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Die Frau in Weiss

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VIII

So endete mein an Begebnissen so reicher erster Tag in Limmeridge House.

Miß Halcombe und ich bewahrten unser Geheimniß. Nach der Entdeckung der Aehnlichkeit schien uns kein neues Licht auf das die Frau in Weiß betreffende Geheimniß fallen zu sollen. Bei der ersten sicheren Gelegenheit leitete Miß Halcombe ihre Stiefschwester vorsichtig auf eine Unterhaltung über ihre Mutter, alte Zeiten und Anna Catherick. Doch waren Miß Fairlie’s Erinnerungen an die kleine Schülerin ihrer Mutter nur von der unbestimmtesten und allgemeinsten Art. Sie entsann sich, daß man damals von einer Aehnlichkeit zwischen ihr und der kleinen Anna Catherick gesprochen hatte; aber sie erwähnte Nichts von dem Geschenke der weißen Kleider, noch von der eigenthümlichen Ausdrucksweise, in welcher das Kind so ungekünstelt seine Dankbarkeit ausgesprochen hatte. Sie erinnerte sich, daß Anna nur wenige Monate in Limmeridge geblieben und dann nach Hampshire zurückgekehrt sei; aber sie konnte nicht sagen, ob die Mutter je mit ihrer Tochter zurückgekehrt sei, oder ob man später wieder von ihnen gehört hatte. Miß Halcombe’s ferneres Nachforschen in den wenigen noch übrigen Briefen Mrs. Fairlie’s, welche sie noch nicht gelesen hatte, nützte uns weiter Nichts, die Ungewißheiten aufzuklären, welche uns noch immer blieben. Wir hatten uns überzeugt, daß die unglückliche Frau, welche mir zur Nachtzeit begegnet war, und Anna Catherick eine und dieselbe Person sei – wir waren wenigstens so weit gekommen, daß wir die mangelhafte geistige Entwickelung des armen Geschöpfes mit der Sonderbarkeit, sich ganz in Weiß zu kleiden, und mit ihrer in reiferen Jahren fortgesetzten, kindlichen Dankbarkeit gegen Mrs. Fairlie in Verbindung brachten – und damit waren für jetzt unsere Entdeckungen zu Ende.

Tage vergingen und Wochen; die Spur des goldenen Herbstes zog sich sichtbar durch den grünen Sommer der Bäume. Friedliche, eilende, glückliche Zeit! Meine Erzählung gleitet jetzt an dir vorüber, so schnell wie einst Du an mir. Wie viel ist mir von all den Schätzen des Glückes, die Du so freigebig in mein Herz gossest, geblieben, das Inhalt genug besäße, um in diesen Blättern aufgezeichnet zu werden? Nichts als das traurigste Bekenntniß, das ein Mann nur machen kann – das Bekenntniß seiner Thorheit.

Das Geheimniß, welches dies Bekenntniß enthüllt, mitzutheilen, sollte mich wenig Anstrengung kosten, da es mir indirect bereits entschlüpft ist. Die armseligen, schwachen Worte, denen es nicht gelungen ist, Miß Fairlie zu beschreiben, haben statt dessen die Gefühle verrathen, welche sie in mir erweckte. Aber so geht es immer! Unsere Worte sind Riesen, wo sie uns schaden, und Zwerge, wo sie uns nützen können.

Ich liebte sie.

Ach! wie gut kenne ich all den Kummer und Hohn, der in diesen drei Worten enthalten ist! Ich kann mit dem zärtlichsten Weibe, welches dies liest und mich bemitleidet, seufzen. Ich kann so bitter, wie der hartherzigste Mann, der es in Verachtung von sich wirft, darüber lachen. Ich liebte sie! Fühlt für mich oder verachtet mich – ich bekenne es mit dem unerschütterlichen Entschlusse, die Wahrheit zu gestehen! – –

Gab es keine Entschuldigung für mich? Gewiß, es lag einige Entschuldigung in den Verhältnissen, unter welchen ich die Zeit meiner gemietheten Dienste in Limmeridge House zubrachte.

