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– Ein schönes Mädchen, Lecount, hörte sie ihn sagen. Sie wissen, ich bin ein Kenner in diesem Artikel, – ein schönes Mädchen!

Als diese Worte gesprochen wurden, blickte sich Hauptmann Wragge in plötzlicher Ueberraschung nach seiner Gefährtin um. Ihre Hand zitterte heftig auf seinem Arme, und ihre Lippen waren fest geschlossen mit dem Ausdruck eines unsäglichen Schmerzes.

Langsam und schweigend wandelten die Beiden dahin, bis sie das südliche Ende der Häuser erreichten und in eine kleine Wildniß von Ufersteinen und verdorrtem Grase, das öde Ende von Aldborough, der einsame Anfang von Slaughden, kamen.

Es war ein schwüler, windstiller Abend. Im Osten die graue Majestät des Meeres in athemloser Ruhe, der Saum des Horizonts unvermerkt in die eintönige nebelige Luft verschwimmend, und die Schiffe in Schatten gehüllt still und ruhig daliegend auf der gleichfalls ruhigen See. Im Süden hoben sich der hohe Rücken des Seedammes und das grimmig dräuende Gemäuer jenes Wartthurmes17 hoch empor auf seinem grasbewachsenen Unterbau und schlossen die Aussicht auf Alles, was dahinter lag, dunkel ab. Im Westen glühte ein düster funkelnder Streifen des Sonnenuntergangs in rothem Feuer an dem düster verhüllten Himmel, ließ die Bäume an den fernen Grenzen des großen binnenländischen Marschlandes dunkel und die kleinen glitzernden Wasserlachen als Blutlachen erscheinen. Näher dem Beschauer floß das träge Wasser des kleinen Flusses Alden geräuschlos aus seinem schlammigen Bette, und noch näher lag einsam und trübselig nach der bleichen Wasserseite hin der verlassene kleine Hafen von Slaughden mit seinen verlassenen Werften und Lagerhäusern. Von faulendem Holz und seinen wenigen verstreuten Küstenfahrzeugen, welche verlassen dalagen an dem schlammigen Flußufer. Kein Wellenschlag war hörbar am Gestade, kein Plätschern ließ sich von dem träge einherschleichenden Strome vernehmen. Dann und wann tönte der Schrei eines Seevogels aus der Gegend der Marsch herüber, und in Zwischenräumen drang von Pachthöfen fern in der Ebene des Binnenlandes das schwache Hörnerrufen der Hirten, um die Heerden heimzutreiben, traurig durch die Abendstille her.

Magdalene zog ihre Hand aus dem Arme des Hauptmanns und ging den Weg nach dem Erdaufwurfe des Wartthurmes.

– Ich bin müde vom Gehen, sagte sie. Lassen Sie uns hier Halt machen und ausruhen. Sie setzte sich auf den Abhang und stützte sich auf ihren Ellnbogen, rupfte gedankenlos die Grasbüschel aus, die sich unter ihrer Hand befanden und warf sie in die Luft.

Als sie einige Minuten damit hingebracht hatte, wandte sie sich plötzlich zu Hauptmann Wragge.

– Waren Sie von mir überrascht? fragte sie mit abgerissener Heftigkeit Finden Sie mich verändert?

Geleitet von dem richtigen Gefühl, das ihn stets begleitete, wußte nun der Hauptmann sogleich, daß die Zeit gekommen sei, wo er offen mit ihr zu reden und die Redeblumen für eine bessere Gelegenheit zu sparen hätte.

– Wenn Sie die Frage stellen, muß ich sie beantworten, erwiderte er. Ja, ich finde Sie verändert.

Sie rupfte wieder einen Grasbüschel aus.

– Sie werden hoffentlich den Grund errathen? fragte sie.

Der Hauptmann hütete sich wohlweislich, zu sprechen. Er antwortete nur mit einer Verbeugung.

