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»Bitte, Großpapa, darf ich mir das Bilderbuch besehen, welches Du mir gestern Abend brachtest, als ich schon im Bette war?« sagte Zack, sich an Herrn Goodworth wendend und offenbar fühlend, dass er nun zu dieser Belohnung berechtigt war.

»Sicherlich nicht am Sonntag«, fiel Herr Thorpe ein, »Deines Großvaters Buch eignet sich nicht für den Sonntag.«

Herr Goodworth stutzte und wollte sprechen, aber er erinnerte sich dessen, was er zu Herrn Thorpe gesagt hatte, und begnügte sich damit, das Feuer zu schüren.

»Wenn Du Bilderbücher besehen willst, so weißt Du, was für Bücher Dir heute zu Diensten stehen, und Deine Mama wird sie Dir holen, wenn sie wieder hereinkommt«, fuhr Herr Thorpe fort.

Die Werke, auf welche hier Bezug genommen wurde, waren eine alte Ausgabe von »des Pilgers Reise« mit vier kleinen Kupferstichen aus dem letzten Jahrhundert, und ein »Leben Moses« mit genauen deutschen Skizzen illustriert, nach der Manier der neuen Schule. Zack wusste recht wohl, was für Bücher sein Vater meinte, und gab seinen Abscheu vor denselben dadurch zu erkennen, dass er wieder anfing, mit seinen Schultern zu zucken. Er hatte offenbar an des Pilgers Reise und dem Leben Moses schon mehr als genug gehabt.

Herr Thorpe sagte nichts weiter und fuhr wieder zu lesen fort. Herr Goodworth verbarg seine Hände in seinen Taschen, gähnte trostlos und wartete mit einem mutlos satirischen Ausdruck in seinen Augen, was sein Enkel zunächst tun würde. Wenn der Gedanke, der in diesem Augenblicke durch des alten Herrn Hirn ging, mit Worten beschrieben worden wäre, würde er genau mit der folgenden Redensart ausgedrückt worden sein: »O Du elender, kleiner Knabe, wie würde ich mich in Deinem Alter gegen alles dies aufgelehnt haben.«

Es dauerte nicht lange, so fand Zack eine neue Belustigung. Er erblickte in einer Ecke seines Vaters spanisches Rohr, nahm es sogleich zwischen seine Beine und schickte sich an, darauf einen kleinen Ritt im Zimmer auf und nieder zu wagen. Er begann gerade sich in einen mäßigen Trab zu setzen, als sein Vater ausrief »Zacharias!« und damit den Knaben sogleich zum Stillstehen brachte.

»Stelle den Stock wieder dahin, wo Du ihn gefunden hast,« sagte Herr Thorpe. »Du musst das nicht am Sonntag tun; wenn Du Dir Bewegung machen willst, kannst Du im Zimmer auf und abgehen.«

Zack zögerte, einen Augenblick überlegend, ob er ungehorsam sein oder zu weinen anfangen sollte.

»Stelle den Stock wieder hin!« wiederholte Herr Thorpe.

Zack erinnerte sich an das Ankleidezimmer und an »die ausgewählten Bibeltexte für Kinder« und gehorchte klüglich. Nachdem er den Stock in die Ecke gesetzt hatte, ging er langsam auf Herrn Goodworth zu mit einem komischen Ausdrucke der Verwunderung und des Abscheues in seinem pausbäckigen Gesichte und legte seinen Kopf demütig auf seines Großvaters Knie nieder.

»Betrübe Dich nicht so sehr, Zack!« sagte der gute alte Herr aufstehend und den Knaben in seine Arme nehmend. »Während die Wärterin Dein Mittagbrot bereitet, wollen wir aus dem Fenster sehen und uns umschauen, ob das Wetter wieder heiter wird.«

Herr Thorpe sah einen Augenblick von seinem Buche auf, sagte aber diesmal nichts.