Meine Morgenstunden vergingen still und ruhig in der Einsamkeit meines Zimmers. Ich hatte an dem Aufkleben der Zeichnungen gerade Arbeit genug, um meine Augen und Hände angenehm zu beschäftigen, während mein Geist frei blieb, sich dem gefährlichen Rausche ungezügelter Phantasie hingebend. Eine gefährliche Einsamkeit. Denn sie währte lange genug, um mich schwach zu machen, nicht aber, um mich zu stärken. Eine gefährliche Einsamkeit, denn ihr folgten Nachmittage und Abende, die Tag für Tag, eine Woche nach der anderen in der Gesellschaft zweier Frauen vergingen, von denen die Eine alle Vorzüge der Anmuth, des Witzes und der feinen Bildung, die Andere alle Reize der Schönheit, Sanftmuth und der einfachen Wahrheit besaß, welche das Herz eines Mannes veredeln und bezwingen können. Es verging kein Tag, an dem nicht in jener gefährlichen Vertraulichkeit zwischen Lehrer und Schülerin Miß Fairlie’s Hand die meinige berührte oder ihre Wange, indem wir uns zugleich über ihr Zeichenbuch beugten, fast die meinige streifte. Je aufmerksamer sie jede Bewegung meines Pinsels beobachtete, desto näher war mir der liebliche Duft ihres Haares und der warme Hauch ihres Athems. Es gehörte zu meinem Dienste, förmlich in dem Lichte ihrer Augen zu leben – einen Augenblick mich über sie zu beugen und zwar ihren Schultern so nahe, daß ich bei dem Gedanken, sie zu berühren, zitterte; im nächsten zu fühlen, wie sie sich über mich beugte, um zu sehen, was ich zeichne, und zwar so tief herab, daß sie ihre Stimme senkte, wenn sie zu mir sprach, und ihre vom Winde bewegten Bänder meine Wange streiften, ehe sie dieselben zurückziehen konnte.

Die Abende, welche diesen Landschafterausflügen folgten, brachten mehr Abwechslung als Störung in diese unvermeidlichen unschuldigen Vertraulichkeiten. Meine natürliche Liebe zu Musik, welcher ihr Spiel, so seelenvoll im Ausdrucke, so zart-weiblich in der Auffassung, entgegenkam, und ihre Freude, mir das durch die Ausübung ihrer Kunst wiederzugeben, was ihr die Ausübung der meinigen an Genuß geboten hatte, webten nur noch ein neues Band, das uns fester und fester aneinander knüpfte. Die Zufälligkeiten der Unterhaltung; die einfachen Gewohnheiten, nach denen eine solche Kleinigkeit, wie zum Beispiel unsere Plätze bei Tische, bestimmt wurden; Miß Halcombe’s fröhliche Neckereien, gegen des Lehrers Sorgfalt und den Enthusiasmus der Schülerin gerichtet; Mrs. Vesey’s harmloses, schläfriges Lob, das Miß Fairlie und mich als zwei musterhafte junge Leute verband, die sie niemals störten – alle diese Kleinigkeiten und noch manche andere trugen dazu bei, uns in denselben häuslichen Zirkel zu schließen und uns Beide unmerklich demselben hoffnungslosen Ende zuzuführen.

Ich hätte meine Stellung bedenken und im Stillen auf der Hut sein sollen. Ich that dies auch, aber erst, als es bereits zu spät war. Alle Umsicht, alle Erfahrung, die mir bei anderen Frauen von Nutzen gewesen und mich gegen Versuchungen verwahrt hatten, schlugen mir bei ihr fehl. Meine Beschäftigung hatte es seit Jahren mit sich gebracht, daß ich in nahe Berührung mit jungen Mädchen jeden Alters und jeder Gattung von Schönheit kam. Ich hatte die Stellung als einen Theil meines Berufes angenommen; ich hatte mich gewöhnt, alle die meinen Jahren entsprechenden Sympathien draußen im Vorsaale zu lassen, wie ich meinen Regenschirm dort zurückließ, ehe ich die Treppe hinauf ging. Ich hatte längst ganz gefaßt und wie etwas, das sich von selbst versteht, begriffen, daß meine Stellung im Leben eine Garantie dagegen sei, daß meine Schülerinnen jemals mehr als das allergewöhnlichste Interesse an mir nahmen und daß die jungen, bezaubernden Mädchen mich ungefähr wie ein unschädliches Hausthier empfingen. Diese schützende Erfahrung hatte ich schon früher gemacht, sie hatte mich streng und gerade auf meinem armen, schmalen Pfade dahingeführt, ohne mich auch nur ein einziges Mal zur Linken oder zur Rechten hinabschweifen zu lassen. Und jetzt hatte mein getreuer Talisman mich zum ersten Male verlassen! Ja, meine schwererworbene Selbstbeherrschung war so vollständig dahin, als ob ich sie nie besessen hätte; für mich verloren, wie andere Männer sie verlieren in kritischen Lagen, wo Frauen mit im Spiele sind. Ich weiß jetzt wohl, daß ich mich gleich von Anfang an hätte prüfen, mich hätte fragen sollen, warum jedes Zimmer in jenem Hause mir theurer war als meine Heimat, sobald sie eintrat, und warum es mir öde wurde, wie eine Wüste, sobald sie es verließ – warum ich bei ihr auch die kleinste Veränderung in der Kleidung wahrnahm, während ich hierauf noch bei keinem anderen Weibe geachtet hatte – warum ich sie ansah, anhörte und berührte (wenn wir einander zum Morgen- oder Abendgruße die Hand gaben), wie noch nie zuvor ein anderes Weib? Ich hätte fleißig in mein Herz schauen, dies neue Gefühl dort aufblühen sehen und es herausreißen sollen, da es noch in der Knospe war. Warum war mir dieses leichteste Werk der Selbstcultur immer zu schwer? Die Erklärung dieser Fragen liegt in den drei Worten meines Bekenntnisses. Ich liebte sie.