– Ich habe alle Rücksicht auf mich selbst verloren, fuhr sie fort und riß rasch und immer rascher an den Grasbüscheln. Wenn ich Ihnen nur so viel sage, heißt das vielleicht nicht viel; aber es mag Ihnen dazu verhelfen, mich zu verstehen. Es giebt Dinge, welche ich zu einer gewissen Zeit nimmermehr gethan hätte, und hätte es mir das Leben gekostet, Dinge, an die nur zu denken mich schaudern gemacht hätte. Jetzt kümmert es mich nicht, ob ich sie thue oder nicht. Ich bin mir selbst Nichts mehr, ich habe für mich selbst nicht mehr Interesse, als für diese Hand voll Gras. Ich werde wohl Etwas eingebüßt haben was ist es? Das Herz? Das Gewissen? Ich weiß es nicht. Wissen Sie es? Welchen Unsinn spreche ich da! Wen geht es an, was ich verloren habe? Es ist vorbei damit, und dadurch ist es auch aus. Ich glaube, mein Aeußeres ist noch mein Bestes, und das bleibt mir um jeden Preis. Ich habe mein gutes Aussehen nicht verloren, nicht wahr? Richtig, richtig! Brauchen mir nicht zu antworten, sich nicht anzustrengen, mir Höflichkeiten zu sagen. Ich bin ja heute Gegenstand der Bewunderung gewesen. Zuerst für den Seemann und dann für Mr. Noël Vanstone – wahrlich genug für die Eitelkeit jedes weiblichen Wesens. Habe ich ein Recht, mich ein Weib zu nennen? Vielleicht nicht, ich bin noch ein Kind, das die Zähne bekommt. Ach weh mir, ich fühle, als wenn ich in den Vierzigen wäre!

Sie streute die letzten Grashalme in die Lüfte, wandte dann dem Hauptmanne den Rücken zu und ließ ihr Haupt sinken, bis ihre Wangen die Rasenbank berührten.

– Sie fühlt sich so sanft und lieb an, sagte sie, indem sie sich anschmiegte, mit einer verzweifelten Zärtlichkeit, die schrecklich anzusehen war. Sie wirft mich nicht von sich. O Mutter Erde, Du einzige Mutter, die mir übrig blieb!

Hauptmann Wragge schaute sie an in sprachlosem Erstaunen. Die Erfahrungen über das Menschenherz, die er besaß, waren nicht im Stande, die Tiefe der entsetzlichen Selbsterniedrigung zu ermessen, welche in jenen ungestümen Worten sich Luft gemacht hatte, Worte, welche sie nun schnell zu noch ungestümeren Thaten hintrieben.

– Verteufelt wunderlich! dachte er bei sich und wurde unruhig. Hat der Verlust ihres Geliebten ihr den Verstand geraubt?

Er bedachte sich noch eine Weile, und dann redete er sie an.

– Lassen sie Das bis morgen, schlug der Hauptmann Vertraulich vor. Sie sind heute Abend ein wenig abgespannt. Keine Uebereilung, mein theures Kind, keine Uebereilung!

Sie erhob ihr Haupt den Augenblick wieder und sah sich um mit derselben gereizten Entschlossenheit, mit derselben verzweifelten Selbstverachtung, welche er auf ihrem Gesicht an dem denkwürdigen Tage zu York gesehen hatte, wo sie zum ersten Male vor ihm Komödie spielte.

– Ich kam hierher, um Ihnen zu sagen, was ich im Sinne habe; sprechen Sie, und ich will es sagen!

Sie setzte sich wieder aufrecht auf den Abhang und sah, indem sie ihre Knie umklammern, unverwandt und gerade vor sich in die langsam sich verdunkelnde Landschaft hinaus.

In jener seltsamen Stellung blieb sie, bis sie sich gefaßt hatte, dann redete sie den Hauptmann folgendermaßen an, ohne den Kopf zu wenden, um sich nach ihm umzusehen:

– Als wir Beide uns zum ersten Male begegneten, begann sie in abgerissenen Tönen, bemühte ich mich mit aller Macht, meine Gedanken zu verbergen. Ich weiß seit dieser Zeit genug, um zu sehen, wie ich mich vergeblich bemühte. Als ich Ihnen zu York zum ersten Male sagte, daß Michael Vanstone uns zu Grunde gerichtet habe, ahnten Sie, glaube ich, selbst, daß ich zugleich entschlossen war, Dies nicht zu ertragen. Ob Sie es wirklich ahnten, ob nicht – es ist so. Ich verließ meine Freunde mit jenem Entschlusse in der Seele, und ich fühle ihn jetzt stärker, zehn Mal stärker als je in mir aufleben.

