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Achtes Kapitel – Ist er der Mann?

Am nächsten Morgen ward die dunkle einsame Straße von Baregrove-Square durch eine Prozession von drei schmucken Kutschen etwas belebt, welche dann vor Mr. Thorpes Tür anhielten. Aus jeder Kutsche stiegen Gentleman von hohem respektabeln Aussehen; alle waren in glänzend schwarze Gewänder gehüllt und trugen weiße Krawatten. Einer dieser Gentleman trug ein schönes silbernes Schreibzeug; ein anderer, welcher ihm folgte, hatte eine Rolle Glanzpapier in der Hand, die mit einem breiten Seidenbande von mäßiger Purpurfarbe umbunden war. Die Rolle enthielt eine Adresse an Mr. Thorpe, welche in sehr lobenden und bewundernden Worten seinen hohen Charakter pries – das Schreibzeug sollte ein Andenken sein – und die Gentleman waren sämtlich hochansehnliche Mitglieder der Religions-Societät, welcher Mr. Thorpe als Sekretär gedient hatte.

In der Straße hatte sich eine kleine bescheidene Menge müßiger Zuschauer versammelt, welche die Gentleman aussteigen sehen, die Adresse und das Schreibzeug bewundern wollten und welche gewahrten, dass Mr. Thorpes Diener seine beste Livree und die Hausmagd eine neue Mütze und ihren Sonntagsputz trug. Als die Personen und Gegenstände der Bewunderung in Mr. Thorpes Haus verschwunden und die Haustür geschlossen ward, zog noch eine andere Erscheinung die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Einer der Fußgänger hatte Erkundigungen über Bedeutung und Zweck der Deputation eingezogen, und während er das Gehörte einem andern Fußgänger umständlich erzählte, stand die neugierige Menge rund herum, um jedes Wort zuhören.

Einer dieser aufmerksamsten Horcher war ein dunkelbrauner starker Mann mit borstigem Bart und narbigen Wangen, welcher vom ersten Moment der Versammlung an bis jetzt auf dem Pflaster gestanden hatte. Er war von den Leuten fast ebenso sehr angestaunt worden, als die Deputation selbst. Man hielt ihn allgemein für einen ganz Fremden, aber in Wahrheit – er war englisch vom Kopf bis zum Fuß und es war kein anderer als Matthias Grice.

Mats Ansehen, als er so horchend und beobachtend unter der Menge stand, war jetzt ruhig und selbstbewusst. Aber es hatte ihm auf seinem einsamen Morgenspaziergange viel Mühe verursacht, diese ruhige Selbstbeherrschung zu erlangen, oder nach seiner Lieblingsphrase sein eigener Herr wieder zu werden.

Die staunende Ähnlichkeit zwischen Zacks und Arthur Carrs Haaren, und die letzten bemerkenswerten Worte, welche der Bursche am vorigen Abende gesprochen hatte, schienen Mats Geiste absolute Schlussbeweise zu sein, obgleich jeder andere hieraus noch keine sichere Schlussfolge gezogen hätte. Von dem Moment an, wo er die Haarlocke ins Feuer geworfen hatte, zweifelte er keinen Augenblick mehr, dass der Mann, welcher den Ruin seiner Schwester herbeigeführt hatte, und Zacks Vater eine und dieselbe Person sei. Obgleich er nun anscheinend sorglos und träge unter dem schwatzenden Straßenpublikum stand – so ging er dennoch innerlich mit dem Entschluss um, die erste beste Gelegenheit noch am heutigen Tage zu benutzen und in Mr. Thorpes Haus einzutreten. Er war fest entschlossen, das Geheimnis, welches er durch Vergleich mit Zacks Haaren entdeckt hatte, ganz zu durchdringen und zu enthüllen.

Das Auseinandergehen und Zerstreuen der müßigen Zuschauer ward durch einen starken Regen sehr beschleunigt. Nach der Winterkälte war ein mildes Frühlingswetter eingetreten, so dass es schien, als wäre der April einen Monat früher gekommen. Trotz des starken Regens wanderte Mat in den angrenzenden Straßen von Baregrove-Square auf und ab und zeigte sich dann und wann in der Ferne, um zu sehen, ob die Equipagen noch vor Mr. Thorpes Hause standen. Die Zeremonie des Überreichens der Adresse dauerte ziemlich lange, denn der Hochgeehrte ließ die Überbringer derselben nicht sobald wieder scheiden. Der Regen hatte endlich aufgehört – die belebende Sonne erschien in strahlender Herrlichkeit – aber bald zogen wieder andere Wolken heran und drohten mit einem zweiten Schauer, bevor die Deputation der großen Religion-Societät ihre Mission bei Mr. Thorpe erfüllt und Baregrove-Square wieder verlassen hatte.