Die Tage vergingen, die Wochen vergingen; der dritte Monat meines Aufenthaltes in Cumberland nahte heran. Die köstliche Einförmigkeit des Gebens in unserer stillen Zurückgezogenheit floß mir dahin leicht wie dem Schwimmer, der stromabwärts gleitet. Jede Erinnerung an die Vergangenheit, jeder Gedanke an die Zukunft, jedes Gefühl von der Hoffnungslosigkeit meiner Stellung schlummerte in betrügerischer Ruhe in meinem Herzen. Von dem Sirenengesange meines eigenen Herzens eingelullt, trieb ich mit Augen und Ohren, die jeder Gefahr verschlossen waren, dem vernichtenden Felsen näher und näher. Die Warnung, welche mich endlich aufschreckte und plötzlich zu dem selbstanklagenden Bewußtsein meiner Schwachheit erweckte, war die deutlichste, wahrste, liebreichste aller Warnungen, denn sie kam stillschweigend von ihr selbst.

Wir waren eines Abends wie gewöhnlich auseinander gegangen. Es war meinen Lippen weder an jenem Abende, noch je zuvor ein Wort entfallen, das mich hätte verrathen und sie erschrecken können. Als wir am folgenden Morgen einander begegneten, war eine Veränderung über sie gekommen – eine Veränderung, die mir Alles sagte.

Ich bebte damals – und noch jetzt – davor zurück, mich in das innerste Heiligthum ihres Herzens zu drängen und es vor den Blicken Anderer zu entblößen, wie ich das meinige vor ihnen entblößt habe. Genüge es zu sagen, daß der Augenblick, wo sie mein Geheimniß entdeckte – wie ich fest überzeugt bin, derselbe war, in welchem sie ihr eigenes entdeckte, und zwar als sie in dem kurzen Zeitraume einer einzigen Nacht sich gegen mich veränderte. Ihre Natur, zu aufrichtig, um Andere zu betrügen, war zu edel, um sich selbst zu täuschen. Als der Zweifel, den ich in Schlaf gelullt hatte, sich mit seiner schweren Last zuerst auf ihr Herz legte, bekannten die offenen Züge Alles und sagten in der ihnen eigenen einfachen Sprache: es betrübt mich um seinet- und um meinetwillen …

 

Sie sagten dies und noch mehr, das ich aber damals mir nicht deuten konnte. Ich verstand nur zu wohl, warum ihr Benehmen gegen mich vor Anderen gütiger und zuvorkommender wurde und warum sie traurig und gezwungen mit nervöser Aengstlichkeit sich in die erste beste Beschäftigung vertiefte, wenn wir zufällig einmal allein gelassen wurden. Ich begriff, warum die lieben, gefühlvollen Lippen jetzt so selten und so zurückhaltend lächelten und warum die klaren blauen Augen mich zuweilen mit dem Mitleiden eines Engels und zuweilen mit der unschuldigen Verwirrung eines Kindes anblickten. Aber die Veränderung bedeutete noch mehr als dies. Es war eine Kälte in ihrer Hand, eine unnatürliche Ruhe in ihren Zügen, und in allen ihren Bewegungen der stumme Ausdruck von Angst und Selbstvorwurf. Aber dies waren nicht die Gefühle, deren Spur ich bei ihr und bei mir wahrgenommen, nicht die, welche wir, ohne sie zu bekennen, in Gemeinschaft empfanden. In der Veränderung ihres Wesens lagen gewisse Elemente, welche uns ganz heimlich noch immer zueinander hinzogen und wieder andere, die uns ebenso heimlich voneinander zu entfernen begannen.