»Ach, Regen, Regen!« murmelte Herr Goodworth, verzweifelt nach der unheilvollen Aussicht hinstarrend, während Zack sich zum Zeitvertreib die Nase gegen eine Glasscheibe auf und nieder rieb und fast darüber einschlief. »Regen, Regen! Nichts als Regen und Nebel im November. Halte Dich aufrecht, Zack, bim, bam, da läuten die Glocken zum Nachmittagsgottesdienst! Beim Himmel! Ich möchte wohl wissen, ob wir morgen schönes Wetter haben werden? Denk an den Pudding, mein Knabe.«

»Ja«, sagte Zack, die Einladung zum Pudding anerkennend, aber sich anscheinend weigernd, sie zu benützen. »Und wenn ich mein Mittagbrot gegessen habe, so möchte ich zu Bette gebracht werden.«

»Dich zu Bette bringen! Nun, Gott segne den Knaben! Was fällt ihm jetzt ein? Du wünschest ja gewöhnlich immer länger aufzubleiben.«

»Ich möchte zu Bette gehen, um bis morgen zu schlafen und dann mein Bilderbuch zu haben«, antwortete der Knabe in einem abgespannten und winselnden Tone.

»Ich will mich hängen lassen«, sagte der alte Herr leise zu sich selbst, »wenn ich nicht auch daran denke, zu Bette zu gehen, bis zum andern Morgen zu schlafen und dann meine »Times« beim Frühstück zu lesen. Ich bin in jeder Hinsicht so schlimm wie Zack.«

»Großpapa«, fuhr das Kind noch schläfriger als vorher fort, »ich möchte Dir etwas ins Ohr sagen.«

Herr Goodworth beugte sich ein wenig nieder. Zack sah sich erst listig nach seinem Vater um, dann seinen Mund dicht an seines Großvaters Ohr legend, teilte er ihm das Resultat, zu welchem er nach den Ereignissen des Tages gekommen war, in folgenden Worten mit:

»Großpapa, ich hasse den Sonntag.«

Zur Zeit, als sich die soeben erzählte Episode in dem Leben des Zacharias Thorpe jun. zutrug, das heißt im Jahre 1837, war Baregrove Square die von der City entfernteste und dem freien Felde am nächsten liegende aller damals in der nordwestlichen Vorstadt Londons existierenden Straßen; aber nach Verlauf von vierzehn Jahren, das heißt im Jahre 1851, hatte Baregrove Square seinen unterscheidenden Charakter gänzlich verloren, andere Squares hatten daraus jene letzten Überbleibsel der gesunden ländlichen Atmosphäre entfernt, wovon ihr guter Name abgeleitet war, andere Straßen, Häuserreihen und Landsitze hatten sich ohne Mitleid zwischen die alte Vorstadt und das freie Feld eingedrängt und für immer die nachbarlichen Verbindungen zwischen dem Pflaster von Baregrove Square und den Fußsteigen der lieblichen Felder vernichtet.

Alexanders und Napoleons Armeen waren große Eroberer, aber die neueren Guerillaregimenter des Kalktroges, der Maurerkelle und der Ziegelhütte sind die größten Eroberer von allen; denn sie behaupten den Boden, welchen sie einst besessen haben, am längsten. Welches demolierte Kastell, aus dessen zerfallenen Mauern die feindliche Flagge weht, sah jemals so gänzlich verlassen aus, als eine arme Feldfestung der Natur, von allen Seiten durch das gemauerte Lager des Feindes eingeschlossen und entehrt durch ein feindliches Banner von Pfahl und Brett, worauf des Eroberers Devise steht: »Dieses Stück Land kann zu Baustellen abgegeben werden.« O! Ihr entschlossenen Guerillaregimenter des Kalktroges, der Kelle und der Ziegelhütte! Der Spaziergänger, der gleich mit Tagesanbruch seine Wanderung nach den Plätzen beginnt, welche ihr noch für eine kurze Zeit unversehrt gelassen habt, hört im Geheimen sonderbare Dinge von euch, wenn er gehorsam die alte ursprüngliche Sprache der Blätter auslegt und den gefährdeten Bäumen lauscht, die in seiner Nähe traurig die letzten dahinsterbenden Töne ihres ehemaligen Abendliedes flüstern.

