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Märgi loetuks
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

In der Bibel der Johanna Grice lag ein Schlüssel, gleichsam als Merkzeichen dienend; diesen nahm sie jetzt zur Hand, hinkte mühsam mit Unterstützung der Hände durch ihr Schlafzimmer und über eine Treppe in das höhere Stockwerk hinauf. Mr. Marksman folgte dicht hinter ihr her und stand an ihrer Seite, als sie eine Tür öffnete und ihn mit den Worten hineinwies, dort zu nehmen, was er finde, und dann zu gehen – ihr sei es gleich, wohin er gehe.

Hierauf hinkte sie wieder die Treppe hinab und Mr. Marksman trat ins Zimmer: Darin herrschte dumpfe Stickluft und eine Ohnmacht verursachender widerlicher Geruch. Schmutzig braune Spinnweben hingen überall von den Wänden herab und die noch schmutzigeren Fensterscheiben ließen nur ein schwaches getrübtes Licht hindurch scheinen. Er blickte um sich und fand nicht die geringste Ausschmückung, keine Möbel, nichts – so dass es schien, als sei das Zimmer seit vielen, vielen Jahren nicht bewohnt gewesen. Mit gespannter Besorgnis suchte er hier und da und entdeckte endlich in einer dunklen Ecke ein kleines, mit Schmutz und Staub bedecktes Kästchen.

Er hob es auf und ging ans Fenster, eine Staubwolke fiel herab und ekelhaftes Gewürm kroch darauf herum. Als er es näher bei Licht betrachtete, entdeckte er unter Spinnweben, toten Insekten und Schmutzflecken aller Art den darauf gemalten Namen: »Marie Grice.«

Beim Erblicken dieses Namens versank er in nachdenkliches Schweigen. Als er aber in demselben Moment unten eine Tür zuschließen hörte, nahm er hastig das Kästchen zur Hand und verließ das Zimmer. Das Kästchen war mit einem Strick zugebunden und unter demselben fand er ein Blatt Papier auf den Deckel genagelt. Er betrachtete es näher bei Lichte und entdeckte darauf geschriebene Zeilen. Aber das Papier war grau, die Tinte blass und die Schriftzeichen schwer zu entziffern. Doch gelang es ihm, nach längerer Besichtigung folgende Aufschrift zu lesen: »Rechtfertigung meines Benehmens gegen meine Nichte; nach meinem Tode zu lesen. Johanna Grice. —«

Als er herunter in die Nähe ihres Wohnzimmers kam, hörte er sie lesen. Er blieb stehen und horchte, die Worte schienen ihm nicht fremd, nicht unbekannt zu sein. Er horchte länger und eine Erinnerung an seine Knabenzeit sagte ihm, dass es die Bibel sei, in der Johanna Grice eben laut las.

Sein Gesicht verfinsterte sich, er eilte schnell in den Garten; bevor er sich aber dessen Umzäunung näherte, ging er noch einmal zum Wohnhaus zurück und blickte durch die Fenster ins Zimmer. Er sah die Alte vor dem Tische sitzen, mit dem Rücken den Fenstern zugekehrt, die Ellenbogen hatte sie auf die Tafel gelegt, während sie mit den Händen in ihren verwirrten grauen Haaren wühlte. Ihre Stimme war noch hörbar, aber die Worte waren nicht mehr zu verstehen. Er weilte noch einige Augenblicke vor dem Fenster, dann verließ er es plötzlich mit den Worten: »Ich wundere mich, dass dieses Buch ihren Tod noch nicht verursacht hat.« Dies waren seine einzigen Abschiedsworte. Mit diesem Gedanken im Herzen eilte er von Johanna Grice und ihrer Wohnung weg.

Welchen Weg wird er nehmen? Zurück in die Stadt oder weiter ins Land hinein? Es treibt ihn weiter in die Ferne! Der Kummer über sein Verwaistsein, der Schmerz – ohne ein mitfühlendes Menschenherz leben zu müssen, hat ihn wieder überwältigt und zur Melancholie gestimmt.

Er wandert mit seinem Kästchen trotz des Regens weiter und blickt sich dann nach einem Obdach um, wo er es öffnen kann. – Nachdem er eine Meile weit gegangen war, erblickte er nicht weit vom Wege einen alten zerfallenen Viehschuppen, der aber noch etwas Schutz gegen den Regen zu gewähren vermochte, und nahm darunter Platz.

