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Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Er knitterte das Papier zusammen, stand hastig auf und wischte die Tränen mit seiner Hand weg. Als er dies tat, fühlte er eine sonderbare Furcht und ein Misstrauen gegen sich selbst. Es war selten, sehr selten, dass seine Augen so feucht waren, wie jetzt. Wenige menschliche Wesen waren zwanzig Jahre alt geworden, ohne mehr Tränen vergossen zu haben, als Zack je vergossen hatte.

»Ich kann nicht an sie schreiben, so lange ich noch zu Hause bin und weiß, dass sie sich im nächsten Zimmer befindet. Ich will ihr einen Brief schicken, wenn ich aus dem Hause bin, und will sagen, dass es nur auf eine kurze Zeit ist und dass ich zurückkommen will, sobald der Zorn über diese höllische Angelegenheit sich gelegt hat.« Dies war sein Entschluss, als er das zusammengeknitterte Papier zerriss und schnell in den Gang trat.

Er nahm seinen Hut vom Tische. Seinen Hut? Nein, er erinnerte sich, dass es der Hut war, der dem Manne von dem Vergnügungsorte abgenommen worden war. In dem wichtigsten Augenblicke seines Lebens – als sein Herz sich vor dem Gedanken an seine Mutter beugte – als er die Heimat heimlich, vielleicht auf immer verließ – konnte der Strom seiner Gedanken in seinem Laufe durch den geringen Einfluss einer solchen Kleinigkeit, wie diese, unbegreiflicher Weise gehemmt und abgeändert werden.

So war es bei ihm, so ist es mit uns allen. Unser Geist ist niemals vollständiger den kleinsten Interessen unseres Wesens preisgegeben, als wenn er von den mächtigsten am meisten in Anspruch genommen zu sein scheint. Und es ist oft gut für uns, dass diese scheinende Unvollkommenheit in unserer Natur vorhanden ist. Die erste Linderung eines Kummers nach der Scheidestunde oder im Trauerhause hat, für uns selbst unmerklich, mit dem ersten Augenblick angefangen, wenn wir veranlasst wurden, an eine Kleinigkeit wie z. B. die tägliche Mahlzeit zu denken.

Der Regen, welcher mit dem Tauwetter kam, wurde immer heftiger; im Hause herrschte eine Totenstille und draußen eine neblige Öde, als Zack die Straßentür öffnete und, ohne einen Augenblick zu zögern, sich verzweifelt über Kot und Nässe rasch hinausstürzte um sich vogelfrei in die voll gedrängte Welt Londons als ein Flüchtling vor seiner eigenen Heimat zu verlieren.

Sein erster Gedanke, der sonderbaren Richtung gehorchend, welche ihm der Zufall gegeben hatte, war ganz damit beschäftigt, das beste Mittel zu ersinnen, wie er den Hut dem Manne zurückschicken könnte, dem er abgenommen worden war. Ein Plan hierzu wurde bald von ihm ersonnen, und dann kehrte sein Geist noch einmal von selbst zu den Gedanken zurück, welche ihn erfüllt hatten, als er vergebens an seine Mutter einen Abschiedsbrief zu schreiben versuchte. Ehe er Baregrove-Square verließ, blickte er noch einmal nach dem väterlichen Hause zurück.

Er hielt an; die Erinnerungen von vergangenen Wochen, Monaten und Jahren wirbelten alle in wenigen Augenblicken durch sein Gedächtnis. Er hielt an, blickte durch die feuchte, neblige Atmosphäre nach der Tür, welche er soeben verlassen hatte, um sie vielleicht niemals wieder zu sehen; dann eilte er davon, knöpfte seinen Rock mit zitterndem ungeduldigen Fingern über seiner Brust zu, sagte zu sich selbst: »Ich habe es getan und nichts kann es jetzt ungeschehen machen«, und wandte entschlossen Baregrove-Square den Rücken.

Viertes Kapitel – Mr. Marksmans ländlicher Ausflug

Kirk Street, Wendover Market, ist nicht eben der Platz, den sich reiche Gentleman nach ihrer Rückkehr ins Vaterland zur Wohnung wählen, nachdem sie die Welt durchreist haben. Die ganze Gegend ist dicht bevölkert, aber in keiner Hinsicht respektabel. Die Straße stellt eine vagabundierende Lebendigkeit der verschiedensten Charaktere dar, meistens von der belästigenden Sorte, welche das größte Geräusch macht. Auf der Türschwelle eines Wachholderschnapsladens stehen die lärmenden Männer in Barchentjacken und Seehundsfellkappen.