Der neue Anbau, der anfänglich viele Hindernisse zu bekämpfen gehabt hatte, bot, nur wenige zu höheren Preisen ausgenommen, drei verschiedenen Abteilungen der großen Mittelklassen unserer britischen Bevölkerung ein Unterkommen. Miete und Häuser waren stufenweise den großen, mäßigen und kleineren Einkünften der mittleren Klassen angepasst. Die Wohnungen für die Besitzer der großen Einkünfte wurden Herrenhäuser genannt und stachen sehr gegen die übrigen der Vorstadt dadurch ab, dass sie alle in einer weiten Reihe gebaut und an jeder Seite von zierlichen Toren umschlossen waren. Stuckaturarbeit im englisch-klassischen Stil war an diesen Gebäuden überall sichtbar. Treppenstufen und korinthische Säulenhallen, Torwege und Kutschenauffahrten bis zur Haustür, Gewächshäuser auf der einen und Remisen auf der andern Seite trugen mit vollem Rechte dazu bei, dass sie im genauesten Sinne des Wortes »Herrenhäuser« genannt werden konnten.

Es war ein merkwürdiges Resultat der besonderen Anwendung, welche bei der Gründung der neuen Kolonie befolgt wurde, dass sie die großen und kleinen Einkünfte durch ein gewisses Vereinigungsband einander näher brachte, was sicherlich den Bauunternehmern nie in den Sinn gekommen war. So wie die reiche Gegend von der allgemeinen Vorstadt eingeschlossen war, so war die arme daraus ausgeschlossen, die eine ebenso gut wie die andere dazu dienend, die zahlreichen Wohnungen für die Besitzer von mäßigen Einkünften an ihrem passenden Platze zusammenzuhalten, örtlich ebenso wie gesellig eingezwängt zwischen die hohen und niedrigen Extreme des Lebens rings um sich.

Die unglücklichen Besitzer der kleinen Einkünfte hatten den allerschlechtesten Teil des neuen Anbaues gänzlich für sich selbst und mussten jedes Geräusch und jede Beschwerde des vorstädtischen Lebens mit anhören und erdulden, während die Besitzer der großen dessen ganze Ruhe und Luxus genossen. Hier waren die traurigen Grenzen, an welchen die Baukunst mit ihrer Arbeit verzweifelnd innehielt. Jedes Haus in dem Fegefeuer dieses armen Mannes war wirklich und in fürchterlicher Buchstäblichkeit ein Steinkasten mit einem Schieferdach. Jedes in diese Kasten gebohrte Loch, es sei nun ein Loch in der Tür oder ein Fenster, war immer übermäßig mit Kindern angefüllt. Sie zählten oft zu fünfzig und sechzig in einer Straße und waren das charakteristische Kennzeichen des Viertels. In der Welt der großen Einkünfte entwickelte sich das junge Leben wie ein Springbrunnen im Garten, der nur zur bestimmten Zeit im Sonnenschein spielte. Bei den armen Leuten ergoss sich das junge Leben wie ein Strom auf die Straße, bei jedem Wetter wie eine unerschöpflich überfließende Gosse. Nach den Kindern der Bewohner kamen in sichtbarer Anzahl die Hemden und Unterröcke und verschiedene andere Wäsche derselben herumflatternd, um an gewissen Wochentagen im Freien getrocknet zu werden, und die so die baumlosen kleinen Gärten, wo sie hingen, belebten. Hier blühte in ihrer schönsten Entwicklung jene verzehrende Leidenschaft für Apfelsinen, wodurch sich das englische Mädchen besonders auszeichnet, und hier erzählte auch der verpestende Geruch der schlechten Zigarre, welche der feiernde Ladenjunge rauchte, allen Nasenlöchern, dass es Sonntag wäre, ebenso deutlich als die Kirchenglocken es verkünden konnten. Es war eine bleibende und merkwürdige Seltenheit, in irgendeinem Teile dieser Gegend an Wochentagen von neun Uhr morgens bis sechs Uhr abends einem Manne zu begegnen.

 

Was den großen mittleren Teil der Vorstadt anbetraf, die Gegend der mäßigen Einkünfte, welcher auf der einen Seite unregelmäßig zwischen der armen und auf der andern Seite zwischen der reichen hinlief, bis er die Felder erreichte, so spiegelte er genau das Leben derjenigen, welche ihn bewohnten, dadurch ab, dass er durchaus keinen besondern eigentümlichen Charakter darbot.