Als diese fremden Männer sich endlich entfernt hatten, trat Mat in die Straße und näherte sich Mr. Thorpes Hause. Während er an die Tür klopfte, verhüllten düstere schwarze Wolken die Sonne und die ersten Tropfen eines neuen Schauers begannen zu fallen.

Der Bediente zauderte, ihn vorzulassen. Mat hatte aber schon vorausgesehen, dass ihm dies Hindernis begegnen würde, und sich darauf vorbereitet. »Sagt Eurem Herrn, dass sein Sohn krank sei, und ich deshalb käme, um mit ihm darüber zu sprechen.«

Diese Botschaft ward überbracht und hatte den gewünschten Erfolg. Mat wurde sogleich in das Gastzimmer geführt.

Die Stühle, auf welchen die Mitglieder der Deputation gesessen hatten, waren noch nicht bei Seite gestellt, – das schöne silberne Schreibzeug stand auf der Tafel und nebenan lag die auf das feinste weiße Papier wundervoll schön geschriebene Adresse. Mr. Thorpe stand am Kamin, bog sich nach der Tafel und beschaute mechanisch die Unterschriften der Adresse, während der fremde Besucher zur Treppe herauf geleitet wurde.

Mats Ankunft war gerade in demselben Augenblicke geschehen, wo Mr. Thorpe in Begriff stand, sich zu seiner Gemahlin zu begeben, um ihr die Zeremonie der Überreichung zu schildern, weil sie durch ihre Erkältung verhindert worden war, derselben beizuwohnen. Er hielt an, und das schwache Lächeln seines Antlitzes verschwand plötzlich, als die Neuigkeit von seines Sohnes Krankheit sein Ohr erreichte. Die hektische Röte seiner Wangen wurde aber noch glänzender, als Matthias Grice eintrat.

»Sie sind gekommen, Sir«, begann Mr. Thorpe, »um mir zu sagen —« er zauderte, stammelte noch einige Worte und stockte dann, ohne eine Silbe zu sprechen. Etwas in dem Ausdruck des finsteren Antlitzes, das unter der schwarzen Gehirnschädelkappe traurig hervorblickte, bewirkte, dass ihm jedes weitere Wort auf der Lippe erstarb.

In seinem gegenwärtigen nervösen schwächlichen Zustande musste jede plötzliche Gemütsbewegung ihn der Selbstkontrolle berauben, was sich natürlich auch durch Sprache und Manier sehr peinlich offenbarte.

Mat sagte nicht ein Wort, um das Schweigen zu brechen.

Stand er in diesem Augenblick wirklich Arthur Carr von Angesicht zu Angesicht gegenüber? Konnte diese schwächliche, magere Gestalt mit der gedrückten Brust und den blassroten runzeligen Wangen jener Mann sein, welcher Marias Elend verursachte und sie unter die wilden Brombeersträucher und faulen Sümpfe auf Bangburys Kirchhof brachte?

»Sie sind gekommen, Sir«, fuhr Mr. Thorpe fort, indem er sich wieder ermannte, »mir Neues über meinen Sohn zu sagen, über den ich nicht ganz unvorbereitet bin. Ich hörte gestern von ihm, und obgleich es mir zuerst nicht auffiel, so bemerkte ich doch später, dass der mir überbrachte Brief nicht von seiner Hand geschrieben war. Meine Nerven sind nicht sehr stark und wurden schon diesen Morgen freudig – sehr freudig erregt durch so viel Güte, Bewunderung und Sympathie, wie selten einem Menschen zuteil wird. Daher bitte ich Sie, wenn Ihre Neuigkeit etwas betrübender Natur sein sollte, – was Gott verhüten möge – dieselbe —«

»Meine Neuigkeit ist folgende«, unterbrach ihn Mat. »Ihr Sohn ist am Kopfe verletzt, befindet sich aber jetzt außer Gefahr. Er lebt mit mir, ich liebe ihn und werde so lange für ihn sorgen, bis er wieder auf die Beine kommt. Das ist meine Neuigkeit über Ihren Sohn. Es ist aber noch nicht alles, was ich zu sagen habe. Ich bringe Ihnen Neuigkeiten von jemand anders.«

»Wollen Sie nicht gefälligst Platz nehmen und sich näher erklären?«

Sie setzten sich vis à vis an die Tafel, so dass die Adresse und das Schreibzeug zwischen ihnen lagen. Der Regenschauer begann draußen gewaltig zu toben; die Schritte der eilenden Fußgänger schallten während des Schweigens in das Zimmer herauf. Mr. Thorpe eröffnete dann wieder das Gespräch.

»Darf ich Sie um Ihren werten Namen bitten?« fragte er mit niedergeschlagener schwacher Stimme.