– Zehn Mal stärker als je, wiederholte der Hauptmann. Ganz richtig, die natürliche Folge der Festigkeit des Charakters.

– Nein. Die natürliche Folge davon, daß ich an nichts Anderes mehr zu denken habe. Ich hatte allerdings ein Mal noch an etwas Anderes zu denken, bevor Sie mich auf der Vauxhallpromenade erkrankt fanden. Jetzt habe ich an nichts Anderes zu denken. Vergessen Sie das nicht, damit Sie es wissen, wenn Sie mich mein Lied in Zukunft immer auf derselben Saite spielen hören. Zuerst eine Frage. Ahnten Sie, was ich zu thun vorhatte, an jenem Morgen, wo Sie mir die Zeitung zeigten und als ich die Nachricht von Michael Vanstones Tod las?

– Im Allgemeinen, versetzte Hauptmann Wragge, ahnte ich so Etwas, im Allgemeinen, daß Sie vorhätten, Ihre Hand in seinen Beutel zu stecken und wie es ganz in der Ordnung wäre – sich daraus zu nehmen, was Ihr Eigenthum wäre. Ich fühlte mich damals tief verletzt dadurch, daß Sie mir nicht erlaubten, Ihnen Beistand zu leisten. Warum ist sie so zurückhaltend gegen mich, dachte ich bei mir selbst; warum ist sie so ohne allen Grund zurückhaltend?

– Sie sollen sich von jetzt an nicht mehr über Zurückhaltung zu beklagen haben, fuhr Magdalene fort. Ich sage es Ihnen offen, wenn die Ereignisse nicht so gekommen wären, wie sie gekommen sind, so würden Sie mir allerdings Beistand geleistet haben. Wenn Michael Vanstone nicht gestorben wäre, so würde ich nach Brighton gegangen sein und unter einem angenommenen Namen sicher meinen Weg, um mit ihm bekannt zu werden, gefunden haben. Ich hatte Geld genug bei mir, um einige Monate mit Ihnen recht anständig leben zu können. Ich würde diese Zeit angewandt, ich würde, wenn nöthig, ein ganzes Jahr gewartet haben, um Mrs. Lecounts Einfluß auf ihn zunichte zu machen, und ich würde endlich diesen Einfluß auf meine Art in meine Hände bekommen haben. Ich hatte den Vortheil des Alters voraus, den Vortheil der Neuheit, den Vortheil unentwegbarer Verzweiflung für mich, und ich würde gesiegt haben. Ehe das Jahr zu Ende gewesen, ehe das Halbjahr verflossen wäre, würden Sie Mrs. Lecount von ihrem Herrn entlassen gesehen haben, würden Sie erlebt haben, wie ich ins Haus aufgenommen worden wäre an ihrer Stelle, als Michael Vanstones angenommene Tochter, als die treue Freundin, welche ihn in seinen alten Tagen Vor einer Abenteuerin bewahrt hätte. Es haben Mädchen, die auch nicht älter waren als ich, anscheinend eben so verwegene Täuschungen versucht und sie bis zuletzt durchgeführt. Ich hatte meine Geschichte in Bereitschaft, hatte alle meine Pläne wohl erwogen; ich wollte auf meine Art die schwache Seite des alten Mannes angreifen, welche Mrs. Lecount schon vor mir für ihre Angriffe ausfindig gemacht hatte – und ich sage Ihnen nochmals, ich würde meinen Zweck erreicht haben.

 

– Ich denke Das auch, sagte der Hauptmann. Und wie weiter?

– Mr. Michael Vanstone würde dann seinen Geschäftsführer gewechselt haben. Sie würden dessen Stelle eingenommen haben, und jene kühnen Speculationen, denen er sich so leidenschaftlich hingab, würden ihn um das Vermögen gebracht haben, das er erst meiner Schwester und mir geraubt hatte. Bis aus den letzten Heller, Hauptmann Wragge, so gewiß als Sie hier sitzen, bis auf den letzten Heller! Eine kühne Verschwörung, eine gewaltige Umgarnung, nicht wahr? Das kümmert mich wenig! Jede Verschwörung, jede Täuschung ist vor meinem Gewissen gerechtfertigt durch das elende Gesetz, das uns schutzlos gelassen hat. Sie sprachen eben noch von meiner Zurückhaltung. Habe ich die endlich abgeworfen? Habe ich mich endlich in der elften Stunde ausgesprochen?

