen wartete, Laura’s letzte Hoffnung zu verlieren. Ich blickte auf meine Uhr. Es war zehn Uhr.

Ich hatte auch nicht den Schatten eines Zweifels in Bezug auf des Grafen Absicht, als er das Theater verlassen. Sein Entwischen aus der Oper war sicher nur die Einleitung seines Entweichens aus London. Das Zeichen der »Verbindung« war auf seinem Arme, davon war ich so fest überzeugt, als wenn er mir das Brandmal gezeigt hätte – und der Verrath der »Verbindung« lag auf seinem Gewissen, ich hatte ihn in seinem Erkennen Pesca’s gelesen.

Es war leicht zu verstehen, warum dieses Erkennen nicht ein gegenseitiges gewesen. Ein Mann vom Charakter des Grafen würde nie die fürchterlichen Folgen, Spion zu werden, riskiren, ohne für seine persönliche Sicherheit ebensowohl zu sorgen, wie für seine goldene Belohnung. Das rasirte Gesicht, welches ich in der Oper bezeichnete, mochte zu Pesca’s Zeit mit einem großen Barte bedeckt gewesen sein; sein dunkelbraunes Haar war vielleicht eine Perrücke; sein Name offenbar ein falscher. Der Zufall der Zeit mochte ihm auch geholfen haben – seine ungeheure Corpulenz war vielleicht erst in späteren Jahren gekommen. Es war jeder Grund vorhanden, daß Pesca ihn nicht wieder erkannte – und ebenfalls jeder Grund, daß er Pesca erkannte, dessen eigenthümliche kleine Persönlichkeit ihn, wohin er auch gehen mochte, zu einer auffallenden Erscheinung machte.

Ich habe gesagt, daß ich überzeugt war, des Grafen Absicht, indem er uns im Theater entwischte, zu kennen. Wie konnte ich darüber in Zweifel sein, wenn ich mit meinen eigenen Augen sah, daß er sich ungeachtet der Veränderungen in seinem Aeußern von Pesca erkannt und deshalb in Gefahr glaubte? Falls ich ihn diese Nacht sprechen und ihm zeigen konnte, daß auch ich die tödtliche Gefahr kannte, in der er schwebte, was würde der Erfolg davon sein? Ganz einfach dieser: Einer von uns Beiden mußte Herr über unsere Lage – Einer von Beiden mußte unfehlbar in der Gewalt des Andern sein.

Ich war es mir schuldig, die Chancen gegen mich wohl zu erwägen; und ich war es meiner Frau schuldig, alles Mögliche zu thun, um die Gefahr zu verringern.

Die Chancen gegen mich waren leicht hergerechnet: sie liefen alle in einer einzigen zusammen. Sobald der Graf durch mein eigenes Bekennen erfuhr, daß der gerade Weg zu seiner Sicherheit über mich als Leiche ging, so war er wahrscheinlich der letzte Mann von der Welt, der zaudern würde, diesen Weg einzuschlagen, wenn er mich allein in seiner Gewalt hatte. Die einzigen Vertheidigungsmittel gegen ihn, von denen ich hoffen durfte, daß sie die Gefahr verringern würden, stellten sich nach etwas sorgfältiger Ueberlegung deutlich genug heraus. Bevor ich mein persönliches Bekenntniß der Entdeckung in seiner Gegenwart machte, mußte ich die Entdeckung selbst so placiren, daß sie zu augenblicklichem Gebrauche gegen ihn bereit und gegen jeden Versuch von seiner Seite, dieselbe unwirksam zu machen, gesichert war. Falls ich die Mine unter seinen Füßen grub, ehe ich mich ihm näherte, und einer dritten Person Weisung gab, sie nach Verlauf eines gewissen Zeitraumes anzuzünden, wenn nicht vorher entgegengesetzter Befehl von meiner eigenen Hand oder meinen eigenen Lippen einginge – so mußte des Grafen Sicherheit durchaus von der meinigen abhängen, und ich durfte dann selbst in seinem eigenen Hause ihm überlegen sein.