In einem trockenen Winkel fand er Gelegenheit, seine Absicht zu vollführen. Er ließ sich nieder, knüpfte den Strick ab, zauderte aber noch, das Kästchen zu öffnen. Er riss daher den aufgenagelten Brief von der Außenseite ab.

Dieser war ziemlich lang, eng und sehr unleserlich geschrieben. Seine Augen schweiften ungeduldig darüber hin, bis er auf der Mitte der Seite einige deutlicher geschriebene Zeilen fand. Vor Jahren, in seiner Knabenzeit las er jede Handschrift, aber gegenwärtig fand er es schwierig die vor ihm liegende zu entziffern. Doch vermochte er die deutlicher geschriebenen Worte zu buchstabieren und fand folgenden Sinn. —

»Ich habe nur noch hinzuzufügen, bevor ich zu dem grauenhaften Bekenntnis unserer Familienschande übergehe, dass ich nachher niemals wieder etwas sah und hörte von dem Manne, der meine Nichte zu jener Todsünde verführte, welche ihr Ruin in dieser Welt war und auch im Jenseits sein wird.«

Nach diesen Worten machte er keine Anstrengung, weiter zu lesen. Sie waren hinreichend, ihn mit höchst unwillkommenen Erinnerungen und beunruhigenden Gedanken zu erfüllen, von denen er sich aber entschlossen zu befreien suchte. Er zerknitterte den Brief und steckte ihn in die Tasche; er war wieder Herr seiner Stimmung geworden und wendete sich jetzt noch einmal zum Kästchen.

Es war mit Bändern versiegelt aber nicht verschlossen.

Als er den Deckel aufbrach, fand er einige abgetragene Gegenstände weiblicher Kleidung darin, eine Arbeitsschachtel, ein Halsband, Nähnadeln nebst Zwirn, ein Paket Briefe und viele zerstreut herumliegende Briefe, ein glänzend gebundenes Album, eine Quantität trockener Blumen und Blätter, ein Stück grobes Tuch mit darauf gestickten Pantoffelmustern, ein schwarzes Leibchen mit noch unbeendigter Stickerei am Kragen und noch verschiedene andere Gegenstände. Beim ersten Blick war es ihm klar, dass alle diese Dinge irgendeinmal in den Kasten geworfen und darin liegen geblieben waren. Einige Augenblicke weilte sein Auge auf dieser seltsamen traurigen Konfusion, dann wendete er sein Haupt und flüsterte mit gebrochener, seufzender Stimme: »Marie! – Marie. —« Nach einiger Zeit blickte er wieder in den Kasten, nahm rein mechanisch die zerstreut liegenden Briefe heraus, betrachtete teilnahmslos die gebrochenen Siegel und Adressen und legte sie ebenso mechanisch wieder in den Kasten zurück, ohne sie zu entfalten. Nur ein einziger schien seine Aufmerksamkeit zu erregen, er nahm ihn heraus und entfaltete das Couvert.

Beim Auseinanderlegen des Umschlags fand er eine Haarlocke, welche er aber im Moment sogleich wieder zusammenpackte, als könne er sie nicht sehen. Den Brief betrachtete er aufmerksamer, es war eine Frauenhandschrift und an Miss Marie Grice, Dibbledean adressiert und aus London, Bond-Street, datiert. Die Poststempel zeigten, dass er schon vor vielen Jahren geschrieben war. Er setzte sich nieder und las das nicht sehr lange Schreiben:

Meine teuerste Marie!

Ich habe Ihnen soeben Ihr schönes Haarbracelet, vom Juwelier gut verpackt und versiegelt, durch die Post gesandt und es direkt an Sie adressiert, weil Sie mir sagten, Ihr Vater betrachte es als einen Ehrenpunkt, Ihre Briefe und Pakete nicht zu erbrechen, und verbiete dies auch Ihrer hässlichen Muhme Johanna. Ich hoffe, Sie werden diese Zeilen und das kleine Paket zu gleicher Zeit empfangen.