Der Hauptmann legte seine Hand feierlich aufs Herz und ließ abermals einen seiner breitesten Redeergüsse los.

– Sie erfüllen mein Herz mit unnützem Bedauern, sagte er. Wenn der Mann gelebt hätte, welch eine Ernte würde ich da von ihm gezogen haben! Welche ungeheuren Geschäfte in der »moralischen Landwirthschaft« würden mir da vergönnt gewesen sein als moderner Industrieritter hier zu machen! »Ars longa« sagte Hauptmann Wragge, mit Pathos einen gelehrten Anlauf nehmend, »vita brevis!«18. Lassen Sie uns eine Thräne weinen über die verpaßte Gelegenheit in der Vergangenheit und versuchen, was für Trost die Gegenwart uns bieten kann. Eine Folgerung steht mir klar Vor der Seele. Der Versuch, den Sie mit Mr. Michael Vanstone machen wollten, ist ganz ohne Aussicht, mein gutes Kind, in der Anwendung auf dessen Sohn. Sein Sohn ist unzugänglich für alle und jede Form der Verlockung mit Geld. Sie können sich auf mein heiliges Wort verlassen, fuhr der Hauptmann in der Erinnerung an die Antwort auf seine Anzeige in der »Times« zornig fort, wenn ich Ihnen mittheile, daß Mr. Noël Vanstone gerade heraus gesagt die gemeinste Geldseele der Christenheit ist.

– Ich kann mich auf meine eigene Erfahrung eben so gut verlassen, sagte Magdalene; ich habe ihn gesehen und mit ihm gesprochen, ich kenne ihn besser als Sie. Noch eine Enthüllung, Hauptmann Wragge, für Sie ganz besonders! Ich schickte Ihnen gewisse Kleidungsstücke zurück, nachdem sie den Dienst geleistet, um deswillen ich sie nach London mitgenommen hatte. Mein Vorhaben war, mir verkleidet Zutritt zu Noël Vanstone zu verschaffen und mit eigenen Augen Mrs. Lecount und ihren Herrn anzusehen. Ich habe meinen Zweck erreicht und sage Ihnen noch ein Mal, ich kenne die beiden Leute in dem Hause drüben, mit denen ich zu thun hatte, besser als Sie.

Hauptmann Wragge drückte das höchliche Erstaunen aus und that die unschuldigen Fragen, welche ungefähr der Gemüthsverfassung einer völlig überraschten Person entsprachen.

– Gut, begann er, als Magdalene ihm kurz geantwortet hatte, und welches ist der Eindruck auf Ihr Gemüth? Es muß doch ein Eindruck erfolgt sein, sonst wären wir nicht hier. Sie wissen Ihren Weg? Beiläufig, liebes Kind, wissen Sie wirklich Ihren Weg?

– Ja, versetzte sie rasch; ich weiß meinen Weg.

Der Hauptmann rückte ein wenig näher an sie heran mit gespannter Neugier in jedem Zuge seines Vagabundengesichts.

– Fahren Sie fort, flüsterte er mit ersichtlicher Spannung. Ich bitte Sie, fahren sie fort.

Sie schaute gedankenvoll in die sie umhüllende Finsterniß, ohne zu antworten, ohne dem Anscheine nach ihn gehört zu haben. Ihre Lippen schlossen sich fest zusammen, und ihre geschlungenen Hände klammerten sich unwillkürlich fester um ihre Sehne.

– Die Thatsache läßt sich nun einmal nicht hinwegleugnen, sagte Hauptmann Wragge, indem er sie vorsichtig zum Sprechen reizen wollte, – der Sohn ist schwieriger zu behandeln, denn der Vater . . .

– Nicht aus meine Art und Weise, unterbrach sie ihn plötzlich.