Dieser Gedanke kam mir, als ich dicht vor der neuen Wohnung angelangt war, die wir bei unserer Rückkehr von dem Badeorte gemiethet hatten. Ich ließ mich, ohne Jemanden zu stören, mit Hülfe meines eigenen Schlüssels ein. Es stand ein Licht im Flur, und ich schlich leise mit demselben auf mein Arbeitszimmer, um meine Vorbereitungen zu treffen und mich absolut zu einer Unterredung mit dem Grafen zu verpflichten, ehe sowohl Marianne als Laura nur die leiseste Ahnung von dem haben konnten, was ich zu thun beabsichtigte – Ein Brief an Pesca schien mir die sicherste Vorsichtsmaßregel, die ich jetzt treffen konnte. Ich schrieb ihm Folgendes:

»Der Mann, den ich Dir in der Oper bezeichnete, ist ein Mitglied der ›Verbindung‹ und zugleich ein Verräther an derselben. Ueberzeuge Dich sofort von der Wahrheit dieser beiden Behauptungen. Du kennst den Namen, unter welchem er in England lebt. Seine Adresse ist Numero 5, Forest Road, St. John’s Wood. Bei der Liebe, die Du einst für mich gehegt, beschwöre ich Dich, die Macht, die Dir verliehen, ohne Erbarmen und ohne Verzug in Anwendung zu bringen. Ich habe Alles gewagt und Alles verloren und mit meinem Leben für mein Mißlingen bezahlt.«

Ich unterzeichnete und datirte diese Zeilen, that sie in ein Couvert und versiegelte dasselbe. Oben darauf schrieb ich Folgendes: »Lasse das Couvert bis morgen früh um neun Uhr ungeöffnet. Wenn Du vor dieser Zeit Nichts von mir hörst oder siehst, so brich das Siegel mit dem Glockenschlage und lies den Inhalt.« Ich schrieb meine Anfangsbuchstaben darunter, und that das Ganze in ein zweites versiegeltes Couvert, welches ich an Pesca in seiner Wohnung adressirte.

Es blieb mir hiernach Nichts weiter übrig, als den Brief augenblicklich an seine Bestimmung zu schaffen, worauf ich Alles gethan haben würde, was in meiner Macht lag. Falls mir in des Grafen Hause Etwas zustieße, so hatte ich wenigstens dafür gesorgt, daß er es mit dem Leben büßen mußte.

Daß es in Pesca’s Macht lag – falls es ihn beliebte, von derselben Gebrauch zu machen – unter welchen Verhältnissen es auch sei, des Grafen Entweichen zu verhindern, bezweifelte ich keinen Augenblick. Der außerordentliche Eifer, mit dem er seinen Wunsch ausgesprochen, über des Grafen Identität unaufgeklärt zu bleiben – oder mit anderen Worten, über Thatsachen hinlänglich im Unklaren zu bleiben, um sich in seinem eigenen Gewissen dafür gerechtfertigt zu fühlen, daß er passiv bliebe – verrieth deutlich, daß er Mittel zur Hand hatte, um die fürchterliche Gerechtigkeit der »Verbindung« walten zu lassen, obgleich es ihm, als einem von Natur humanen Manne, widerstrebte, dies in meiner Gegenwart zu sagen. Die tödtliche Gewißheit, mit welcher die Rache fremder politischer Gesellschaften einen Verräther der Sache zu erreichen weiß, hatte selbst in meiner oberflächlichen Erfahrung zu viele Beispiele gegeben, um mir einen Zweifel zu gestatten. Wenn ich den Gegenstand als bloser Zeitungsleser betrachtete, erinnerte ich mich an Fälle, in Paris sowohl als in London, wo Ausländer erstochen in den Straßen gefunden worden, deren Mörder man niemals auf die Spur kam – an Leichname und Theile von solchen, die von Händen, welche nie entdeckt wurden, in die Themse und in die Seine geworfen waren – an Todesfälle, durch geheime Gewaltthat, die man sich nur auf eine Weise erklären konnte. Ich habe in diesen Blättern Nichts verschwiegen, das mich selbst betrifft – und verhehle auch hier nicht, daß ich glaube, ich hatte, falls die schreckliche Nothwendigkeit eintrat, welche Pesca autorisirte meinen Brief zu öffnen, Graf Fosco’s Todesurtheil geschrieben.

Ich verließ mein Zimmer, um ins Erdgeschoß hinunter zu gehen und den Hauswirth zu bitten, mir einen Boten zu besorgen. Er kam zufällig gerade die Treppe herauf, und wir begegneten einander auf dem ersten Treppenabsatze. Sein Sohn, ein flinker Bursche, war der Bote, den er mir vorschlug, als er hörte, was ich brauchte. Wir ließen den Knaben heraufkommen und gaben ihm unsere Weisungen. Er sollte einen Fiaker nehmen, um den Brief hinzubringen – den Letzteren in Pesca’s eigne Hände geben und mir von ihm eine Zeile zurückbringen, die mich überzeugte, daß er mein Schreiben richtig erhalten; dann sollte er in dem Fiaker zurückkommen und denselben für meinen Gebrauch warten lassen. Es war jetzt beinah halb elf Uhr. Ich berechnete, daß der Knabe in zwanzig Minuten würde zurück und ich dann in noch zwanzig Minuten in St. John’s Wood angelangt sein können.