Jetzt will ich Ihre ausgesprochene Ansicht beantworten, dass die neue Facon Ihres Bracelets viel schöner sei, seitdem die neuen Haare mit den alten darin vereinigt sind. Sie werden beim Anblick desselben freudig errötend in Ihr Zimmer laufen, um es ungesehen betrachten zu können. Vielleicht werden Sie aber auch überrascht sein, noch eine kleine Goldeinfassung hinzugefügt zu finden; aber dies war eine sehr große Notwendigkeit, wie mir der Juwelier versicherte. Das Haar Ihrer armen Schwester war das einzige Material Ihres Bracelets und sehr verschieden von den Haaren Ihres Geliebten, die Sie mir später zur Einfassung übersandten. Diese waren kaum halb so lang als Susannas Haare, mit denen sie doch von End zu End eingeflochten werden sollten; demzufolge hat sie der Juwelier durch Hinzufügung einer goldenen Klammer befestigt, wie Sie sehen werden. Aber dennoch sind sie recht hübsch rund und mit den alten Haaren verbunden. Kein Juwelier Ihrer Gegend konnte es auch nur halb so schön verfertigen, daher taten Sie wohl, es nach London zu senden. Ich darf mir wohl ein Urteil hierüber zutrauen und sage Ihnen ganz gewiss, dass ich noch kein schöneres Bracelet gesehen habe, als das Ihrige.

Sehen Sie ihn noch so oft wie früher? Er muss Ihnen mit inniger Liebe und Treue ergeben sein, wenn Sie ihm zeigen, wie sehr Sie ihn lieben, indem Sie seine Haare mit denen Ihrer armen Schwester Susanna vereinigen ließen; auch waren Sie ihm stets sehr ergeben und in Liebe zugetan. Ich sage, er muss; und Sie können mit Sicherheit sagen, er wird. – Ich bin also ganz bereit zu glauben, meine Liebe, dass Sie sich nicht täuschen.

Ich würde gern mehr schreiben, aber es fehlt mir an Zeit. Es ist eben jetzt die große Londoner Saison und wir müssen für unsern Lebensunterhalt arbeiten. Ich beneide euch Putzmacherinnen in den Landstädten und wünsche mich beinah wieder nach Dibbledean zurück, um von morgens bis in die Nacht hinein von Miss Johanna tyrannisiert zu werden. Ich weiß, meine Teure, sie ist Ihre Tante; aber ich kann mir nicht helfen und muss gestehen, dass ich sie sehr hasse.

Ewig Ihre zärtliche Freundin

Johanna Holdsworth.

P. S. Der Juwelier sandte diese Haare wieder zurück, weil er deren nicht bedurfte, und ich schicke Ihnen dieselben hierbei pflichtschuldig wieder zu, da Sie deren rechtmäßige Eigentümerin sind.

Die Narben Mr. Marksman’s Antlitz begannen beim Durchlesen dieses Briefes feuerrot zu brennen; sie zeigten stets sicherer als jeder andere Körperteil seine heftigen Gemütsbewegungen an. Er zerknitterte schnell Brief und Couvert in seiner Hand zusammen und wollte beides voll Zorn in den Kasten werfen, – aber ein Blick auf die darin liegenden halb abgetragenen Kleider und unvollendeten Arbeiten schien seinen Arm zu lähmen; er nahm Brief und Couvert, glättete beide sehr sorgfältig, faltete sie wieder zusammen und legte sie dann sanft zu den andern Briefen; dann griff er in die Tasche, holte den ersten Brief heraus und legte ihn ebenso zu den übrigen, hierauf verschloss er den Kasten wieder.

 

»Ich kann nichts mehr berühren von diesen Gegenständen«, sagte er zu sich selbst. »Ich kann sie nicht sehen, ohne dass ich —« er stockte, nahm den Strick und band ihn sehr fest um den Kasten, gleichsam, als wäre diese physische Anstrengung eine Erleichterung für ihn in seiner Gemütserregung. »Ich werde ihn in ein paar Tagen wieder öffnen, wenn ich weit weg von diesem Orte bin —« er schürzte hierbei den letzten Knoten so fest als möglich, – »wenn ich von diesem alten Orte entfernt bin und meine Geistesstärke wieder erlangt habe.«

Er verließ den Schuppen, gewann die Straße wieder, blickte aber unentschlossen vorwärts, rückwärts und nach allen Seiten hin. Wo soll er jetzt seine Schritte hinwenden? Ein Gedanke durchkreist seinen Geist, den Ort aufzusuchen, wo Marie gestorben und begraben liegt, um ihr Grab aufzufinden und zu erfahren, wie sie gestorben ist. Doch verwarf er diese Absicht wieder, indem er glaubt, dass es besser sei, zuvor erst sämtliche Briefe zu lesen und alle Gegenstände des Koffers in Augenschein zu nehmen, bevor er diese Reise antritt. Daher glaubt er nichts Angemesseneres tun zu können, als mit dem nächsten Eisenbahnzuge wieder zurück nach London zu fahren.