– Wirklich? meinte der Hauptmann. Gut! Man sagt, es giebt einen nächsten Weg für jedes Ding, wenn wir nur lange genug suchen, ihn zu finden. Sie haben, glaube ich, lange genug gesucht, und die natürliche Folge davon ergiebt sich von selbst – Sie haben ihn gefunden.

– Ich habe mir keine Mühe gegeben, ihn zu suchen; ich habe ihn, ohne zu suchen, gefunden.

– Da haben Sie ja den Trumpf getroffen! schrie Hauptmann Wragge in großer Verwirrung. Liebes Kind, führt mich denn meine Ansicht von Ihrer gegenwärtigen Lage aber auch immer und ewig auf den Holzweg? Wenn ich recht verstehe, so ist da Mr. Noël Vanstone im Besitze von Ihrem und Ihrer Schwester Vermögen, wie sein Vater – und ist entschlossen, es festzuhalten, gerade wie sein Vater?

– Allerdings.

– Und da sind Sie vollständig außer Stande, es durch gute Worte zu bekommen; vollständig außer Stande, es auf dem gerichtlichen Wege zu erhalten, – und Sie wären wirklich ihm gegenüber eben so fest entschlossen, als Sie seinem Vater gegenüber waren, es wider seinen Willen durch List zu gewinnen?

– Eben so fest entschlossen? Nicht um des Geldes wegen, wohl zu bemerken! Um des Rechtes wegen.

– Gut also. Und die Mittel, um zu diesem Ihren Rechte zu gelangen, welche bei dem Vater, der nicht ein Geizhals war, schwierig waren, wären bei dem Sohne, welcher allerdings ein solcher ist, leicht für Sie?

– Aeußerst leicht.

– Geben Sie mir es schriftlich, daß ich ein Esel bin, zum ersten Male! schrie des Hauptmann, dem die Geduld riß. Lassen Sie mich hängen, wenn ich weiß, was Sie wollen!

Sie sah sich nach ihm zum ersten Male wieder um und blickte ihm gerade und fest ins Angesicht.

– Ich will Ihnen sagen, was ich vorhabe, sprach sie. Ich habe vor, ihn zu heirathen —.

Hauptmann Wragge fuhr in die Höhe und blieb versteinert vor Erstaunen stehen.

– Merken Sie auf, was ich Ihnen sagte, sprach Magdalene, indem sie wieder wegsah. Ich habe alle Rücksicht auf mich selbst verloren. Ich habe jetzt nur noch einen Zweck im Leben, und je eher ich denselben erreiche und – sterbe, desto besser. Wenn . . .

Sie hielt inne, änderte ihre Stellung ein wenig und deutete mit der einen Hand auf den schnell abfließenden Strom unterhalb ihrer Füße, welcher düster in dem dunkelnden Zwielicht schimmerte.

– Wenn ich noch gewesen wäre, was ich einstens war, so würde ich mich in jenen Fluß gestürzt haben, ehe ich gethan hätte, was ich jetzt zu thun vorhabe. Wie es jetzt steht, kümmert es mich nicht mehr; ich plage meine Seele nicht mehr mit Bedenklichkeiten. Der nächste Weg, der schlimme Weg liegt vor mir. Den schlage ich ein, Hauptmann Wragge, und heirathe ihn.

– und wollen Ihn gänzlich in Unwissenheit erhalten, wer Sie sind? sagte der Hauptmann, erhob sich langsam auf die Füße und wandte sich langsam um, ihr ins Gesicht zu sehen. Wollen ihn heirathen als meine Nichte – Miss Bygrave?

– Als Ihre Nichte, Miss Bygrave.

– Und nach der Vermählung —?

Seine Stimme zitterte, als er die Frage begann, und er ließ sie unvollendet.

– Nach der Vermählung, sagte sie, brauche ich Ihren Beistand nicht mehr.

Der Hauptmann verneigte sich, als sie ihm jene Antwort gab, sah sie scharf an und fuhr dann plötzlich zurück, ohne ein Wort vorbringen zu können. Er ging einige Schritte hinweg und setzte sich dann mürrisch aufs Gras nieder. Wenn Magdalene sein Gesicht gesehen hätte bei dem schwindenden Lichte, so würde sie dasselbe betroffen gemacht haben; Zum ersten Male vielleicht seit seiner Knabenzeit hatte Hauptmann Wragge die Farbe gewechselt. Er war todtenbleich.