Hier erschallt ein Gassenlied, dort leiert eine Drehorgel und dazwischen kreischen die Stimmen der Obsthändler, und dies schauderhafte Geräusch beginnt am frühesten Morgen und dauert ununterbrochen bis in die späte Nacht hinein. Dort vor dem Fleischerladen kaut der Metzger einige übrig gebliebene Bissen und zeigt dabei mit triumphierender Miene auf die schönen fetten Fleischstücke, welche um ihn herum hängen, dann schwingt er seine glänzende Stahlklinge und ruft jedem korbtragenden Frauenzimmer zu, in seinen Laden zu treten und nur bei ihm zu kaufen. Jetzt rasselt ein Eselsgeschirr daher, auf dessen Sitze ein Gemüsehändler thront und mit überlauter Stimme den Preiscourant seiner Esswaren proklamiert; dieser Mann ist eine der mächtigsten Handelsstützen seines Vaterlandes. Und unter diesem bunten Gewühl und Wirrwarr hört man sehr oft jene Schmutzausdrücke und unanständigen Worte, welche der Schriftsteller nur durch Gedankenstriche andeutet.

Bei diesen Umständen mussten stets die stärksten Männer zur nächtlichen Polizeiwache beordert werden, welche die ehrbare Bevölkerung zu beschützen und die Trunkenbolde zu bereden vermochten, sich ruhig nach ihrer Schlafkajüte zu verfügen.

Dies war der Platz, auf welchem sich Mr. Matthias Marksman seine Wohnung gewählt, nachdem er zwanzig Jahre unter den Wilden Amerikas herum gewandert war.

Nach seiner Ankunft in London beobachtete er die zivilisierte Gesellschaft, um zu sehen, wie sich das zivilisierte Leben nach seiner langen Abwesenheit gestaltet hatte; aber er fand es in den fashionablen reichen Kreisen ganz ohne Interesse und Charakter, es erschien ihm unausstehlich dumm und langweilig.

Herabsteigend zu den Armen und das Volksleben betrachtend, entdeckte er wenigstens etwas, das ihm der Beobachtung wert schien.

Der Kampf des Lebens mit allen Herrlichkeiten und Nichtswürdigkeiten in täglichem Konflikt manifestierte sich hier in voller Darstellung, – unverhüllt durch den Schleier der Konventionalität und kaum verdeckt durch etwas Schicklichkeitsgefühl zeigten sich die niedrigsten Lebensakte in ungeschminkter Blässe. Es konnten wohl nur wenige Schaubühnen des Lebens ausgesucht werden, auf denen sich die niedrigen Erdenwirrsale freier darstellen, als in Kirk Street. Demzufolge befand sich auch Mr. Marksman aus Sympathie bewogen, bei seiner vagabundierenden Durchfahrt hier ein wenig zu rasten, denn er hatte wirklich etwas Vagabundierendes in seinem Charakter. Eintretend in das erste Haus, dessen Fenster ihn belehrten, dass ihre Zimmer zu vermieten seien, legte er endlich seinen Wanderstab nieder und nahm das Vorder- und Hinterzimmer der ersten Etage vorläufig für eine Woche in Besitz.

Niemals waren wohl solch merkwürdige Bedingungen gemacht worden, als sie Mr. Marksman mit seinem Hauswirt beim Mieten festgesetzt hatte. Jede häusliche, durch sorgfältige Bedienung erlangte Bequemlichkeit hielt er für überflüssig, und die Domestiken betrachtete er als eine sehr belästigende Spezies, welche er durchaus nicht um sich herum haben wollte. Er stipulierte daher, dass keiner Person erlaubt sein sollte, seine Zimmer zu reinigen, da er dies selbst besorgen werde; niemals solle sich eine Aufwärterin unterstehen, sein Bett zu machen oder auch nur zu überziehen oder ihm Essen zu bringen. Auch behielt er sich vor, zu jeder Zeit ausgehen und Tage und Nächte ausbleiben zu können, ohne dass weder der Hauswirt noch die Hauswirtin berechtigt sein sollten, ihn darüber zu befragen, so lange er seine Miete richtig bezahle. Dabei setzte er fest, dass er den Mietbetrag für jede Woche vorausbezahlen wolle, so lange er das Logis inne habe und versprach zugleich, die Dienerschaft gelegentlich zu belohnen, wenn sie sich feierlich verpflichte, ihn niemals durch Dienste oder auch nur durch Dienstanerbietungen stören zu wollen.