Im Tabakladen zu Kirk Street waren schon seit einigen Stunden die Gaslichter angezündet und der Eigentümer schmauchte bereits beim Auf- und Abgehen in der Tür seine zweite Abendpfeife, als er seinen fremden Mietsmann sich mit Etwas nähren sah, das doch wenigstens einem anständigen Reisekoffer glich. Der Tabakhändler glaubte, weil er diesen Morgen ein kleines Gespräch mit ihm vor seiner Abreise gehabt habe, diesen Abend eine längere Unterredung anknüpfen zu können. Aber nie war wohl eine Erwartung mehr getäuscht worden als jetzt. Mr. Marksman ging mit einem ganz seltsam veränderten Blick und Aussehen an seinem Hauswirt schnell vorüber, brummte: »gut’ Nacht —« und ließ ihn in der Haustür stehen.

Der Tabakhändler trat zu seiner Frau hinter den Ladentisch und sprach die Vermutung aus, dass es dem neuen Mieter auf seiner Tour nicht nach Wunsch gegangen sein müsse, worauf sie erwiderte: »Wir wollen ihn doch behorchen.«

Mr. Marksmans Zimmer über dem Tabakladen befindet sich in einem gewöhnlich gebauten Londoner Hause, d. h. mit andern Worten, – Haus und Zimmer sind leicht und dünn von leichtem Material gebaut. Demzufolge hört man unten alles, was oben geschieht; sein schwaches Niesen im Wohnzimmer schallt als Echo durch das ganze Haus.

Beide lauschten, und als Mr. Marksman seinen Koffer oben niederwarf, rasselten alle Tonpfeifen und Zinnbüchsen im Laden. Zunächst hörten sie, wie sich Mr. Marksman in seiner gewöhnlichen kuriosen Manier niederließ d. h, wie er sich in die Ecke auf seine Kalmuckröcke setzte.

Jetzt ward es lange Zeit still, da sagte die Frau des Tabakhändlers zu ihrem Manne, sie habe kein Zündhölzchen zum Licht anzünden streichen hören, folglich müsse der neue Mieter im Dunkeln sitzen.

Betroffen schon durch diesen Umstand, aber mehr noch betroffen durch die anhaltende Ruhe, welche nun bei dem sonst so lebhaften Mr. Marksman stattfindet, lauschen sie noch aufmerksamer, hören aber weiter nichts als den tiefen dumpfen Klang seiner Stimme als ein Zeichen, dass er noch am Leben ist und mit sich selbst redet. Der Laden wird endlich verschlossen, ohne dass er das Zimmer verlässt und seine nächtliche Herumstreicherei unternimmt; es war dies das erste Mal, so lange er da wohnte. Der Tabakhändler wanderte die Treppen hinauf zum Erker, um sich schlafen zu legen; seine Frau folgte ihm mit ehelichem Gehorsam. Als sie aber in die erste Etage kam, kniete sie vor Mr. Marksmans Tür leise nieder, hielt den Atem an sich und blickte durchs Schlüsselloch.

Bei der Ankunft im Schlafzimmer jedoch konnte sie ihrem Manne nicht viel berichten. Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, dass kein Licht weiter in des Mieters Zimmer ist, als das, was von den Gaslichtern der Straße hineinscheint.

Auch hatte sie genau bemerkt, dass er in seiner gewöhnlichen Ecke am Fenster liege, die Hände auf dem Koffer und das Haupt auf der Brust liegend. Sie glaubt, dass er in einen unruhigen Schlaf gefallen und seine Gemütsunruhe von einem Frauenzimmer verursacht sei. Denn sie habe mehrere wehklagende Seufzer in seinem Schlafe gehört; ebenso kann sie fest versichern, dass sie den Namen »Marie« zwei- oder dreimal habe sehr schmerzlich rufen hören, als sie vor dem Schlüsselloch kniete. —

Fünftes Kapitel – Losgebunden von der Welt

Es war ein Viertel auf zwei Uhr, als Zack mit eiligen Schritten die Nachbarschaft von Baregrove-Square verließ und mit vagabundierender Unabhängigkeit fortschlenderte, frank und frei von der Welt. Er hatte ein seidenes Taschentuch und sechs Silbergroschen sechs Pfennige in der Tasche, – aber sein bedeutendster Aktivbestand war eine sehr schöne goldene Uhr nebst goldener Kette, sein ganzes Gepäck bestand in einem Schwarzdornstock und sein Anker der Hoffnung war der Pfandverleiher.