Einerseits ahmte die bessere Klasse von Häusern so prächtig als möglich die großartige Bauart der Herrenhäuser, welche den Vornehmen gehörten, nach, andererseits unterschied sich die schlechteste Klasse der Häuser nur wenig von den Steinkasten der Armen. So verlor die Gegend, was sie an dem einen Ende an schrecklicher Ruhe und überflüssiger Stille gewann, welche aus den verzierten Toren hervorkamen, wiederum durch das Geräusch und die Unreinlichkeit des Armenviertels am andern Ende.

Demjenigen, welcher das Leben betrachtet, welches in England unter den Leuten von mäßigem Einkommen vorherrschend ist, wird diese Art von Existenz, mit wenigen erstaunlichen Ausnahmen, mit keinem andern in irgendeinem Teile der zivilisierten Welt vergleichen können. In welchem andern Lande, als in dem unsrigen, ist der gesellige Genuss der mittlern Klassen mit geringem Einkommen so vorsichtig eines jeden unverfälschten eigentümlichen Wesens entblößt, um es nur zum schwachen Abklatsch des geselligen Vergnügens der höhern Klassen mit großen Einkommen zu machen? Geschieht dies irgendwo anders als in England, und ist es nicht handgreiflich betrübend wahr, dass während die höheren und niederen Klassen unserer Gesellschaft jede ihre eigenen, charakteristischen, unverfälschten Erholungen in ihren Mußestunden haben, welche gleichmäßig ihrem Vermögen und ihrem Geschmack entsprechen, die mittleren Klassen im Allgemeinen alles dies entbehren.

Das Leben in der neuen Vorstadt gab hiervon, wie überall in England, Beweise in Fülle. Um nur ein Beispiel von den Erholungen, die im Essen und Trinken bestehen und einen so großen Teil unserer Zeit in Anspruch nehmen, zu geben, wollen wir bloß anführen: Wenn die reichen Besitzer »der Herrenhäuser« im Park ihre großartigen Diners gaben und dabei so freigebig mit ihrem besten Champagner und ihren seltenen gastronomischen Delikatessen, wie es ihnen gefiel, waren, konnten die Mieter der Steinkasten gerade so gemächlich ihre Unterhaltung im Teegarten genießen und ihrerseits gerade so bereitwillig und gastfrei freigebig mit ihrem Bier, Tee, Butterbrot und Graneelen sein. Nicht so bei den Leuten von mäßigem Einkommen; sie schraken bei ihren geselligen Genüssen albern vor des armen Mannes Bier und Graneelen zurück; sie krochen verächtlich zu des reichen Mannes seltenen Weinen und luxuriösen Gerichten heran, gaben ihre Armut durch nachgemachten Champagner von schlechten Weinhändlern, durch schlecht schmeckenden Salat und stinkende Austernpasteten von schlechten Restaurateurs preis, blieben bei keiner ihrer Festlichkeiten ihrem Einkommen, ihrer Klasse oder sich selbst getreu und amüsierten sich deshalb niemals bei Gesellschaften, die sie gaben, und hatten niemals ein wirkliches Vergnügen dabei, was auch ihre Einladungskarten für ihre Gäste vom Gegenteil sagen mochten.

Am äußersten Ende jenes Teiles der neuen Vorstadt, welcher für die mittleren Klassen mit mäßigem Einkommen hergerichtet war, wohnte ein Herr Valentin Blyth mit Namen und seines Standes ein Maler, dessen Leben in mehr als einer Hinsicht einen sehr sonderbaren und schlagenden Kontrast von dem seiner meisten Nachbarn darbot. Als Herr Blyth zuerst seine Wohnung in dieser neuen Umgebung aufschlug, zog er ganz unbewusst alle Aufmerksamkeit, welche die ältern Ansiedler in der Kolonie übrig hatten, dadurch auf sich, dass er neben seinem Hause ein großes und komisch aussehendes Atelier baute und auf diese Weise die allgemeine Einförmigkeit in der Häuserreihe zerstörte. Von diesem Augenblicke an fingen die Leute, wie man zu sagen pflegt; von ihm zu sprechen an. Einige von den müßigeren Bewohnern zogen Erkundigungen bei Geschäftskunden ein und beobachteten den Maler und seine Hausgenossen neugierig zu Hause und auf der Straße. Die allgemeine Meinung, welche sich bald aus diesen Erkundigungen und Beobachtungen ergab, bestand darin, dass Herr Blyth eine sehr exzentrische Person sein müsste, da er allerlei Dinge machte, welche man gewöhnlich nicht machte, und dass er sich vorgenommen hatte, sich auf seine eigene Weise zu amüsieren, ohne sich im Geringsten um die Sitten und Gebräuche der reichen Aristokratie zu kümmern, welche sich in der benachbarten Abgeschlossenheit der Parktore hingepflanzt hatte.