In meinem Zweifel und meiner Unruhe, in meinem unklaren Verdachte, daß man mir etwas verberge, das ich ohne Hilfe, durch eigene Anstrengung entdecken sollte, suchte ich in Miß Halcombe’s Blicken und Verhalten Aufklärung. In so vertraulichem Umgange, wie dem unsrigen, konnte keine ernstliche Veränderung in dem Einen oder Anderen stattfinden, ohne daß die Anderen gewissermaßen davon mit berührt wurden. Die Veränderung in Miß Fairlie spiegelte sich in ihrer Halbschwester ab. Obgleich letztere mit keiner Silbe auf irgendwie veränderte Gefühle in Bezug auf mich hindeutete, so hatten doch ihre scharfen Blicke die ganz neue Gewohnheit angenommen, mich stets zu beobachten. Zuweilen war der Ausdruck derselben wie verhaltener Zorn; zuweilen wie verhaltene Angst; zuweilen wie keins von Beiden – kurz wie etwas, das ich nicht recht begreifen konnte. Es verging eine Woche, während welcher wir alle drei in diesem heimlichen Zustande des Zwanges gegen einander lebten. Meine Lage, welche jetzt durch das zu spät erwachte Bewußtsein meiner Schwachheit und Selbstvergessenheit noch verschlimmert worden, wurde jetzt förmlich unerträglich. Ich fühlte, daß ich ein für allemal die Beklemmung abwerfen müsse, die mich drückte; doch was das Beste für mich zu thun sei und was ich zuerst thun müsse, war mir unmöglich, zu bestimmen.

Aus dieser hilflosen, demüthigenden Lage erlöste mich Miß Halcombe. Ihre Lippen sagten mir die bittere, die nothwendige, die unerwartete Wahrheit. Ihre herzliche Güte hielt mich unter dem Schlage, den sie mir verursachte, aufrecht; ihr klares Urtheil und ihr Muth machten den rechten Gebrauch von einem Ereignisse, das mich und noch andere in Limmeridge House mit dem Schlimmsten, das uns widerfahren konnte, bedrohte.

IX

Es war an einem Donnerstage in der Woche zu Ende des dritten Monats meines Aufenthaltes in Limmeridge House.

Als ich am Morgen zur gewöhnlichen Stunde in’s Frühstückzimmer trat, war Miß Halcombe zum ersten Male, seit ich sie kannte, nicht an ihrem Platze am Tische.

Miß Fairlie war draußen auf dem Rasenplatze. Sie grüßte mich, kam aber nicht herein. Weder ihre Lippen noch die meinigen hatten ein einziges Wort fallen lassen, das uns hätte verlegen machen können – und doch ließ uns ein unausgesprochenes Gefühl der Verlegenheit gegenseitig die Gelegenheit vermeiden, miteinander allein zu sein. Sie wartete auf dem Rasenplatze und ich in der Frühstücksstube, bis Mrs. Vesey und Miß Halcombe eintraten. Wie schnell wäre ich noch vor vierzehn Tagen zu ihr hinaus gegangen! Wie herzlich würden wir damals uns die Hände gegeben haben und in unsere gewöhnliche Unterhaltung gefallen sein!

Nach wenigen Minuten kam Miß Halcombe herein. Sie sah nachdenklich aus und machte zerstreute Entschuldigungen, daß sie so spät komme.

»Ich wurde durch eine Berathung über häusliche Angelegenheiten, wegen welcher Mr. Fairlie mich zu sprechen wünschte, aufgehalten,« sagte sie. Miß Fairlie kam aus dem Garten herein, und wir boten einander den üblichen Morgengruß. Ihre Hand lag kälter denn je in der meinigen. Sie sah mich nicht an und war sehr bleich. Sogar Mrs. Vesey bemerkte dies, als sie einen Augenblick später in’s Zimmer trat.

»Es wird wohl vom veränderten Winde kommen,« sagte die alte Dame. »Der Winter naht – ach ja, mein liebes Kind, bald wird er da sein!«

In ihrem Herzen und dem meinigen war er schon eingekehrt.

Unser Frühmahl – das sonst so voll fröhlicher Pläne für den Tag gewesen – ward kurz und still beendet. Miß Fairlie schien das Drückende der langen Pausen in der Unterhaltung zu fühlen und sah bittend ihre Schwester an, daß sie dieselben füllen möge. Endlich, nachdem sie ein- oder zweimal auf höchst uncharakteristische Weise angesetzt und wieder aufgehört hatte, begann Miß Halcombe:

»Ich habe Deinen Onkel heute Morgen gesehen,« sagte sie. »Er ist der Ansicht, daß die dunkelblaue Stube hergerichtet werden soll, und er bestätigt, was ich dir sagte. Montag ist der Tag – nicht Dienstag.«

Während Miß Halcombe diese Worte sprach, blickte Miß Fairlie auf den Tisch herab. Ihre Finger bewegten sich zitternd unter den Krumen, die sie auf das Tischtuch gestreut hatte. Die Blässe ihrer Wangen zog sich bis in ihre Lippen hinein, und die Lippen selbst bebten sichtlich. Ich war nicht der Einzige, der dies bemerkte. Miß Halcombe sah es ebenfalls und ging uns sofort mit dem Beispiele des Aufstehens voran.