Der Hauseigentümer und Besitzer eines Tabakladens war über diese vorgeschlagenen Bedingungen zuerst ganz erstaunt, ja wahrhaft bestürzt und hegte das größte Misstrauen gegen den Mieter. Da er sich aber in misslichen Geldverhältnissen befand, so imponierte ihn schon der große goldene Ring an der Hand des Mieters, und als dieser gar eine Handvoll glänzender Sovereigns (englische Goldmünze – 6 Thlr. 20 Sgr.) hinwarf, wurden ihm alle seine Sonderbarkeiten verziehen und der Mietscontract abgeschlossen. Mr. Marksman ging nun fort, um sein Gepäck zu holen.

In kurzer Zeit kehrte er wieder zurück mit einem großen Kornsack auf dem Rücken und einer langen Rifle (gezogenes Gewehr) in der Hand. Diese beiden Gegenstände waren sein ganzes Gepäck.

Zuerst stellte er sein Gewehr hinter das Bett im Hinterzimmer, dann räumte er alle kleinen Schmucksachen weg, mit denen das andere Zimmer dekoriert war, schob die drei Stühle in eine Ecke, klappte den runden Tisch auf und postierte ihn in eine andere Ecke. Jetzt knüpfte er den Kornsack auf, nahm ihn auf die Schulter und schüttete den ganzen Inhalt mitten ins Zimmer, als wären es Steinkohlen. Unter den verschiedenen Gegenständen, welche herausfielen, befanden sich einige Kalmuckröcke, eine Pfeife, ein sorgfältig verpacktes schönes Büffelfell, zwei rote Flanellhemden, ein Tabaksbeutel, eine Indianerdecke, ein lederner Sack, ein Pulverhorn, zwei viereckige Stücken gelber Seife, eine Kugelform, eine Nachtmütze, eine Tüte voll Nägel, eine Scheuerbürste, ein Hammer, ein alter Bratrost und sogar eine indianische Streitaxt. Nach Entleerung des Sackes nahm Mister Marksman sein Büffelfell, breitete es über sein Bett aus und lachte dabei recht höhnisch über die geflickte Steppdecke und die schlechten Vorhänge. Dann legte er den leeren Sack in eine Ecke, darauf die Kalmuckröcke und hing die lederne Tasche an zwei in der Wand befindliche Haken. Hierauf nahm er seine Pfeife zur Hand, ließ alle andern Gegenstände mitten in der Stube liegen und setzte sich auf die Kalmuckröcke, mit dem Rücken sich an die hinter ihm hängende Ledertasche anlehnend. Dem eintretenden erstaunten Hauswirt versicherte er, dass er nun ganz bequem und behaglich eingerichtet sei und er ihm sehr danken würde, wenn er sogleich in den Laden eile und ihm ein Pfund Tabak von der stärksten und besten Sorte seines Vorrats herauf sende.

 

In dieser Art und Weise vollbrachte Mr. Marksman den Rest des Tages, kaufte seinen Mundvorrat ein, kochte seine Diners selbst und legte also bei jeder Gelegenheit die größte Missachtung gegen alle zivilisierten Gebräuche und Anstandsregeln dar, ganz so wie beim Einzug in das Logis. Nachdem er zu Mittag gespeist hatte, hielt er ein Schläfchen auf seinen Kalmuckröcken, fuhr dann plötzlich auf, brummte über die eingeschlossene Luft und das enge Zimmer, schmauchte eine große Zahl Pfeifen Tabak und blickte die übrige Zeit zum Fenster hinaus, anstrengend und scharf beobachtend, was da unten herum vorging.

Endlich vollbrachte er die größte seiner Sonderbarkeiten. Nach Verschluss des Tabakladens, was gewöhnlich beim Schluss des benachbarten Theaters geschah, wanderte er die Treppe hinab, fragte kalt, welches der nächste Weg zu einer Gegend sei, wo er frische Luft atmen und einen nächtlichen Spaziergang machen könne, um seine Beine in etwas anstrengende Tätigkeit zu versetzen und sein Haupt zu klären.