Da man zu diesem Schlusse gekommen war und angenommen hatte, dass Herr Blyth alles eher als ein Gentleman wäre, würden sich seine Nachbarn wahrscheinlich wenig weiter um den neuen Bewohner gekümmert haben, hätte nicht irgendein besonderer Umstand, der mit ihm in Verbindung stand, einen tiefern Eindruck auf alle neugierigen Gemüter gemacht, als irgendeine seiner Sonderbarkeiten zusammen.

Es war mehr als bloße Vermutung, dass irgendein undurchdringliches Geheimis im innern Hause des Malers verborgen war.

Dass Herr Blyth verheiratet war, war so ziemlich klar, dass seine Frau sicher mit einer gewissen kranken Dame ein und dieselbe Persönlichkeit war, welche in das neue Haus, in viele Schals eingehüllt, getragen worden und niemals nachher wieder an der Tür oder am Fenster sichtbar wurde, eine Vermutung, die sehr fest stand.

Die Kranke war aber nicht das einzige weibliche Mitglied von Herrn Blyths häuslicher Umgebung. Es befand sich darin auch eine junge Dame, welche in seinem Hause lebte und ihn beständig auf seinen täglichen Spaziergängen begleitete. Das Gerücht ging, dass sie eine entzückend schöne Dame wäre, und dennoch konnte man niemals jemanden finden, der ihr Gesicht ganz gesehen hatte, weil sie unabänderlich ihren Schleier herunterzog, so oft sie ausging. Man behauptete und glaubte allgemein, dass Herr Blyth niemals jemandem gesagt hätte, wer sie wirklich wäre. Der Stadtklatsch bemächtigte sich bald dieses Gerüchts und Dienst- und Handelsleute beschäftigten sich besonders mit ihrem Charakter. In einigen Kreisen wurde die Vermutung aufgestellt, dass sie des Malers natürliche Tochter wäre, in andern, dass sie zu ihm in der Beziehung eines weibliches Modells stände oder etwas bei weitem Unanständigeres wäre, und ferner flüsterte man sich überall zu, dass sie, sie möge nun sein, wer sie wolle, das Opfer eines schrecklichen Unglückes wäre. Die Leute schüttelten ihre Köpfe, seufzten und murmelten »das arme Ding«, oder nahmen eine Miene. von zudringlichem Mitleid an und sagten, so oft sie von ihr in der gewöhnlichen Gesellschaft der Vorstadt sprachen: »ist das nicht ein trauriger Fall.«

Zweites Kapitel – Das Atelier

Es ist Winterwetter; nicht ein solcher Novemberwintertag, wie wir uns dessen vor vierzehn Jahren in Baregrove Square erinnern, sondern ein rauher frostiger Morgen im Januar. Die Aussicht nach dem freien Felde, welche man von den Fenstern des blythschen Hauses hat, ist dünn und glänzend in dem schönsten Gewande des reinsten Schnees, um die Morgensonne zu begrüßen. Der kalte, blaue Himmel ist wolkenlos. Jeder Laut draußen schlägt mit einem freudigen und fröhlichen Schall an das Ohr, jedes eben angezündete Feuer brennt glänzend fort, ohne dass man sich darum weiter kümmert; di Rotkehlchen sind dreister und zahmer als je an diesem Morgen und hüpfen erwartungsvoll auf Balkonen und Fensterabsätzen umher, als wenn sie nur auf eine Einladung warteten, hereinzuspazieren, um sich mit ihren größeren Mitgeschöpfen an dem freundlichen Herde zu wärmen.