– Haben Sie mir Nichts zu sagen? fragte sie. Vielleicht warten Sie darauf, zu hören, welche Bedingungen ich Ihnen zu bieten habe? Meine Bedingungen sind folgende: Ich zahle alle Auslagen hier und, wenn wir uns trennen, am Tage der Vermählung, erhalten Sie eine Abschiedsschenkung von zweihundert Pfund mit auf den Weg. Versprechen Sie mir Ihren Beistand unter diesen Bedingungen?

– Was soll ich dabei thun? fragte er mit einem verstohlenen Blicke auf sie und einem plötzlichen Mißtrauen in seiner Stimme.

– Sie sollen meinen und Ihren angenommenen Charakter bewahren, antwortete sie, und müssen alle Nachforschungen von Mrs. Lecount nach meinem wirklichen Namen vereiteln. Mehr verlange ich nicht. Für das Uebrige bin ich verantwortlich, nicht Sie.

– Ich habe also Nichts zu schaffen mit Dem, was vorfällt – zu irgend einer Zeit oder an einem Orte, nach der Vermählung?

– Nicht das Geringste.

– Ich kann Sie an der Kirchthüre verlassen, wenn mirs beliebt?

– An der Kirchthüre mit Ihrem Solde in der Tasche.

– Bezahlt von dem Gelde, das Sie selbst besitzen?

– Natürlich; womit sollte ich sonst bezahlen?

Hauptmann Wragge nahm seinen Hut ab und fuhr sich mit dem Taschentuche übers Gesicht mit erheiterter Miene.

– Geben Sie mir einen Augenblick Zeit zur Ueberlegung, sagte er.

– So lange Sie wollen, versetzte sie, indem sie auf der Bank in ihre frühere Stellung zurücksank und zu ihrer früheren Beschäftigung zurückkehrte: wieder Grasbüschel herauszog und in die Luft warf.

Die Betrachtungen des Hauptmanns waren keineswegs dadurch verwickelt, daß sie von der Erwägung seiner eigenen Lage unnöthig abgeschweift wären zur Erwägung der Lage Magdalenens. Ganz unfähig, das ihr durch Franks ehrlosen Wortbruch widerfahrene Unrecht zu würdigen, – ein Unrecht, das ihr mit einem einzigen herben Schlage die Hoffnung geraubt hatte, welche, obschon nur ein schöner Wahn, doch die treibende Kraft ihres Lebens gewesen war, – nahm der Hauptmann die einfache Thatsache ihrer Verzweiflung gerade so hin, wie er sie fand, und sah dann geraden Wegs auf die Folgen des Vorschlags hin, den sie ihm gemacht hatte.

In der Aussicht vor der Verheirathung sah er weiter nichts Verfängliches, als die Ausführung einer Täuschung welche in nicht erheblicher Weise, es sei denn etwa in Absicht des dadurch erreichten Zweckes, verschieden war von den Täuschungen, welche sein Vagabundenleben ihn schon längst auszudenken und auszuführen gewöhnt hatte. In der Aussicht nach der Verheirathung entdeckte er durch das unheilverkündende Dunkel der Zukunft in düsteren Umrissen die lauernden Schreckbilden Entsetzen und Verbrechen, und dahinter die schwarzen Abgründe: Untergang und Tod. Ein Mann von unbegrenzter Kühnheit und Gewandtheit in seinem geringen, beschränkten Kreise, war der Hauptmann über diesen Kreis hinaus eben so demüthig und unterwürfig gegen die Majestät des Gesetzes, als der harmloseste Staatsbürger auf Erden, so vorsichtig betreffs seiner eigenen persönlichen Sicherheit, als der ausgemachteste Feigling, den je die Sonne beschien. Aber eine ernste Frage erfüllte jetzt sein Gemüth. Konnte er unter den ihm gebotenen Bedingungen an dem gegen Noël Vanstone angesponnenen Anschlage bis zu dem Punkte der Vollziehung der Ehe Theilnehmen und sich dann davon machen, ohne Gefahr, sich in die Folgen zu verwickeln, welche, wie seine Erfahrung ihm lehrte, sich daraus mit Gewißheit ergeben mußten?