Mrs. Vesey und Miß Fairlie verließen zusammen das Zimmer. Die lieben, kummervollen blauen Augen schauten mich einen Augenblick an mit der in die Zukunft sehenden Trauer eines nahen, langen Lebewohls. Ich fühlte die schmerzvolle Antwort in meinem eigenen Herzen – es war ein Schmerz, der mir sagte, daß ich sie bald verlieren, aber selbst um des Verlustes willen, umso fester, umso unveränderlicher lieben würde.

Ich wandte mich dem Garten zu, als sich die Thür hinter ihr schloß. Miß Halcombe stand mit ihrem Hute in der Hand und ihrem Shawl über dem Arme neben dem großen Fenster, das in den Garten führte, und betrachtete mich aufmerksam.

»Haben Sie etwas Zeit übrig,« fragte sie, »ehe Sie Ihre Arbeit auf Ihrem Zimmer beginnen?«

»Gewiß, Miß Halcombe. Meine Zeit steht Ihnen ganz zu Diensten.«

»Ich möchte ein paar Worte mit Ihnen allein sprechen, Mr. Hartright. Holen Sie Ihren Hut und kommen Sie mit mir in den Garten hinaus. Wir werden dort zu dieser Stunde des Morgens nicht leicht gestört werden.«

Als wir auf den Rasenplatz hinaustraten, ging einer der Gärtnerburschen – noch ein Knabe – mit einem Briefe in der Hand an uns vorbei und nach dem Hause zu. Miß Halcombe rief ihn an.

»Ist der Brief für mich?« fragte sie.

»Nein, Miß, er soll eben für Miß Fairlie sein,« antwortete der Bursche, den Brief hinhaltend.

Miß Halcombe nahm ihm den Brief ab und besah die Adresse.

»Eine fremde Hand,« sprach sie zu sich selbst. »Wer mag Lauras Correspondent nur sein? Wo hast Du dies her?« fragte sie, zum Gärtnerburschen gewendet.

»Nun, Miß,« sagte der Bursche, »ich hab’s eben von einer Frau,«

»Was für eine Frau?«

»Eine schon ziemlich alte Frau.«

»So, eine schon ziemlich alte Frau. Kennst Du sie?«

»Ich müßte lügen, wenn ich sagen sollte, daß ich sie gekannt hätte.«

»In welcher Richtung ging sie fort?«

»Dahin,« sagte der Untergärtner, mit großer Kaltblütigkeit nach Süden deutend, indem er jenen ganzen Theil von England mit einer einzigen Schwenkung seines Armes bezeichnete.

»Sonderbar,« sagte Miß Halcombe, »ein Bettelbrief vermuthlich. Da,« fügte sie hinzu, als sie dem Burschen den Brief zurückgab, »trage ihn in’s Haus und gib ihn an einen der Diener ab. Und jetzt, Mr. Hartright, falls Sie Nichts dawider haben, wollen wir diesen Weg nehmen.«

Sie führte mich über den Rasenplatz und denselben Pfad entlang, den wir am Tage meiner Ankunft in Limmeridge eingeschlagen hatten. Bei dem kleinen Lusthause, in dem Laura Fairlie und ich einander zum erstenmale gesehen hatten, stand sie still und brach das Schweigen, das sie, während wir zusammen gingen, beobachtet hatte.

»Was ich Ihnen zu sagen habe, kann ich Ihnen hier sagen.«

Mit diesen Worten trat sie in das Lusthäuschen, setzte sich auf einen der Stühle, die an dem kleinen runden Tische standen, und machte mir ein Zeichen, den anderen zu nehmen. Ich hatte von dem, was kommen sollte, eine Ahnung gehabt, als sie im Frühstückzimmer zu mir sprach; jetzt war ich dessen gewiß.