Seine erste Handlung, jetzt, nachdem er sein eigener Herr geworden war, zeigte aber dennoch, dass ihn noch ein festes Band an seine Heimat knüpfte und einen mächtigen Einfluss auf ihn ausübte. Er wendete sich direkt zum nächsten Papierhändlerladen und schrieb dort einen Brief an seine Mutter, den er vergebens bemüht gewesen war, in der Bibliothek von Baregrove-Square aufzusetzen.

Er bat sie um Verzeihung, bat sie, nicht ängstlich über ihn zu sein, und erklärte feierlich, dass er nur deshalb weggegangen sei, weil Mr. Yollop mit samt seinem Vater ihn toll gemacht und zu irgendeiner ungerechten Handlung getrieben haben würden, wenn er geblieben wäre. Zugleich beteuerte er, dass er seinen Charakter gebessert habe, und versprach, in seinem nächsten Briefe über seine Pläne für die Zukunft zu schreiben, sobald sich diese gestaltet hätten. Es war einer der unzusammenhängendsten, tölpelhaftesten Briefe, die jemals geschrieben wurden. So fehlerhaft er auch war, Zack fühlte sich dennoch nach dessen Vollendung sehr beruhigt und erleichtert; und noch angenehmer ward die Beruhigung, als er ihn mit dem andern Briefe an Mr. Valentin Blyth in den Briefkasten geworfen hatte.

Die nächste Pflicht, welche ihn in Anspruch nahm, war die große Pflicht der zivilisierten Menschheit – seine leere Börse zu füllen.

Die meisten jungen Gentlemen seiner Lebensstellung würden den Gang am hellen Tage ins Pfandhaus als sehr kompromittierend betrachtet haben. Aber Zack war eben nicht mit sehr feinem Zartgefühl geboren. Er marschierte in das erste beste Pfandhaus mit einem gewissen Ansehen von Geschäftstätigkeit und eilte mit freudiger Genugtuung wieder heraus, als habe er soeben einen schönen Gehalt bezogen oder ein Depositum in die Hände seines Bankiers gelegt.

Einmal versehen mit einer pekuniären Hilfsquelle, fühlte sich Zack in seiner Freiheit bewogen, als freier Brite einen schönen Tag zu verleben. Nachdem er gefrühstückt und in einer Taverne seine Kleider getrocknet hatte, ging er mit sich selbst zu Rate, was er nun zunächst tun wollte. Nach vielen Reflexionen und aufmerksamen Beobachtungen über das schlechte Wetter kam er auf den Gedanken, dass eine Spazierfahrt in einer Droschke nebst einer Bouteille Ale (Weizenbier) und einem Packen Zigarren ein angenehmes, gesundes und nobles Vergnügen wäre, das ihm gewiss gut bekommen würde. Entschlossen, durch jene Stadtviertel Londons zu fahren, die er noch nicht hinreichend kannte, gibt er dem Kutscher die Weisung, zuerst übers Wasser und dann beständig bis auf weitere Ordre ostwärts zu fahren. Diese vagabundierende Route führte ihn von Waterloo Road durch Borongh und Bermondsey nach Rotherhithe. Selten war wohl an einem regnerischen Tage jener Stadtteil der Metropolis so gründlich durchzogen worden, als eben jetzt; aber Zack befand sich dabei wohl. Er trank, schmauchte Zigarren und schwelgte luxuriös in dem Gefühle der Freiheit, tun und lassen zu können, was ihm beliebte. Seine aufgeregten Lebensgeister achteten weder Regen, Kot noch erstickenden Nebel, als er bei Rotherhithe ausstieg; daher befahl er, wieder westwärts nach Borongh zu fahren und schon hatte er abermals eine neue Vergnügungsreise ausgesonnen, als der Wagen wieder bei Borongh anlangte.