Als der Bursche fort war, kehrte ich in mein Arbeitszimmer zurück, um gewisse Papiere zu ordnen, so daß man sie leicht finden möchte, in dem Falle, wo sich das Schlimmste ereignete. Den Schlüssel des altmodischen Schreibtisches, in welchem ich die Papiere aufbewahrte, versiegelte ich, schrieb Mariannen’s Namen auf das kleine Paket und legte es auf meinen Arbeitstisch. Darauf ging ich ins gemeinschaftliche Wohnzimmer hinab, wo ich Laura und Marianne, meiner Heimkehr von der Oper harrend, zu finden erwartete. Ich fühlte meine Hand zum erstenmale erzittern, als ich sie auf die Thürklinke legte.

Marianne war allein im Zimmer. Sie las und blickte erstaunt auf ihre Uhr, als ich eintrat.

»»Wie früh Du wieder da bist!« sagte sie, »Du mußt fortgegangen sein, ehe die Oper aus war.«

»Ja,« sagte ich; »weder Pesca noch ich blieben bis zu Ende. Wo ist Laura?«

»Sie hatte eine ihrer bösen Migränen heute Abend, und ich rieth ihr, sich lieber gleich nach dem Thee zu Bette zu legen.«

Ich verließ das Zimmer wieder unter dem Vorwande, nachzusehen, ob Laura schliefe. Mariannen’s scharfe Augen begannen sich prüfend auf mein Gesicht zu heften. Ihr scharfer Instinct fing an wahrzunehmen, daß Etwas auf meinem Gemüth lastete.

Als ich ins Schlafzimmer trat und mich leise im matten Schimmer der Nachtlampe dem Bette näherte, sah ich, daß meine Frau schlief.

Wir waren noch nicht ganz einen Monat verheirathet. Falls mein Herz schwer wurde, falls mein Entschluß abermals auf einen Augenblick wankte, als ich ihr liebes Antlitz betrachtete, das sich im Schlafe so treu meinem Kissen zuwandte – als ich ihre Hand offen auf der Decke liegen sah, wie sie von der meinigen gefaßt zu werden erwartete – gab es da nicht einige Entschuldigung für mich? Ich gestattete mir nur ein paar Minuten, um an dem Bette niederzuknieen und sie ganz nahe zu betrachten – so nahe, daß ihr Athem mein Gesicht streifte. Ich berührte zum Abschiede blos ihre Hand und ihre Stirn mit meinen Lippen. Sie bewegte sich im Schlafe und murmelte meinen Namen, doch ohne zu erwachen. Ich zögerte einen Augenblick an der Thür, um sie noch einmal anzuschauen. »Gott segne Dich und behüte Dich, mein treues Herz!« flüsterte ich und verließ sie dann.

Marianne stand an der Treppe und wartete auf mich. Sie hielt einen zusammengelegten Papierstreifen in der Hand.

»Des Hauswirths Sohn hat Dies für Dich gebracht,« sagte sie. »Ein Fiaker ist vor der Thür; er sagt, Du hast ihm befohlen, denselben auf Dich warten zu lassen.«

»Ganz recht, Marianne. Ich brauche den Fiaker. Ich muß noch einmal fort.«

Ich ging die Treppe hinab und trat in die Wohnstube, um den Streifen Papier zu lesen. Derselbe enthielt Folgendes in Pesca’s Handschrift:

»Ich habe Deinen Brief erhalten. Wenn ich Dich vor der genannten Zeit nicht sehe, werde ich mit dem Glockenschlage das Siegel brechen.«

Ich legte das Papier in mein Taschenbuch und wandte mich zur Thür. Marianne trat mir an der Schwelle entgegen und schob mich ins Zimmer zurück, so daß das Licht der Lampe voll auf mein Gesicht fiel. Sie hielt meine beiden Hände fest und heftete ihre Augen prüfend auf die meinigen.

»Ich sehe es!« sagte sie mit leisem, schnellem Flüstern, »Du willst heute Abend die letzte Chance versuchen.«

»Ja, die letzte und die beste,« gab ich flüsternd zurück.

»Nicht allein! O, Walter, um Gotteswillen nicht allein! Laß mich mit Dir gehen. Verweigere es mir nicht, weil ich blos ein Weib bin. Ich muß mitgehen! Ich will mitgehen! Ich will draußen im Fiaker warten!«

Jetzt mußte ich sie halten. Sie versuchte sich von mir loszumachen und zuerst hinunter zu eilen.