»Mr. Hartright,« sagte sie, »ich werde mit einem offenen Geständnisse anfangen. Ich werde – ohne Redensarten, die ich verabscheue, oder Complimente, die ich verachte – Ihnen sagen, daß ich im Verlaufe Ihres Aufenthaltes unter uns eine große freundschaftliche Achtung für Sie gefaßt habe. Ihr Betragen gegen jenes unglückliche Frauenzimmer, dem Sie unter so eigenthümlichen Umständen begegneten, nahm mich gleich zu Anfang zu Ihren Gunsten ein. Die Art und Weise, wie Sie in der Sache verfuhren, mag nicht vorsichtig gewesen sein; aber sie bewies die Selbstbeherrschung, das Zartgefühl und das Mitleid eines Mannes, der von Natur ein Gentleman ist. Ich erwartete demnach nur Gutes von Ihnen, und Sie haben meine Erwartungen nicht getäuscht.«

Sie hielt inne – machte jedoch ein Zeichen mit der Hand, um mir anzudeuten, daß sie keine Antwort von mir erwartete, ehe sie fortführe. Als ich das Lusthäuschen betrat, war kein Gedanke an die Frau in Weiß in meinem Herzen gewesen. Jetzt aber riefen Miß Halcombe’s Worte ihn in mein Gedächtniß zurück. Dort blieb er, während der ganzen Unterhaltung – er blieb und zwar nicht ohne Erfolg.

»Als Ihre Freundin,« fuhr sie fort, »werde ich Ihnen sofort auf meine offene, deutliche Weise geradezu sagen, daß ich Ihr Geheimniß entdeckt habe – ohne irgend eine Hilfe oder einen Wink, merken Sie wohl auf, von einem anderen Wesen. Mr. Hartright, Sie haben, wie ich fürchte, sorgloserweise eine ernste, tiefe Zuneigung zu meiner Schwester Laura gefaßt. Ich mache Ihnen nicht den Schmerz, in viel Worten ein Bekenntniß darüber von Ihnen zu verlangen, weil ich weiß, daß Sie zu redlich sind, um es zu leugnen. Ich tadle Sie nicht einmal – nein, ich fühle blos Mitleid mit Ihnen, weil Sie eine hoffnungslose Liebe in Ihr Herz eingelassen haben. Sie haben nicht versteckt gehandelt, haben nicht im Geheimen mit meiner Schwester gesprochen. Sie haben sich der Schwäche und der unbewußten Verabsäumung Ihrer eigenen Interessen schuldig gemacht, aber weiter Nichts. Hätten Sie in irgend einer Hinsicht weniger zartfühlend und weniger bescheiden gehandelt, so hätte ich Ihnen, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern oder irgend Jemand zu Rathe zu ziehen, gesagt, das Haus zu verlassen. So nun klage ich nur das Mißgeschick Ihrer Jahre und Ihrer Stellung an, nicht Sie. Geben Sie mir die Hand – ich habe Ihnen Schmerz verursacht; ich werde Ihnen noch mehr Schmerz verursachen müssen – es ist nicht zu ändern, aber – geben Sie Ihrer Freundin Marianne Halcombe erst die Hand!«

Diese plötzliche Güte, diese warme, hochherzige, furchtlose Theilnahme, mit der sie mir so barmherzigerweise auf dem Fuße der Gleichheit entgegen kam und welche mit so zarter, großmüthiger Offenheit gerade zu meinem Herzen, meiner Ehre, meinem Muthe sprachen, überwältigte mich einen Augenblick. Ich versuchte sie anzusehen, als sie meine Hand nahm, aber mein Blick war unklar. Ich versuchte, ihr zu danken, aber die Stimme versagte mir.«

»Hören Sie mich an,« sagte sie und wandte sich rücksichtsvoll ab, um nicht zu sehen, wie sehr ich meine Fassung verloren hatte. »Hören Sie mich an und lassen Sie uns gleich mit der Sache zu Ende kommen. Es ist mir eine wirkliche, wahre Erleichterung, daß ich in dem, was ich sagen muß, die Frage in Bezug auf gesellschaftliche Ungleichheit nicht zu berühren brauche. Umstände, welche Sie bis in’s Innerste verletzen werden, ersparen mir die bittere Nothwendigkeit, einem Manne, der in freundschaftlicher Vertraulichkeit mit mir gelebt hat, durch irgend eine demüthigende Hindeutung auf Dinge, die Rang und Stellung betreffen, noch mehr Schmerz zu machen. Sie müssen Limmeridge House verlassen, Mr. Hartright, ehe noch mehr Unglück geschieht. Es ist meine Pflicht, Ihnen das zu sagen, und es würde in ganz derselben ernsten Nothwendigkeit nicht minder meine Pflicht sein, es Ihnen zu sagen, wenn Sie auch der Repräsentant der ältesten und begütertsten Familie in England wären. Sie müssen uns verlassen, nicht weil Sie ein Zeichenlehrer sind –« sie hielt einen Augenblick inne; dann wandte sie ihr Gesicht gerade zu mir und legte, über den Tisch reichend, ihre Hand fest auf meinen Arm.