Am nächsten Morgen begann er seine beiden Zimmer mit eigener Hand zu reinigen, ganz so wie er es dem Hauswirt gesagt hatte, und dabei schien er sich über seine Beschäftigung zu freuen, natürlich in seiner etwas ernsten, grimmigen Manier. Sein Dinieren, Mittagsschläfchen, Tabakrauchen und sein vom Fenster aus beobachtendes Studium der Straßen ging dann ganz wieder so von statten wie am vorigen Tage. Aber in der Nacht suchte er seinen gestrigen Promenadenplatz nicht wieder auf, sondern durchwanderte die Straßen und kam im Verlauf seines Spazierganges an den Tempel der Harmonie. Was ihm dort passierte, ist bereits bekannt.

Nachdem er Zack verlassen hatte, wanderte er stracks weiter, immer vorwärts, unbekümmert, wohin er kommen werde, und so ging seine Wanderung bis zum Tagesanbruch. Es war bereits neun Uhr vorbei, als er sich im Tabaksladen präsentierte, seine Kleider waren sehr beschmutzt und vom Tau und Regen ganz durchnässt. Der lange Spaziergang schien die Verdrießlichkeit und Unzufriedenheit seines Gemüts, welche seine plötzliche Trennung von Zack verursachte, nicht besänftigt und beruhigt zu haben. Er redete beständig mit sich selbst in murrender, unzusammenhängender Weise; seine finsteren, schwerfälligen Augenbrauen hatte er stark zusammengezogen und die Narben der alten Wunden in seinem Antlitz waren sehr gerötet, wodurch das zornige Aussehen noch mehr erhöht ward. Die erste Unterredung mit seinem Hauswirt bezog sich auf eine Eisenbahnreise, indem er sich nach einem bestimmten Bahnhofe erkundigte. Da er aber nicht leicht zu belehren war und die Gegend des beschriebenen Bahnhofs nicht zu finden getraute, so ließ der Tabakhändler eine Droschke holen, um ihn zur Eisenbahn zu bringen. Hiermit erklärte er sich einverstanden, aber bevor das Fuhrwerk erschien, wanderte er die ganze Zeit in mürrischer Stimmung auf dem Pflaster vor dem Laden auf und ab.

Als die Droschke erschien, bestand er hartnäckig darauf, sich oben aufs Verdeck zu setzen, weil er hier mehr frische Luft einatmen und die Beine bequem in den Wagen legen könne.

In dieser sonderbaren, verkehrten Position langte er am Bahnhofe an und nahm ein Billett nach Dibbledean, einem kleinen Marktflecken in einer der mittleren Grafschaften.

Als er am Ende der Station angelangt war, blickte er anfangs etwas verwirrt umher; bald aber begann er eine in der Nähe liegende Straße, welche nach dem genannten Flecken führte, zu rekognoszieren; zu ihr richtete er jetzt eilig seine Schritte, alle Anerbietungen der bequemen Omnibusfahrt verschmähend.

Der Tau war hier viel stärker gefallen, als in London, und da eben kein Markttag in Dibbledean war, so erblickte man auf der ganzen großen Straße nur drei Personen, eine Frau in Holzschuhen, ein Kind unter einem großen Regenschirm und einen Mann mit einem Korb auf dem Rücken, alle drei wanderten in den Hofraum des vornehmsten Gasthauses.

Je näher Mr. Marksman dem Landstädtchen kam, desto langsamer wurden seine Schritte, bis er endlich am Ende der Straße vor einer alten Kirche stehen blieb, welche zur Vorstadt von Dibbledean gehörte. Hier wartete er einige Zeit, blickte über die niedrige Mauer, welche den Gottesacker umfasste, und näherte sich dann einer Tür, durch die man auf einen Fußpfad zwischen die Gräber und Leichensteine gelangte. Plötzlich blieb er wieder stehen – augenscheinlich seine Absicht wechselnd – drehte sich dann schnell um und wanderte auf der großen Landstraße weiter. Er ruhte nicht eher, bis er vor ein langes niedriges Giebelhaus gelangte; unstreitig eines der ältesten im Dorfe, das, obgleich es bemalt und weiß angestrichen war, doch sehr alt und unmalerisch aussah. Das auf der Erde liegende Stockwerk war in zwei Laden abgeteilt, doch so, dass man ersah, beide gehören jetzt und haben einstmals zu einer und derselben Familie gehört. An dem breiten Laden stand in großen, schönen Buchstaben:

»Bradford and Son (vormals Josua Grice), Leinwandhändler, Strumpfhändler 2C.«

Die Firma über dem schmalen Laden lautete:

»Mrs. Bradford (vormals Johanna Grice), Putzhändlerin und Kleidermacherin.«

Unbekümmert um den Regen, trotzdem dass Hut und Rock triefte, stand Mr. Marksman regungslos vor dem Hause, die Inschriften lesend und immer wieder lesend. Obgleich der ganze Mann vom Kopf bis zu der Zehe die personifizierte Festigkeit zu sein schien, so zitterte und schwankte er dennoch jetzt fast ganz unnatürlich. Er wusste nun, dass er eine Entdeckung zu machen hatte, dass er eine Untersuchung veranstalten musste, konnte sich aber noch nicht bestimmt entschließen, ob in dem vor ihm stehenden Hause oder auf jenem Kirchhof, den er vorhin verlassen hatte. Nach langem Besinnen entschied er sich für den Kirchhof und wendete rasch seine Schritte dahin zurück.

Er trat eilig durch jene Pforte ein, vor der er vorhin zögernd gestanden hatte, und verfolgte den zwischen den Leichensteinen hindurchführenden Pfad eine Weile. Dann betrat er den Rasen, blieb sinnend stehen, wanderte wieder zwischen den Grabhügeln weiter und kam endlich vor einen horizontal liegenden, kaum einen Fuß hohen Leichenstein. Er bog sich hinab und las die darauf befindlichen Schriftzeichen.

Es waren vier verschiedene Inschriften der einfachsten kürzesten Art, weiter nichts enthaltend als Datum und Jahreszahl der Geburt und des Todes der darunter liegenden Personen. Die ersten beiden Inschriften notifizierten den Tod zweier Kinder: »Josua Grice, Sohn von Josua und Johanna Grice, vier Jahr alt« »Susanna Grice, Tochter der obigen, 13 Jahr alt;« die beiden letzten zeigten den Tod des Vaters und der Mutter an, in einem Alter von 62 Jahren. Unter diesen Inschriften folgte ein Spruch aus dem Neuen Testament:

»Kommt her zu mir Alle, die ihr mühselig und schwer beladen seid, ich will euch die ewige Ruhe geben.«

Auf den letzten Zeilen, welche den Tod von Josua Grice, dem Vater, anzeigten, verweilte das Auge des einsamen Wandrers am längsten; hin starrend auf dessen Todesanzeige murmelten seine Lippen mehrmals: – »Er lebte am Ende als ein alter Mann!«

Unter den erwähnten Zeilen war noch hinreichend Platz für zwei oder drei Inschriften und es schien, als ob Mr. Marksman noch mehr zu lesen erwartet habe. Er blickte aufmerksam und scharf auf den leeren Raum, maß ihn mit den Fingern und verglich ihn mit der von den Inschriften besetzten Stelle. »Nicht da«, sagte er zu sich selbst, »nicht hier!« und verließ den Gottesacker, um wieder in die Stadt zu gehen.

Diesmal ging er ohne Zaudern in das Haus mit dem Doppelladen und zwar in die Abteilung des Strumpfhändlers. Hier war niemand weiter als ein junger Mann, welcher den Ladentisch bediente.

Dieser junge Ladendiener war höchst erfreut, endlich einmal eine fremde Person eintreten zu sehen, um wenigstens mit ihr über das schlechte Regenwetter sprechen zu können, denn er war den ganzen Morgen hindurch allein gewesen.

»Womit kann ich dem Herrn dienen?«

Dieser kam aber nicht um zu kaufen, sondern wünschte nur zu wissen, ob Johanna Grice, welche ehemals den Putzmacherladen besaß, noch am Leben sei?

»Oh ja! —« Der junge Mann konnte ihm dies und noch mehr sagen, denn er war sehr vergnügt, nach so langer Einsamkeit wieder einmal die Zunge regen zu können.

»Miss Grice (der Mann sprach höflicher von ihr als der Fremde) – Miss Grice, deren Bruder das Geschäft vormals hatte, welches jetzt Bradford und Sohn besitzen, lebt noch; sie lebt noch ganz allein für sich in der Stadt; sie ist eine sehr kuriose alte Person, welche niemals ausgeht und auch keinen Besuch empfängt: Fast alle ihre alten Freunde sind tot und mit den noch lebenden hat sie den Umgang abgebrochen. Sie ist voller Ärger und Zorn, ja man glaubt sogar, sie sei verrückt und unter den Knaben von Dibbledean wird sie als eine »alte Tigerkatze« verabscheut.«