Am Markt gewahrte Zack ein Weinhaus und an einem der Fenster die Anzeige, dass um drei Uhr ein gewöhnliches britisches table d’hote für Jedermann darin stattfände. Der Kutscher musste halten, denn er hatte schon vor einigen Minuten drei Uhr schlagen hören. Da er in seinem Leben noch kein table d’hote gesehen hatte, so beschloss er, ins Weinhaus zu gehen und darin zu dinieren. Als er eintrat, hatte das Diner soeben begonnen und die Gesellschaft war allgemein sehr vergnügt. Wie gewöhnlich kam er nach einigen Minuten mit seinen Tischgenossen in Unterhaltung und wurde bald mit seinen vier nächsten Tischnachbarn – einem Fleischermeister, einem Kaldaunenhändler und zwei Obsthändlern sehr familiär vertraut. Die ersten beiden kommerziellen Gentlemen machten sich einen Feiertag, und Zack feierte ja auch einen Festtag. Alle drei wurden gar bald sehr offenherzig durch den begeisternden Einfluss des Desserts, welches in Grogtrinken und Tabakrauchen bestand – und das Endresultat ihres Gedankenaustausches war – nach einem in der Weinstube fröhlich verlebten Nachmittage ins Victoriatheater zu gehen. Der Metzgermeister war trotz seiner blutgierigen Natur und todbringenden Beschäftigung seht gutmütig und fast bis zum Fehler wohltätig; er bestand darauf, die Billetts für alle drei zu bezahlen. Zack, nicht minder generös, nahm Revanche abends beim Souper und bestellte auf seine Kosten Austern. Was sich aber nach dem Souper ereignet hat, – dessen vermag er sich nicht mehr genau zu erinnern. Nur dunkel dämmert es in ihm auf, dass er mit dem Kaldaunenhändler gegangen und in seiner Fröhlichkeit die Tenorpartie in Mynherr Van Dunk gesungen habe. Was aber dann geschehen – ist ihm unbekannt. Am nächsten Morgen erwachte er in demselben Weinhaus, wo er gestern seinen fröhlichen Tag gefeiert hatte. Der Kellner berichtete ihm, dass der redliche Kaldaunenhändler ihn hier gelassen habe, damit er in einem anständigen Hause respektabel übernachten könne.

Dieser neue Morgen war aber der Anfang eines sehr wichtigen Tages in seinem Leben. Er fand sich bewogen, Mr. Marksman in Kirk Street und Mr. Blyth in Laburnum Road aufzusuchen. Als er seine Rechnung bezahlt hatte, stutzte er über die frühe Stunde, in der er noch keine Besuche in Wendover Market machen konnte. Auch war sein Gewissen nicht ganz leicht, wenn er nachdachte, wie er den letzten Abend verlebt hatte. Ach! und wenn er gar an jene Briefstelle dachte, wo er seiner Mutter versichert hatte, dass er sich gebessert und seinen Charakter reformiert habe! – Da ward es ihm sehr schwer und bange ums Herz. »Ich werde mir bei Blyth ein leichtes Gewissen holen und alles tun, was er mir sagt.« Mit diesem guten Vorsatze verließ er die Weinstube und wanderte neu gestärkt nach Kirk Street; dort angekommen, klopfte er an die Tür des Tabakhändlers.

Mr. Marksman hatte ihn aber schon vom Fenster aus erblickt und rief ihm zu, heraufzukommen, sobald die Tür geöffnet sei. Als sich beide die Hände schüttelten, bemerkte Zack sogleich, dass sein neuer Freund plötzlich sehr gealtert sei. Seine ganze Physiognomie sah sehr niedergeschlagen und traurig aus, die Augen müde und hohl; kurz seine ganze Gestalt hatte sich seit ihrem letzten Begegnen wesentlich verändert.

»Aber, Mat, was ist Euch passiert?« fragte Zack. »Ihr seid auf dem Lande gewesen, nicht wahr? – Und was habt Ihr Neues mitgebracht, alter Junge? – Hoffentlich doch was Gutes.«

»So schlecht als es nur sein kann«, erwiderte Marksman mürrisch. »Sprecht kein Wort mehr davon. Tut Ihrs aber dennoch, so scheiden wir. Sprecht von irgendetwas anderem, – von was Euch beliebt, nur nicht hiervon!«

Zack befolgte das Verbot seines Freundes, nicht mehr von dessen ländlicher Affaire zu reden, und begann über seine eigenen Angelegenheiten zu diskutieren. Zuerst gab er einen summarischen Überblick über das Elend zu Hause, erzählte dann jede Kleinigkeit, die ihm passiert war, seitdem er Baregrove-Square verlassen hatte, sprach über seine Annäherung mit Mr. Blyth und erging sich dann in losen Erklärungen über seine Hoffnungen für die Zukunft.

Ohne auch nur eine einzige Frage zu stellen, und ohne das geringste äußere Zeichen von Erstaunen oder Sympathie kundzugeben, hörte Mr. Marksman ruhig und ernsthaft Zacks Rede an, bis er ganz geendigt hatte. Dann ging er in die Ecke, wo der runde Tisch aufgeklappt stand, stellte die Tischplatte wieder aufs Fußgestell, griff in die Brusttasche seines Rocks und holte ein zusammengerolltes Biberfell heraus, wickelte es langsam auf und breitete eine ziemlich große Anzahl Banknoten auf dem Tische aus, sagte dann zu Zack, – indem er mit der Hand darauf zeigte »– nehmt, was Ihr braucht«.