 

»Nicht, weil Sie ein Zeichenlehrer sind,« wiederholte sie, »sondern weil Laura Fairlie – verlobt ist.«

Das Wort fuhr mir wie eine Kugel durch das Herz. Mein Arm fühlte die Hand nicht mehr, welche ihn gefaßt hielt. Ich rührte mich nicht, ich sprach nicht. Der rauhe Herbstwind, welcher die trockenen Blätter zu unseren Füßen umherstreute, durchfuhr mich plötzlich so kalt, als ob meine tollen Hoffnungen ebenfalls vertrocknete Blätter gewesen wären, wie sie von dem Winde dahin geweht würden. Hoffnungen! Verlobt oder nicht – war sie nicht mir gleich fern? Hätten andere Männer an meiner Stelle daran gedacht? Nicht, wenn sie dieselbe geliebt hätten, wie ich sie liebte. –

Der heftige Schmerz war vorüber und ließ Nichts als ein dumpfes schweres Weh zurück. Ich fühlte wie Miß Halcombe’s Hand meinen Arm fester faßte –, ich erhob den Kopf und sah sie an. Ihre großen schwarzen Augen waren auf mich geheftet und beobachteten die Blässe meines Gesichtes, die ich fühlte und die sie sah.

»Ueberwinden Sie es!« sagte sie. »Hier, wo Sie sie zuerst sahen, auf der Stelle überwinden Sie es! Beben Sie nicht wie ein Weib davor zurück. Reißen Sie es sich aus der Brust und zertreten Sie es wie ein Mann!«

Die unterdrückte Heftigkeit, mit der sie sprach, die Kraft ihres Willens – die sich in dem Blicke, den sie auf mich heftete, und in dem Griffe ihrer Hand, welche sie noch nicht von meinem Arme fortgenommen, aussprach – theilten sich endlich mir mit und machten mich ruhiger. Wir warteten Beide einen Augenblick in Stillschweigen. Nach Verlauf desselben hatte ich ihr großmüthiges Vertrauen auf meine Mannhaftigkeit gerechtfertigt und wenigstens äußerlich meine Fassung wiedergewonnen.

»Haben Sie sich gefaßt?«

»Hinreichend gefaßt, Miß Halcombe, um Sie Beide um Vergebung zu bitten. Hinreichend, um mich von Ihrem Rathe leiten zu lassen und Ihnen dadurch meine Dankbarkeit zu beweisen, die ich Ihnen auf keine andere Art beweisen kann.«

»Sie haben sie schon mit diesen Worten bewiesen,« entgegnete sie. »Mr. Hartright, alle Verheimlichung ist zwischen uns zu Ende. Ich kann es nicht über mich gewinnen, gegen mein Gefühl Ihnen zu verbergen, was meine Schwester mir unbewußterweise verrathen hat. Sie müssen uns sowohl um meiner Schwester willen, als um Ihrer selbst willen verlassen. Ihre Anwesenheit hier, Ihre nothwendige Vertraulichkeit, so harmlos dieselbe in jeder anderen Hinsicht auch war, Gott weiß es, hat sie unruhig und elend gemacht. Ich, die ich sie mehr liebe als mein Leben – ich, die ich an ihre reine, edle unschuldige Natur glaube wie an meine Religion – kenne nur zu wohl das heimliche Elend, das sie durch ihre Selbstvorwürfe gelitten, seit der erste Schatten eines mit ihrer Verlobung unvereinbaren Gefühles sich gegen ihren Willen in ihr Herz schlich. Ich sage nicht – nach dem, was sich zugetragen, wäre es unnütz, dies zu sagen – daß ihre Verlobung jemals ihre ganze Zuneigung hatte. Es ist eine Sache der Ehre, nicht der Liebe – ihr Vater bestätigte sie vor zwei Jahren auf seinem Sterbelager – sie selbst wünschte sie weder, noch bebte sie davor zurück – sie war darein ergeben. Bis Sie hierher kamen, war sie in der Lage von Hunderten von anderen Frauen, die Männer heirateten, ohne sich besonders zu ihnen hingezogen oder von ihnen abgestoßen zu fühlen, und die anstatt vor der Heirat nach der Heirat sie lieben lernen (wenn sie dieselben nicht hassen lernen!). Ich hoffe inniger, als ich es mit Worten sagen kann – und Sie sollten den selbstverleugnenden Muth haben, dies ebenfalls zu hoffen – daß die neuen Gedanken und Gefühle, welche die alte Ruhe und Zufriedenheit unterbrochen haben, nicht zu tief Wurzel gefaßt haben mögen, um sich wieder ausreißen zu lassen. Ihre Abwesenheit (hätte ich weniger Glauben an Ihre Ehre, Ihren Muth und Ihr gutes Urtheil, so würde ich Ihnen nicht vertrauen, wie ich es jetzt thue) – Ihre Abwesenheit wird meine Bemühungen unterstützen, und die Zeit wird uns allen Dreien helfen.