So seltsam es auch klingen mag, sein Entschluß bei diesem Schritte wurde hauptsächlich durch keine geringere Person denn Mr. Noël Vanstone selbst beeinflußt. Der Hauptmann hätte vielleicht dem Gelderbieten widerstanden, das Magdalene ihm that; denn der Gewinn der »Unterhaltung« hatte seine Taschen mit dem mehr denn dreifachen Betrage der zweihundert Pfund gefüllt. Aber die Aussicht, im Finstern dem Manne einen Schlag zu versetzen, der seine Mittheilung und ihn selbst im Werthe einer Fünfpfundnote geschätzt hatte, erwies sich stärker als seine Vorsicht und seine Selbstbeherrschung.

Auf dem kleinen neutralen Boden der Selbstabschätzung sind die besten und die schlechtesten Männer einander gleich. Hauptmann Wragges Unwillen, als er die Antwort auf seine Mittheilung sah, wurde nicht etwa gemildert durch einen Rückblick auf seine eigene Führung. Er war so tödtlich verletzt, so gründlich aufgeregt, als wenn er ein ganz ehrenwerthes Anerbieten gemacht und nun zum Dank eine persönliche Beleidigung dafür erhalten hätte. Er war von diesem Groll zu sehr erfüllt gewesen, als daß er ihn aus seinem ersten Briefe an Magdalene hätte weglassen können. Er hatte sich bei jeder folgenden Gelegenheit, wenn Noël Vanstones Name genannt worden war, mehr oder weniger vergessen. Und jetzt bei der endlichen Entscheidung über den Weg, den er einschlagen sollte, stand das Motiv des Geldgewinnes – man sagt damit nicht zu viel – zum ersten Male in seinem Leben in zweiter Linie, und das Motiv der Bosheit trug den Sieg davon.

 

– Ich nehme die Bedingungen an, sagte Hauptmann Wragge, indem er sich flink auf seine Beine erhob, unterwerfe mich auch natürlich den zwischen uns vereinbarten Verabredungen. Wir trennen uns am Hochzeitstage. Ich frage nicht, wohin Sie gehen, Sie fragen nicht, wohin ich gehe. Von jener Zeit an sind wir geschiedene Leute.

Magdalene erhob sich langsam von dem Rasenabhange. Eine verzweiflungsvolle Niedergeschlagenheit, eine trübe Verzagtheit zeigte sich in Blick und Wesen. Sie wies die dargebotene Hand des Hauptmanns zurück, und ihre Stimme, als Sie ihm antwortete, war so leise, daß er sie kaum verstehen konnte.

– Wir sind einverstanden, sagte sie; – und nun können wir zurückgehen. Sie können; mich morgen Mrs. Lecount vorstellen.

– Ich muß erst noch einige Fragen thun, sagte der Hauptmann mit wichtiger Miene. Es sind mehr Gefahren in dieser Angelegenheit zu bestehen und mehr Fallstricke auf unserm Wege, als Sie zu vermuthen scheinen. Ich muß die ganze Geschichte Ihres Frühbesuches bei Mrs. Lecount wissen, bevor ich Sie und jene Frau mit einander ins Gespräch bringen kann.

– Warten Sie bis morgen, brach sie ungeduldig heraus. Machen Sie mich heute Abend nicht toll durch Fragen darüber.

Der Hauptmann sagte Nichts weiter. Sie kehrten nach Aldborough um und gingen langsam heim.

Während der Zeit, daß sie die Häuser erreichten, hatte die Nacht sie überrascht. Weder Mond noch Sterne waren sichtbar. Eine schwache geräuschlose Brise, die vom Lande her wehte, hatte sich mit einbrechender Dunkelheit erhoben. Magdalene hielt auf der, einsamen Promenade inne, Um die Luft freier einzuathmen. Nach einiger Zeit wandte sie ihr Gesicht von der Brise weg und schaute nach dem Meere hinüber. Das unermeßliche Schweigen der ruhigen Gewässer, welche sich in der schwarzen Leere der Nacht verloren, war, erhaben. Sie stand» still und blickte in das Dunkel, als wenn seine Geheimnisse für sie erschlossen wären; sie ging langsam darauf zu, als wenn sie durch Unsichtbare Mächte hineingezogen würde.