Mat tat, als ob er die Frage nicht hörte, nahm die Adresse von der Tafel, las die Unterschriften und wandte sich dann zu Mr. Thorpe.

»Ich habe hiervon gehört«, sagte er. »Sind alle diese Unterzeichner Freunde von Ihnen?«

Mr. Thorpe blickte ein klein wenig erstaunt, antwortete aber dann nach einigem Zaudern: —

»Sicherlich; die wertgeschätzten Freunde, die ich in der Welt habe.«

»Freunde«, fuhr Mat weiter fort und las für sich die einleitende Sentenz der Adresse: »welche das größte Vertrauen in Sie gesetzt haben.«

Mr. Thorpe ward noch erstaunter und schien sich etwas beleidigt zu fühlen. »Werden Sie gütigst entschuldigen«, sagte er kühl, »wenn ich Sie bitte, zu dem Geschäft überzugehen, das Sie hierher geführt.«

Mat breitete die Adresse auf der Tafel vor ihm aus und nahm einen Bleistift zur Hand.

»Freunde, welche das größte Vertrauen in Sie gesetzt haben«, wiederholte er. »Der Name eines andern Freundes steht nicht hier. Und doch sollte es so sein; ich meine, ihn darauf zu setzen.«

Als der Bleistift das Papier berührte, sprang Mr. Thorpe vom Stuhle auf. »Was soll ich von einem solchen Betragen halten, Sir!« sprach er und griff nach der Adresse. Mat blickte ihn mit dem Schlangenglanz seiner Augen an, während die alten Narben seiner Wangen zu glühen begannen. »Setzen Sie sich nieder«, sagte er. »Ich bin nicht Willens zu schreiben. Setzen Sie sich nieder und warten Sie, bis ich in Begriff bin, es zu tun.«

Mr. Thorpes Antlitz zeigte etwas Gemütsaufregung. Er ging einen Schritt zum Kamin und wollte klingeln. »Setzen Sie sich nieder und warten Sie«, wiederholte Mat jetzt schnell und gebietend, erhob sich vom Sessel und zeigte sehr peremptorisch auf Mr. Thorpes leeren Stuhl.

Ein plötzlicher Zweifel durchkreiste des letzteren Geist, er zauderte und pausierte, bevor er die Klingel zog. Konnte dieser Mann bei gesunder Vernunft sein? Seine Handlungen waren ganz unerklärlich – seine Worte und die Art der Äußerung höchst befremdend – sein narbiges, mürrisches Gesicht blickte gar nicht menschlich in diesem Augenblick. Würde es wohl angemessen sein, Hilfe zu rufen? – Nein, schlechter als nutzlos. Außer dem Diener, welcher fast noch ein Knabe war, befanden sich nur weibliche Dienerinnen im Hause. Als er dies bedachte, setzte er sich nieder, und während dem begann Mat langsam und plump, auf den leeren Raum unter die letzten Unterschriften zu schreiben. —

 

Der Himmel verfinsterte sich beinahe zur Nacht, der Regen peitschte in Strömen herunter. Als Mat den letzten Buchstaben geschrieben hatte, überreichte er die Adresse an Mr. Thorpe.

Dieser blickte hin – und las – Marie Grice. Sein Angesicht ward totenfarbig – er sank auf den Stuhl nieder – ein schwacher Schrei entrang sich seinen Lippen – dann war es still.

Sein unterdrückter, dumpfer Schrei hatte ihn verraten – er war der Mann. Er hatte sich selbst verraten, bevor er schaudernd in den Stuhl sank; niedergekauert lag er da und presste die Hände konvulsivisch über sein Antlitz.

Mat erhob sich, betrachtete ihn mitleidslos von Kopf bis zum Fuß und sprach dann: »Nicht ein einziger Freund von den hier unterzeichneten (er zeigte auf die Namensunterschriften der Adresse) setzte so viel zärtliches Vertrauen in Sie, als Marie es getan hat. Als ich zuerst ihr Grab auf dem fremden Kirchhofe sah, sagte ich zu mir selbst, ich werde quitt machen mit dem Manne, der sie hierher geführt. Heute bin ich hier, um mit Ihnen quitt zu machen! Carr oder Thorpe, wie Sie sich nennen mögen, ich weiß, wie Sie sie von Anfang bis zum Ende behandelt haben. Ihr Vater war mein Vater, ihr Name ist mein Name! Sie waren vor dreiundzwanzig Jahren ihr schlechtester Feind! und heute sind Sie mir der verworfenste Feind. Ich bin ihr Bruder Matthias Grice.«

Als er dies sagte, blickte er nach Thorpe; die Hände dieser noch schaudernden Figur waren vom Antlitz gesunken, entsetzlich, schauerlich hatten sich die Muskeln verzogen, in den Augen lag eine Todesstarrheit; diese fürchterlich zitternde Gesichtsverzerrung hätte beinah Mats Festigkeit erschüttert. Er wandte sich nach seinem Stuhl, ließ sich mürrisch nieder und sprach kein Wort.