Patty, das Hausmädchen, hat soeben ein großes Feuer in dem Atelier des Herrn Blyth angezündet. Sie wärmt sich am Feuer und starrt mit ehrwürdiger Unwissenheit die verschiedenen Kunstgegenstände an, die sie von allen Seiten umgeben.

Es befindet sich zufällig auch ein anderes weibliches Individuum in dem Atelier, um Patty Gesellschaft zu

leisten, welches als ein merkwürdiger Charakter eine besondere Beachtung verdient. Diese Dame starrt ebenfalls die Gegenstände, wie das Hausmädchen an, aber sie leidet augenscheinlich an einem heftigen Schmerze im Nacken und blickt immer unbeweglich nach derselben Richtung hin. Durch irgendeine außerordentliche Laune der Natur ist ihr Kopf gerade von ihrem Körper nach hinten gezogen, so dass ihr Gesicht mehr dem Rücken als ihrem Busen zustrebt. Sie ist von gewöhnlicher Größe und nicht zu fleischig; sie trägt über falschen Locken eine rote Fischermütze und darauf den Hut eines Kavaliers aus der Periode Karls I. mit einer zerknickten Feder. Einer ihrer Arme ist steif ausgedehnt, wie wenn er im Begriff wäre, eine bedeutungsvolle Bewegung zu machen. Der andere hängt an ihrer Seite, augenscheinlich von innen herausgewendet. Das Fleisch an diesen Gliedern ist von heller, braungelber Farbe. Ihr einziger Anzug ist eine Toga von blauem Merino, sehr alt, sehr schmutzig und sehr zerlumpt, aber unter einem Arm und über dem andern auf die genaueste klassische Weise zusammengehalten. Die eigentümliche Lage ihres Kopfes lässt sie glücklicherweise nicht bemerken, dass dieses Gewand vorne aufgegangen ist und ihre untern Extremitäten auf eine höchst unpassende Weise sichtbar werden.

Die unbeweglich unanständige Dame – alle englischen Frauen mögen sich trösten, wenn sie dies lesen – war eine Ausländerin. Sie war französischen Ursprungs, hatte eine seidene Haut, hölzerne Gelenke, war entfernt mit der unedlen Familie der Gliederpuppen verwandt und führte den barbarischen Namen Ia figure. Ihr Geschäft war, Herrn Blyth zu sitzen und beliebige Kleider zu tragen, zu denen er sie zu malen wünschte. Sie war bei der Köchin und dem Hausmädchen instinktmäßig verhasst und wird im Laufe der gegenwärtigen Erzählung stets im Lichte eines bleibenden schlechten Charakters erscheinen.

»Ich hasse das Ding!« sagt Patty verächtlich, die Toga der Dame wieder in Ordnung legend, als sie das Atelier verließ, »ich hasse das Ding! Es zeigt immer seine hässlichen seidenen Beine, womit man sie auch immer bekleiden mag. Wenn der Herr Dich haben muss, Du große bestialische Puppe, warum kauft er Dir nicht einen Unterrock? Aber es ist durchaus nicht hier, wie es sollte; ich sah niemals ein solches Zimmer, in welchem eine so schreckliche Unordnung herrschte.«

Patty hatte Recht. Ein romantisches Chaos herrschte in dem neuen Studierzimmer.

Es war ein großes luftiges Zimmer, das sein Licht von oben erhielt und sich durch das ganze Haus erstreckte. Die Mauern waren mit einfach schwarzem Papier bedeckt, der Fußboden nur in der Mitte mit einem Teppich belegt und die darin. befindlichen Möbel würden von einem Trödler höchstens auf zwanzig Pfund geschätzt worden sein. In allen vier Ecken waren breite hölzerne Regale angebracht, worauf alle Arten von großen und kleinen Gegenständen ohne alle Rücksicht auf Ordnung in kompakten Massen angehäuft waren. Gipsabdrücke waren in allen Arten auf diesen Regalen zu schauen und mit der launischsten Missachtung der Personen, Stellungen und Perioden, welche sie vorstellten, nebeneinander gebracht.