Es ist immer schon etwas, zu wissen, daß mein Vertrauen zu Ihnen kein übel angebrachtes war; daß Sie nicht weniger redlich, weniger ehrenhaft, weniger rücksichtsvoll gegen die Schülerin sein werden, deren Stellung Sie das Unglück hatten zu vergessen, als gegen die Fremde, Unglückliche, die nicht umsonst Ihre Hilfe anrief.«

Noch einmal diese zufällige Anspielung auf die Frau in Weiß! War es denn unmöglich, von Miß Fairlie und von mir zu sprechen, ohne die Erinnerung an Anna Catherick hervorzurufen und sie zwischen uns zu stellen wie ein Verhängniß, dem nicht auszuweichen war?

»Sagen Sie mir, welche Entschuldigung ich Mr. Fairlie gegenüber machen kann, indem ich meinen Contract mit ihm breche,« sagte ich. »Sagen Sie mir, wann ich gehen soll, sobald sie angenommen ist. Ich verspreche, Ihnen und Ihrem Rathe unbedingt zu folgen.«

»Die Zeit ist in jeder Beziehung von Wichtigkeit,« entgegnete sie. »Sie hörten, wie ich heute Morgen vom nächsten Montag und der Notwendigkeit sprach, das dunkelblaue Zimmer herzurichten. Der Besuch, den wir am Montag erwarten –«

Ich konnte nicht warten, bis sie sich deutlicher ausdrückte. Nach dem, was ich jetzt wußte, sagten mir Miß Fairlie’s Blicke und Manieren beim Frühstück, daß der in Limmeridge House erwartete Gast ihr zukünftiger Gemahl sei. Ich versuchte es zu unterdrücken, aber es erhob sich in dem Augenblicke etwas in mir, das stärker war als mein Wille, und ich unterbrach Miß Halcombe.

»Lassen Sie mich schon heute gehen,« sagte ich bitter. »Je eher, desto besser.«

»Nein; nicht heute,« erwiderte sie. »Der einzige Grund, den Sie Mr. Fairlie für Ihre Abreise vor Ablauf Ihres Contractes angeben können, muß der sein, daß eine unvorhergesehene Notwendigkeit Sie zwingt, ihn um seine Erlaubniß zu bitten, sofort nach London zurückkehren zu dürfen. Sie müssen bis morgen warten, um ihm dies zur Zeit zu sagen, wo die Briefe ankommen, weil er dann diese plötzliche Veränderung Ihrer Pläne verstehen wird, indem er sie mit der Ankunft eines Briefes für Sie aus London in Beziehung bringt. Es ist jämmerlich und widerlich, sich zur Täuschung herablassen zu müssen, selbst wenn dieselbe von der harmlosesten Art ist; aber ich kenne Mr. Fairlie, und falls Sie einmal seinen Verdacht erregen, daß Sie keinen ernstlichen Grund haben, so wird er sich weigern, Sie fortzulassen. Sprechen Sie am Freitag Morgen mit ihm und beschäftigen Sie sich dann mit Ihrer Arbeit für Mr. Fairlie, um sie (um Ihres eigenen Interesses willen) in ihrem unvollendeten Zustande doch in möglichster Ordnung zurückzulassen, und verlassen Sie diesen Ort dann am Sonnabend. Es wird dann für Sie und für uns Alle noch Zeit genug sein, Mr. Hartright.«

Ehe ich ihr noch antworten konnte, daß sie sich darauf verlassen möge, daß ich unbedingt nach ihren Wünschen und Anordnungen handeln werde, wurden wir Beide durch herannahende Schritte aufmerksam gemacht. Es kam Jemand vom Hause her, um uns zu suchen. Ich fühlte, wie das Blut mir in die Wangen schoß und dann sie wieder verließ. Konnte die dritte Person, die zu solcher Zeit und unter solchen Umständen uns aufsuchte, Miß Fairlie sein?

Es war mir eine Erleichterung –, so traurig und so hoffnungslos war meine Stellung ihr gegenüber bereits geworden –, es war mir eine förmliche Erleichterung, als die Person, deren Schritte uns gestört hatten, am Eingange des Lusthäuschens stand und sich als Miß Fairlie’s Kammermädchen auswies.