 

Es war nicht leicht, dem Zack eine Überraschung zu bereiten, aber dieser Fall versetzte ihn in ein solches Erstaunen, dass er die Banknoten einige Minuten sprachlos anstarrte.

Mr. Marksman nahm seine Pfeife von einem Nagel der Wand, stopfte den Kopf voll Tabak, zeigte dann wieder mit der Pfeifenspitze auf die Banknoten und sagte noch einmal: »Nehmt, was Ihr braucht.«

Unterdessen hatte sich Zack von seinem Erstaunen erholt und fand endlich Worte, seine Gefühle auszusprechen und Mats beispiellose Großmut zu preisen; zugleich erklärte er, eine Kleinigkeit davon nehmen zu wollen.

Mr. Marksman vollendete ganz bedächtig das Stopfen und Anzünden seiner Pfeife, ohne Zacks freudigen Worten die geringste Aufmerksamkeit zu widmen, dann unterbrach er ihn sehr rauh:

»Mögt Ihr diese Schwätzerei vor Jemand anders halten, mir ist sie Kauderwelsch. Geniert Euch nicht und nehmt, was Ihr braucht. Geld ists, dessen Ihr bedürft, obgleich Ihrs nicht wollt. – Geld ists. – Wenn es mir ausgegangen ist, dann gehe ich nach Kalifornien zurück und hole mir mehr. Was ist da auszusinnen? – Als Ihr in jener Nacht das für mich tatet, sagte ich Euch, ich will Dein Bruder sein. Nun wohl an! Ich bin jetzt Euer Bruder. Geht! und holt Eure Uhr aus dem Pfandhaus und dann könnt Ihr der Welt einen Kratzfuß machen. Wollt Ihr nehmen, was Ihr braucht? – Wenn Ihr’s getan, dann bindet den Rest zusammen und steckt ihn hierher.«

Mit diesen Worten setzte sich Mr. Marksman mürrisch auf seine Kalmuckröcke und umhüllte sich mit Wolken von Tabaksrauch.

Zack suchte vergeblich ihm begreiflich zu machen, dass in unserer zivilisierten Welt kein wahrer Gentleman von einem andern Geld geschenkt nehmen darf, ausgenommen die Geistlichen; doch aber wegen Marksmans Feindschaft besorgt und wohl wissend, dass etwas Geld eine sehr angenehme Bequemlichkeit unter bewandten Umständen gewähre, erklärte er, zwei zehn Pfundnoten als Anleihe nehmen zu wollen. Bei diesem Vorbehalt spottete Mr. Marksman recht hochmütig, aber Freund Zack blieb dabei, holte ein Blatt Papier aus seiner Brieftasche und schrieb einen Schuldschein über die geborgte Summe. Marksman verweigerte fest entschlossen die Annahme des Scheins und ward sogar grob, aber Zack wickelte ihn unter die Banknoten, diese in das Biberfell und gab das Paket dem Eigentümer zurück.

»Braucht Ihr ein Bett?« fragte Mr. Marksman. »Sagt ja oder nein! Ich will Euer Kauderwelsch nicht mehr hören. Ich bin kein Gentleman und kann nicht mit Euch gehen; es ist kein Nutzen, dies mit mir zu versuchen. Ich bin nicht viel mehr als ein Kreuz zwischen einem Wilden und einem Christen. Ach! ich bin ein alter, einsamer, geschlagener und skalpierter Vagabund – das ists, was ich bin. Aber wir sind Brüder!! Was mein ist, gehört auch Dir. Brauchst Du ein Bett? – Bruder, brauchst Du ein Bett zum Schlafen? – Ja? oder Nein?«

»Ja!« erwiderte Zack, »ich brauche ein Bett, aber —«

»Dort steht eins für Dich«, sagte Mr. Marksman, indem er durch die Flügeltür ins Hinterzimmer zeigte. »Ich bedarf es nicht! Ich habe seit zwanzig Jahren nicht im Bette geschlafen und kann demzufolge jetzt auch nicht mehr in einem solchen schlafen. Meine Schlafstelle ist diese Ecke hier. Ich liebe es nicht, zu viel zu schlafen, ich habe nicht viel Schlaf nötig. Geh hin und versuch das Bett, ob es lang genug für Dich ist.«

Zack begann wieder dagegen zu demonstrieren, aber Mat unterbrach ihn sehr heftig:

»Ich glaube ganz gewiss, Du kannst nicht so an der ersten, besten Tür schlafen, wie ich, und würdest Dich nicht mit einem Stückchen meiner Flanelldecke begnügen können, wenn wir draußen einsam übernachteten! Niemals! Ich frage daher nochmals, brauchst Dus Bett? – Nimm es oder lass es, ganz wie Du willst.«

Der leichtsinnige Zack, welcher stets bereit war, binnen fünf Minuten Freundschaft zu schließen und sogar unter freiem Himmel, – der in voriger Nacht mit dem Fleischermeister und Kaldaunenhändler Compagnie machte – der in den Tagen der Landstreicherei mit Kesselflickern, Wilddieben und jeder andern Spezies von Vagabunden fraternisierte – dieser Windbeutel hatte sich geweigert. Mr. Marksmans Anerbieten anzunehmen. Jetzt aber erklärte er sich dazu bereit, sagte, dass er die ganze Nacht darin schlafen, dass er sich Mr. Marksmans Beistand und Wohlwollen würdig zu machen suchen würde. Er war eben in Begriff, hinzuzufügen, dass er sich nur deshalb geweigert habe, weil er nicht sein Teil Miete beitragen könnte, unterdrückte aber diesen Gedanken und beschloss, bei nächster Gelegenheit darauf zu bestehen, den Mietbetrag für das Bett mit zahlen zu dürfen.

Nachdem Zack angenommen hatte, war Mr. Marksman sehr erfreut und rief mit großer Erleichterung: »jetzt sind wir Brüder! – Streck Dich auf das Büffelfell und rauch ein Pfeifchen; ich tue dasselbe. Hollah! bringt eine hübsche Pfeife herauf!! —« rief Mr. Marksman durch die Tür in den Laden hinunter.

Als die Pfeife gebracht ward, ließ sich Zack auf das Büffelfell nieder und befragte seinen seltsamen Freund über dessen Lebensschicksale unter den Wilden Nord- und Südamerikas. Mr. Marksman wurde allmählich redseliger und teilte verschiedene Abenteuer mit. Es waren Geschichten von wilden, barbarischen Situationen, von einer düsteren Phantasie zu Nachtgemälden gestaltet; tödliche Gefahren und glänzende Siege, großes Elend durch Hunger, Durst und Kälte, dann wieder überreiche Jagdschmausereien in großartigen Wäldern, glückliches Auffinden vieler Goldklumpen an öden Felsen, galoppierende Flucht vor den Präriebränden, blutige Gefechte mit wilden Tieren und noch wildern Menschen, wochenlange schauerliche Einsamkeit in öden, unabsehbaren Wüsten, gefahrvolle Tage und Nächte bei Saufgelagen betrunkener Wilder, merkwürdige Meteore und andere großartige Himmelserscheinungen, furchtbare Orkane nebst Erdbeben, blendende Eisberge an dem Polarmeer. – Diese und noch viele andre Szenen erzählte Mr. Marksman in sehr spannender und unterhaltender Manier. Und der junge Thorpe hörte alles mit fieberhafter Aufmerksamkeit an. Das war das wilde, gefahrvolle, umherschweifende Leben, von dem er geträumt. Dergleichen Geschichten hätte er viele Tage lang mit angehört, und er sehnte sich bereits danach, ähnliche zu erleben. Mat bemerkte dies gar bald, daher endigte er mitten in einer Erzählung über die wilden Pferde der Pampas, indem er erklärte, er sei müde, fortwährend nur seine eigene Zunge wackeln zu hören, ja er sei so angegriffen, dass er seinen Mund den ganzen Tag über nicht wieder öffnen werde, ausgenommen zu einem Rinderbraten und einer Pfeife Tabak.

Zack fand es unmöglich, den Entschluss seines Freundes zu ändern, dachte daher an seine Verbindlichkeit gegen Mr. Blyth und fragte, wie viel Uhr es sei. Mr. Marksman, der nicht im Besitz einer Uhr war, rief diese Frage durch die Dielenspalte seines Fußbodens in den Laden hinunter. Die erhaltene Antwort überzeugte Zack, dass es die höchste Zeit zum Aufbruch sei, um in der verabredeten Stunde mit Valentin zusammenzutreffen.

»Ich muss zu meinem Freunde Blyth«, sagte er sich erhebend und seinen Hut aufsetzend, »aber ich werde in ein paar Stunden wieder zurück sein. Ich frage Euch aber, Mat, habt Ihr wirklich im Ernste daran gedacht, wieder nach Amerika zu gehen?« Bei dieser Frage glänzten seine Augen sehr lebhaft und gespannt.