Bestaubte kleine Öl- und Firnissfläschchen, Farbentöpfe, alte Pinsel, Stückchen von Malertuch, Stücke weißer Kreide, zerrissene Bücher, Bindfadenknäuel, harter Kitt etc. füllten mit Dutzenden von ähnlichen Dingen die Zwischenräume der Abdrücke aus und veranlassten, dass, wenn man ein Ding, welches man brauchte, herunterholen wollte, zehn andere, deren man nicht benötigt war, von selbst herunter fielen.

Bilder ohne Namen in jedem unvollendeten Stadium, Skizzen von allen Größen und neue Kupferstiche dekorierten die Wände in eben solcher Unordnung wie die Abdrücke die Regale.

Die größern Kunstwerke bestanden aus Darstellungen eines italienischen, zum Feste geschmückten Bauernweibes, aus einem Patriarchen mit großem weißen Barte und brauner Gesichtsfarbe, aus einer felsigen Landschaft mit einem Wasserfall, aus einem pittoresken Bettelbuben, der grinsend seine Hand nach einer Gabe ausstreckte, aus einem weiblichen Kopfe, der in die Höhe, und aus einem Hundekopfe, welcher zu Boden blickte. Es waren auch zwei kleine Kopien von Rubens und eine große von Tizian vorhanden: unter den Dutzenden von Kupferstichen, welche an den Wänden hingen, befand sich ein Abdruck von Raphael, einer von Hogarth und einer von Teniers. Über dem Herde hing ein verrosteter Brustharnisch und ein Dolch. Unmittelbar über dem Kamine war der leere Raum dicht mit Schrift in weißer, schwarzer und roter Kreide bedeckt. Adressen von neuen Modellen, Verabredungen mit alten, kurze Zitate aus den Dichtern, Notizen über Abendbestellungen und häusliche Bedürfnisse, Empfangsanzeigen über Gemälde und eigene Gedanken über Kunst waren die Hauptgegenstände, welche auf diesem merkwürdigen Substitute eines Blythschen Taschentagebuches verzeichnet waren.

 

Die beiden auffallendsten Stücke Möbel im ganzen Atelier waren zwei große Staffeleien, auf jeder ein Bild von beträchtlicher Größe stehend, welche für jetzt mit einem Paar Betttüchern verdeckt waren, die der Wäsche schmerzlich entgegen sahen. Es stand auch ein Malerschrank darin mit einer Masse kleiner Schubladen, von denen einige zu voll, um sie öffnen, andere zu voll waren, um sie zumachen zu können; dann war auch eine bewegliche Plattform darin vorhanden, mit einem vom Staube zerfressenen, roten Tuche bedeckt, ein kleiner viereckiger Tisch von neuem Tannenholze und ein großer runder Tisch von altersschwachem Rosenholze, beide mit Skizzenbüchern, Mappen, Zeichenpapiere, Zinnbüchsen, umhergestreuten Pinseln, Palettenmessern, Lappen mit Farbe und Öl beschmutzt, Bleistiften etc. beladen, das Ganze überall fürchterlich nach Terpentin riechend.

Schließlich waren Stühle genug vorhanden, von denen jedoch keiner dem andern glich. In einer Ecke stand ein morscher antiker Stuhl mit einer hohen Lehne und ein Waschbecken mit schmutzigem Wasser auf dem Sitze. Über dem Kamine befand sich ein unbedeutender Strohstuhl nach dem Bienenkorbmuster mit Rosshaarkissen darauf, über einen Luxusstuhl gekippt. Vor dem größten der beiden Bilder und dicht neben einer tragbaren Treppe stand ein wackliger Comptoirstuhl. Auf der Plattform für die Sitzende lud ein moderner Lehnstuhl mit zerlumptem Überzug alle Modelle zu romantischer Ruhe ein. Dicht neben dem Tisch von Rosenholz war ein Schaukelstuhl hingestellt und zwischen den Füßen des Tannenholztisches war ein Feldstuhl und eine Matte übereinander geworfen. Mit einem Worte, jede merkwürdige Klasse der berühmten Familie Stuhl war in einer oder der andern Ecke im Atelier des Herrn Blyth dargestellt.