Auch der Ladendiener sprach seine Vermutung dahin aus, dass ihr Verstand durch einen großen Familienskandal vor vielen Jahren wohl etwas gelitten haben möge, durch einen Familienskandal, der sie ganz niedergeschmettert habe, denn sie sei sehr religiös. »Es war ein Skandal«, fuhr der junge Mann fort, »welcher die größte Aufregung verursachte und ringsherum —«

Hier wurde er von dem Fremden in einer unhöflichen, groben Manier unterbrochen, dieser schien von dem Skandal nichts wissen zu wollen und eine andere Frage auf dem Herzen zu haben, der er aber nicht recht Worte zu leihen vermochte. Zwei oder drei Mal begann er in verschiedenen Wortformen, stockte aber wieder und schwieg. Endlich fragte er so im allgemeinen, ob noch andre Familienglieder der alten Miss Grice am Leben seien.

Für einen Augenblick stockte und schwieg der junge Mann, denn er wusste nicht, welche Familienglieder der Gentleman meine; dann sagte er: »Der alte Mr. Grice starb vor einigen Jahren, zwei Kinder starben jung; ihre Namen liest man auf dem Gottesacker. Meint der Herr vielleicht? – ah, gewiss! – ganz sicher – Sie meinen wohl die zweite Tochter? – Wie das Volk sagt, wuchs diese auf und blühte in großer Schönheit. Von ihr geht die Sage, dass sie hauptsächlich die Ursache jenes abscheulichen Familienskandals sei. Sie lief in die Welt und starb im Elend, niemand weiß, wo und wie, – und man glaubt, dass sie irgendwo gleich einer Almosenempfängerin begraben liege, – niemand kennt den Ort, ausgenommen etwa Miss Grice, alles dies ereignete sich vor vielen Jahren, und gewiss —«

Der junge Mann stockte hier und blickte sehr verlegen, denn des Gentlemans Antlitz hatte sich plötzlich sehr verändert. Seine dunkelbraunen Wangen waren kalt und fahl geworden und die darauf befindlichen Narben glühten zornig rot wie Feuer. Er lehnte sich einen Augenblick an den Ladentisch und seine Hände zitterten. Wird er krank? O nein, denn dieses Mannes Herz ist stark, sein Wille fest und sein Körper hat schon manche Stöße erlitten und sich abgehärtet, daher erholt er sich auch viel schneller als andere Menschen. Er schwankte ein wenig, ging dann vom Ladentisch zur Tür, drehte sich noch einmal um und fragte, wo Johanna Grice wohne. Der junge Mann erwiderte: »Bei der zweiten Wendung nach rechts gelangt man in eine Straße, welche in eine kleine Gasse mit niedrigen Häusern endet. Miss Grices Haus ist das letzte linker Hand; aber ich kann dem Herrn versichern, dass der Gang erfolglos bleiben wird, denn sie lässt keine Person in ihre Wohnung.« Der Gentleman dankte und schlug dennoch die beschriebene Richtung ein.

»Dachte ich doch nicht, dass es mich so angreifen würde«, sagte er für sich, indem er eilig durch die Straßen schritt; »hat es mich noch nie so berührt, wo ich auch sein und es hören musste. Aber ich bin nicht mehr der Mann, der ich war, seitdem ich hier weile. Meine zwanzigjährige Abhärtung scheint ganz und gar verschwunden und hier nicht wirksam zu sein.«

Nachdem er die ihm bezeichnete Straßenrichtung genau befolgt hatte, gelangte er in dem Gässchen linker Hand vor dem kleinen Häuschen an und untersuchte zuerst die Gartentür. Er fand sie verschlossen und keine Schelle zum klingeln. Da aber die Gartenumhegung nicht hoch und Mr. Marksman nicht skrupulös war, so setzte er über und ging nach der Haustür zu. Sie öffnete sich gleich allen andern Türen durch bloßes Niederdrücken des Griffes am Schloss. Er ging ohne Zaudern hinein und trat ins erste Zimmer, in das ihn die Passage führte. Es war ein kleines Besuchsstübchen, an dessen hinterm Fenster, welches nach dem Garten führt, Miss Grice saß und in einem dicken Buche gleich einer Bibel mit Lesen vertieft war. Dieses alte, dürre und zwerghafte Frauenzimmer starrte von ihrem Buche empor, als sie Schritte hörte, dann sprang sie wütend auf, ihre grauen Augen drehten sich furienhaft im Kopfe, sie erhob ihre knöchernen Hände und drohte dem Eindringlinge damit. Dieser ließ sie ruhig zu sich herankommen, sprach dann sehr vernehmlich und ganz besonders betonend einen Namen zweimal aus.