– Ich gehe ein Mal zur See hinunter, sagte sie zu ihrem Gefährten. Warten Sie hier, ich werde zurückkommen.

Er verlor sie in einem Augenblicke aus dem Gesichte; es war, als ob die Nacht sie verschlungen hätte. Er lauschte, zählte ihre Schritte nach dem Rascheln derselben auf dem Steingerölle in der tiefen Stille. Sie entfernten sich langsam weiter und weiter hinaus in die Nacht. Plötzlich hörte der Klang derselben auf. Ruhte sie jetzt auf ihrem Wege aus, oder hatte sie einen der Sandstreifen erreicht, welche von der Ebbe unbedeckt gelassen waren?

Er wartete und lauschte ängstlich. Die Zeit verging, und kein Ton drang zu ihm her. Er lauschte mit wachsendem Mißtrauen wegen der Finsterniß. Einen Augenblick später, und es kam ein Ton von dem unsichtbaren Ufer herauf. Schwach und fern von dem Gestade drunten schallte ein langer Schrei klagend durch die Stille. Dann war Alles wieder still.

In plötzlicher Unruhe schritt er vorwärts, um zu dem Ufer hinabzusteigen und sie zu holen. Ehe er über den Weg gehen konnte, drangen plötzlich eilende Schritte an sein Ohr. Er wartete einen Augenblick – da ging plötzlich die Gestalt eines Mannes rasch des Weges entlang zwischen ihm und der See. Es war zu dunkel, um etwas vom Gesichte des Fremden zu schauen, es war nur möglich, zu erkennen, daß es ein großer Mann war, so groß wie jener Seemann von der Handelsflotte, dessen Name Kirke war.

Die Gestalt ging nordwärts und war augenblicklich dem Gesichte entschwunden. Hauptmann Wragge ging über den Weg, that einige Schritte das Gestade hinunter, blieb stehen und lauschte wieder. Das Geräusch von Schritten auf den Steinen traf abermals sein Ohr. – Langsam wie der Ton ihn verlassen hatte, kam derselbe auch wieder zurück. Er rief, um sie zu sich zu lenken. Sie kam heran, bis er sie erkennen konnte – ein Schatten, der den steinigen Hang hinanstieg und in der Dunkelheit der Nacht riesig wuchs.

– Sie machen mir Angst, flüsterte er mit bewegter Stimme; ich fürchtete schon, es wäre Ihnen ein Leid zugegoßen. Ich hörte Sie aufschreien, als wenn Sie Schmerzen hätten.

– Wirklich? sagte sie gleichgültig. Ich hatte allerdings Schmerzen. Es thut Nichts, – es ist nun vorüber.

Ihre Hand schwenkte Etwas hin und her, als sie mit ihm sprach. Es war das kleine seidene Täschchen, welches sie immer bis zu dieser Zeit auf ihrem Busen verborgen getragen hatte. Eine von den in ihm enthaltenen Reliquien, die Reliquie, von welcher sie vorher nicht den Muth gehabt hatte, sich zu trennen, war daraus für immer fort. Einsam an einem fremden Gestade hatte sie von sich gerissen das geliebteste ihrer Mädchenangedenken, die theuerste ihrer jungfräulichen Hoffnungen. Allein an einem fremden Gestade hatte sie die Locken von Franks Haar von ihrem einst so heiligen Platze genommen und hatte sie von sich geschleudert, hinaus in die See und das Dunkel! —

17Wartthurm, im Original steht martello. So hießen an den Küsten des Mittelmeeres die gegen die Einfälle der Seeräuber errichteten Wachthürme, von denen in Nothzeiten wohl die Lärmglocke ertönte oder Feuersignale gegeben wurden. Zu Anfang dieses Jahrhunderts hat man auch die an den englischen Küsten gegen etwaige feindliche Landungen der Franzosen erbauten Thürme so genannt. W.
18Lang ist die Kunst, kurz das Leben. W.