Alle übrigen kleinen Gegenstände, die auf den Regalen, Tischen und Stühlen nicht untergebracht werden konnten, ruheten in bequemer Verwirrung auf dem Fußboden.

Gerade am Eingange des Zimmers hatte er auf dem nackten Fußbodeu eine neue Schreibfeder und einen sehr kostspielig aussehenden Zobelabtreter hingemalt, damit die Ankommenden darauf treten möchten. Neue Besucher ließen sich beständig durch diese Nachahmungen so täuschen, dass sie sich unwillkürlich nach diesen Gegenständen bückten, und Herr Blyth freute sich stets über die Täuschung und die Verwunderung eines jeden neuen Opfers so übermäßig, als wenn der alte Scherz bei jeder darauf folgenden Gelegenheit ein neuer gewesen wäre.

So sah das Innere des Ateliers aus, nachdem der Eigentümer zwei Monate darin gehaust hatte.

Die Kirchenglocke der Vorstadt hat soeben zehn Uhr geschlagen, als sich schnelle leichte Tritte der Tür des Ateliers nähern. Ein Herr tritt ein, hüpft heiter über die nachgemachte Feder und den Abtreter und fängt dann, ans Feuer tretend, sich den Rücken zu wärmen und in Gedanken um sich sehend, das Lied »Tropfen Branntwein« im Mollton zu pfeifen an. Dieser Herr ist Herr Valentin Blyth.

Er sieht noch nicht ganz vierzig Jahre alt aus, ist in der Tat aber schon über fünfzig. Sein Gesicht ist rund und rosig und nirgends zeigt sich eine Runzel darin. Er hat große, funkelnde, schwarze Augen, trägt weder Backen-, Kinn- noch Schnurrbart und hat einen lebhaften Ausdruck von Gutmütigkeit in seinem Gesicht, welches man zum ersten Male nicht gut ohne Lachen betrachten kann. Er ist groß und stark, trägt immer sehr enge Beinkleider und schlägt seine Manschetten gewöhnlich über die Aufschläge seines Rockes zurück. Alle seine Bewegungen sind schnell und rastlos. Er scheint meistens auf seinen Zehen zu gehen und immer im Begriff zu sein, als wenn er zu tanzen oder zu springen oder zu laufen anfangen wollte, sobald er sich nur zu Hause oder auswärts von der Stelle bewegt. Wenn er spricht, hat er die sonderbare Gewohnheit, plötzlich seinen Kopf niederzubeugen und die Person, mit welcher er spricht, über die Schulter anzusehen. Diese und andere kleine persönliche Eigentümlichkeiten von ähnlicher Natur scheinen dazu beizutragen, ihn zu einem Manne zu machen, dem jedermann bei der ersten Vorstellung die Hand drückt.

Die Männer glauben, dass er einen Spatz versteht, die Mädchen wählen ihn zum männlichen Vertrauten aller ihrer Liebeleien, von welchen sie so gern sprechen, Kinder für ihren Fürsprecher, wenn sie einen Fehler begangen haben oder einen halben Feiertag erlangen wollen. In anderer Hinsicht ist er entschieden unpopulär unter jener großen Klasse von Engländern, deren einziges Thema bei der Unterhaltung öffentliche Übelstände und politische Missbräuche sind, denn er sieht alles von der besten Seite an und versteht nicht einmal den Unterschied zwischen einem liberalen Tory und einem müßigen Whig. Geschäftsleute halten ihn für einen Narren; geistreiche Frauen mit unabhängigen Ansichten zitieren ihn triumphierend als ein köstliches Muster des untergeordneten männlichen Geschlechtes. Von seiner Kunst abgesehen, in welcher er sich nicht gerade auszeichnet, scheint er wirklich keinen besondern Ruf im Leben zu haben – ausgenommen in Subskriptionslisten für arme Maler zu figurieren, hartnäckig von Straßenbettlern gesegnet zu werden und des Nachts immer von jedem herrenlosen Hunde, dem er zufällig begegnet, das Geleit zu erhalten.