 

Plötzlich erstarrt sie, wird leichenblass, der Mund bleibt geöffnet stehen und die Arme hängen starr am Körper herab. Es war, als ob dieser Name oder die Stimme, welche ihn gesprochen, ihr ganzes bisschen Leben in einem Augenblick zu Tode erstarrt habe. Dann wankte sie langsam zurück, suchte mit der Hand wie im Dunkeln und lehnte sich an die Wand des Zimmers. Sprachlos und zitternd an allen Gliedern starrte sie den ihr gegenüberstehenden Mann stier und erschrocken an.

Dieser nahm ungebeten Platz und fragte, ob sie ihn nicht mehr kenne. Sie gab weder eine Antwort noch irgendein als Antwort dienendes Zeichen. Nach einer ziemlich langen Pause wiederholte er diese Frage. Sie nickte mit dem Kopfe, – starrte ihn aber fortwährend zitternd und sprachlos an.

Er erzählte ihr nun, was er im Laden gehört hatte, und fragte sie, ob es wahr sei, dass die Tochter des alten Mr. Grice, welche die Ursache eines großen Familienskandals gewesen, schon seit Jahren verschwunden und in der Fremde elend und arm gestorben sei.

Ihre Augen blitzten ihn feurig wild an – schraken aber vor den seinigen zurück. Dann kauerte sie sich in die Ecke und sagte mit schwacher zitternder Stimme, dass sie nicht von dem sprechen werde und sprechen könne, was er als Familienskandal bezeichnet habe.

Er antwortete, dass er nichts über den Skandal zu wissen wünsche, dass er vor vielen Jahren einen Brief empfangen habe, welcher ihm das Ereignis mitteilte, – einen Brief, den er seit der Zeit stets bewahrt und den er nie verlieren, nie vergessen werde. Was er zu wissen wünsche, ist, ob es wahr sei, dass Marie (er nannte jetzt ihren Namen) im Grabe liege, dass sie tot sei?

Als er diese Worte sprach, lag etwas in seinen Blicken, das die Alte gleichsam gegen ihren Willen zum Antworten zu zwingen schien. Sie stammelte »Ja« und zitterte dabei noch mehr als vorhin.

Er ballte seine Hände zusammen, doch sank das Haupt schwach und matt hernieder und dunkle Schatten schienen über seine niedergebogene Stirn zu ziehen. Die Narben der alten Wunden vertieften und entfärbten sich, sie wurden blau. Er begann zu sprechen, – stockte plötzlich – und blieb dann einige Minuten sprachlos.

Aber sein tiefes Schweigen und seine tiefe Betrübnis schienen Johanna Grice rasch mit Zuversicht und Courage zu erfüllen. Sie bewegte sich ein wenig von der Wand und ein Strahl triumphierender Schadenfreude zog über ihr Gesicht, als sie ihr »Ja« noch einmal wiederholte. »Ja! Die Elende, welche den guten Namen der Familie ruinierte, ist tot – tot, und in weiter Ferne begraben, in ihrem eigenen Grabe – sie liegt nicht in demselben Grabe, wo ihre ehrbare Verwandtschaft ruht – nicht dort auf dem Gottesacker, wo ihr Vater und ihre Mutter – oh, nein, nein! – Gott sei Dank, – nicht dort!«

Bei diesen letzten Worten blickte er sogleich zu ihr auf. Dabei lag so etwas gebietender Einfluss in seinen Augen, der sie sogleich wieder in die Ecke scheuchte, wo sie vorhin kauerte. Jetzt fragte er im strengsten Ernst, wo Marie begraben liege. Sie antwortete langsam und träge, jedes Wort musste ihr gleichsam abgezwungen werden, – sie sei unter Fremden beerdigt, wie sie’s verdiene, – an einem Orte, genannt Bangbury – weit weg in der nächsten Grafschaft, wo sie gestorben sei und wo man Geld zu ihrer Beerdigung hingeschickt habe.

Sein Benehmen wurde jetzt weniger rau und befehlend, seine Augen sanfter und seine Stimme sprach nur im Tone schmerzlicher Wehmut und tiefer Traurigkeit. Und als er jetzt wieder eine Frage an Johanna Grice richtete, wurde auch diese im inneren betroffen und ihr Herz schien davon sehr heftig erregt zu werden.