»Falls Du mir helfen willst,« sagte ich, »so bleibe hier und schlafe heute Abend im Zimmer meiner Frau. Laß mich nur mit über Laura beruhigtem Gemüthe gehen, und ich stehe für alles Uebrige. Komm, Marianne, küsse mich und zeige mir, daß Du Muth hast zu warten, bis ich wiederkomme«

Ich wagte nicht, ihr Zeit zu lassen, noch ein Wort weiter zu sagen. Sie versuchte nochmals, mich zu halten. Ich nahm ihre Hände auseinander und hatte das Zimmer in einer Minute verlassen. Der Knabe unten hörte mich die Treppe herunter kommen und öffnete die Hausthür. Ich sprang in den Fiaker, ehe noch der Kutscher vom Bocke steigen konnte. »Forest Road, St. John’s Wood,« rief ich ihm durch das vordere Fenster zu. »Ich zahle doppelt, falls wir in einer Viertelstunde dort sind.«

 

»Ich will’s machen, Sir.«

Ich sah auf meine Uhr. Elf Uhr – es war keine Minute mehr zu verlieren.

Die schnelle Bewegung des Fiakers, das Bewußtsein, daß jede Secunde mich dem Grafen näher brachte, die Ueberzeugung, daß ich mich endlich auf das gewagte Unternehmen eingelassen, versetzten mich dermaßen in Aufregung, daß ich dem Kutscher wiederholt zurief, schneller zu fahren. Als wir die Straßen verließen und in St. John’s Wood Road einfuhren, war ich so vollkommen von meiner Ungeduld überwältigt, daß ich im Wagen aufstand und den Kopf aus dem Fenster steckte, um das Ziel der Reise zu sehen, ehe wir es erreichten. Gerade als eine Kirchenuhr in der Ferne das Viertel nach Elf schlug, bogen wir in Forest Road ein. Ich ließ den Kutscher in einiger Entfernung von des Grafen Hause halten – bezahlte und entließ ihn – und ging dann zu Fuße an die Thür.

Als ich mich dem Gartenpförtchen näherte, sah ich Jemanden von der entgegengesetzten Seite her ebenfalls zu demselben herankommen. Wir trafen unter der Gaslampe der Straße zusammen und sahen einander an. Ich erkannte augenblicklich den blonden Ausländer mit der Narbe im Gesichte; und es schien mir, er erkannte mich. Er sagte Nichts; und anstatt ins Haus zu gehen, setzte er seinen Weg fort. War er durch Zufall in Forest Road? Oder war er dem Grafen von der Oper her gefolgt?

Ich gehe nicht weiter in diese Fragen ein. Nachdem ich ein paar Secunden gewartet, bis der Fremde außer Gesichtsweite war, zog ich die Glocke am Pförtchen. Es war jetzt zwanzig Minuten nach elf Uhr – spät genug, daß der Graf mich leicht durch die Entschuldigung, er sei bereits im Bette, hätte loswerden können.

Die einzige Art und Weise, mich gegen diesen Möglichkeitsfall zu verwahren, war die, mich ohne weitere Fragen sofort bei meinem Namen anmelden zu lassen und ihm dabei zugleich sagen zu lassen, daß ich wichtige Gründe habe, ihn noch zu so später Stunde zu sprechen zu wünschen.

Demzufolge nahm ich, während ich wartete, bis man mir öffnen würde, eine Karte heraus und schrieb unter meinen Namen »in wichtigen Geschäften.« Die Hausmagd öffnete die Thür, während ich noch das letzte Wort schrieb und frug mich argwöhnisch, »was ich wünsche.«

»Seien Sie so gut, Dies an Ihren Herrn abzugeben,« entgegnete ich, ihr die Karte gebend.

Ich sah aus dem zögernden Wesen des Mädchens, daß, hätte ich sie gefragt, ob ihr Herr zu Hause sei, sie ihre erhaltenen Weisungen befolgt und mir geantwortet haben würde, er sei nicht zu Hause. Aber die Zuversicht, mit der ich ihr meine Karte gab, machte sie unschlüssig. Nachdem sie mich mit erstaunter Verwirrung angestiert, ging sie mit meiner Karte ins Haus zurück, indem sie die Thür schloß und mich im Garten stehen ließ.

In ein paar Minuten kam sie wieder heraus. »Eine Empfehlung von ihrem Herrn, und ob ich nicht so gut sein wolle, zu sagen, wozu ich ihn zu sprechen wünsche?«

»Machen Sie Ihrem Herrn meine Empfehlung und sagen Sie ihm, ich könne dies Niemandem als ihm selbst mittheilen.« Sie verließ mich abermals, kam wieder heraus – und bat mich diesmal, einzutreten.

Ich folgte ihr sofort. Im nächsten Augenblicke befand ich mich im Hause des Grafen Fosco.