Die Muskeln ihres hässlichen Gesichts zuckten, der Atem ihrer Brust kam stoßweise heraus und ihre ganze Physiognomie wurde noch wilder, als er fragte, ob es nur Verleumdung oder Wahrheit sei, dass Marie mit einem Kind die Heimat verlassen habe.

Als er keine Antwort bekam, wiederholte er seine Frage: »War es Verleumdung oder Wahrheit?« Er bat jetzt dringend um Aufklärung. Sie erwiderte keuchend und wispernd nur das eine Wort »– Wahrheit. —«

»Wurde das Kind lebend geboren?«

Nach dieser Frage rang sich ihr Atem in noch schnelleren Stößen aus der Brust, ihre fleischlosen gelben Wangen färbten sich dunkelrot und die Antwort erfolgte in derselben harschen wispernden Art wie vorhin – »Ja! lebend geboren.«

»Was wurde aus dem Kinde? —«

»Ich sah es niemals – fragte niemals nach ihm – und habe es nie gekannt.« Während sie diese Worte sprach, verwandelte sich ihr Wispern und Zischeln zu einem lauten, bestimmten aber sehr rauhen Tone. Der Fragende murmelte etwas für sich, – in unverständlichen, nur halbartikulierten Worten fluchte er den mitleidslosen, unbarmherzigen Menschen, welche niemals vergeben können, dann versank er in düsteres Schweigen. Während dieser Pause färbten sich die Wangen der Johanna Grice noch dunkelroter und das Atmen ihrer Brust verwandelte sich in schnelle stoßweise Seufzer. Als er aber noch einmal mit ihr sprechen wollte, da brach ihre unterdrückte Wut in wilde Raserei aus. Indem er sein Haupt erhob und die Lippen öffnete, sprang sie voller Wut an den Tisch, wo er sie vorhin lesend fand, spreizte die Arme auf, legte dann ihre knöchernen Hände auf die offene Bibel und schwor bei dem Worte der Wahrheit in diesem Buche, dass sie ihm niemals mehr antworten werde.

Er erhob sich jetzt ruhig, näherte sich ihr mit verächtlichem Blick und begann zu sprechen, wurde aber von ihr überschrien, indem sie sich wie eine rasende Furie gebärdete. »Nein! Nein! Nein!« rief sie, »nicht ein Wort mehr! Wie kann Er es wagen, mit seinem schamlosen Gesicht und drohender Miene hierher zu kommen und mich zum Sprechen zu zwingen, zum Sprechen über etwas, das nie über meine Lippen kommen sollte, nie! oder nur vor dem Gerichtshof. Wie kann Er etwas wagen, zwischen mich und Gott zu treten und mich mit seinen weltlichen Angelegenheiten zu belästigen, während ich mich für Gott vorbereite? Verwandtschaft! Spreche Er nicht von Verwandtschaft. Meine einzige Verwandtschaft, die ich kenne, liegt gebrochenen Herzens unter dem großen Steine auf dem Gottesacker. Verwandtschaft! Wenn sie alle wieder zum Leben erwachten, was könnte Marie mit ihnen zu tun haben? Ihre einzige Verwandtschaft war nur der Tod. Ja, tot ist Vater, Mutter, Bruder und Schwester für sie! Der Tod nahm sie weg in Gottes guter Zeit. Wie! will Er noch länger hier stehen? mir zum Ärger hier stehen? hier stehen, nachdem ich geschworen habe, Ihm kein Wort mehr zu antworten? —«

»Ja, mag sie rasen, so viel es ihr beliebt, ich bin fest entschlossen zu bleiben und noch mehr zu erfahren. – Hinterließ Marie nichts in den bitteren Tagen der Flucht von ihrer Heimath? – Antwort verlange ich hierüber, ich muss es wissen! Dies und noch mehr muss ich wissen – bis ich alles weiß.« Die feste Entschlossenheit, mit der er diese Worte sprach, schien ihre furienhafte Aufregung wieder etwas zu dämpfen. Sie streckte ihre Hand schnell aus, ergriff seinen Arm und blickte ihn mit verruchter Schadenfreude ins Gesicht. »Er will alles wissen? will Er? – dann soll es sein! aber nicht von meinen Lippen! Die ganze schwarze Nichtwürdigkeit soll er wissen – vom Anfang bis zum Ende. Sein Herz soll brechen und Er vor der Zeit alt werden. Er ist geneigt, alles wissen zu wollen, was die Verdorbene, Elende hinterlassen hat, will Er? – so folge er mir und er soll es sehen. —«