Ein dumpfes Gemurmel und Seufzen, einige vereinzelte Worte machten sich schwach hörbar und bewogen Mat sich umzublicken. Das entsetzliche Totenantlitz hatte sich etwas gemildert. Die vereinzelten Worte wurden in derselben klagenden und jammernden Weise wiederholt. Dann und wann wurde auch eine nur halb vollendete Phrase hörbar; er hielt die Hände wieder vor sein Gesicht und stammelte: »Mitleid für mein Weib – akzeptieren Sie die Gewissensbisse und Reue vieler Jahre – ersparen Sie mir die Schande —«

Nach den letzten Worten hörte Mat auf nichts mehr. Die mitleidslose Rache war wieder mächtiger in ihm erwacht.

»Ihnen die Schande ersparen?« wiederholte er und starrte ihn an. »Haben Sie ihr die Schande erspart? —«

Jetzt fielen Thorpes Hände wieder vom Gesicht und es zeigte sich abermals in schauerlicher furchtbar schrecklicher Todesstarrheit. Diesmal prallte aber Mat nicht zurück. Es war keine Gnade und Barmherzigkeit weder in seinen Blicken noch in seiner Stimme, als er sprach:

»Was! Es würde Euch schänden, würde es? Dann soll es Euch schänden! Sie haben es als ein Geheimnis bewahrt, haben Sie? Sie sollen das Geheimnis noch jeder Seele bekennen, die in Ihr Haus kommt. Sie sollen Mariens Schande tragen, Mariens Tod bekennen und ihr Kind vor allen denen anerkennen, deren Name hier auf dem Papiere stehen! – Dies alles sollen Sie – und womöglich morgen! Ich werde das Mädchen mit hierher bringen, und wenn ich Ihnen dann mit ihr gegenüber stehe —«

Er stockte. Die trauernde Figur versuchte, sich vom Stuhle empor zu heben, streckte Mat eine blassgelbe Hand langsam entgegen, starrte ihn mit den furchtsam blickenden Augen an, die blassen Lippen murmelten unverständlich – dann stammelten sie einige mal schnell, aber schwach:

»Marias Kind?«

»Ja!« sagte er kalt und mitleidslos »Ja, Mariens Kind. Ihr Kind. Haben Sie es noch nicht gesehen? Ist es das, worüber Sie zittern und beben? Gehen Sie und sehen Sie es, – es lebt in Schussweite von hier. Fragen Sie Zacks Freund, den Maler; er wird Ihnen das taubstumme Kind zeigen, das er von den Kunstreitern aufgenommen hat. Blicken Sie her – blicken Sie auf dieses Bracelet! Erinnern Sie sich Ihres eigenen Haares hieran? Die Hände, welche Marias Kind aufbrachten, nahmen das Bracelet aus ihrer Tasche. Sehen Sie es an! Blicken Sie es noch einmal genau —«

Er stockte abermals. Die gebrechliche Figur, welche langsam vom Stuhle aufzuwanken strebte, sank plötzlich wieder nieder, als er ihr das Haarbracelet vorhielt; die Augenlider schlossen sich halb – eine große Todesruhe verbreitete sich über das Antlitz – Mat hörte nur leise Atemzüge, aber keinen Schrei – kein Wimmern und kein Seufzen – nichts war hörbar als nur der strömende Regen auf dem Straßenpflaster.

»Tot?«

Ein Gedanke an Zack erwachte und beunruhigte sein Herz.

Er zauderte einen Augenblick, bog sich dann über den Stuhl herüber und legte seine Hand auf die Brust der tot scheinenden Figur. Nur ein schwaches Zittern war fühlbar und der Puls schlug ohnmächtig schwach. Es war nicht der Tod, den er schaute – aber seine nächste Nachbarin – die Ohnmacht.

Er stand noch einige Minuten und blickte das stille, gelblich weiße Totengesicht an, – murmelte dann: »Wenn ich und Zack nicht wie Brüder zusammengelebt hätten. —« Er beendigte den Gedanken nicht, sondern nahm eilig seinen Hut und verließ das Zimmer.

Unten im Hause traf er eine weibliche Dienerin, welche ihm die Haustür öffnete.

»Dein Herr bedarf Deiner«, sagte er zu ihr mit einer Art Anstrengung und verließ das Haus.

Neuntes Kapitel – Die Rache

Weder rechts noch links blickend, weder wissend wo er war, noch sorgend wo er hinkam, rann Matthias Grice eilig fort. Es fügte sich, dass er in die Straße kam, welche in die entlegene Vorstadt führte, wo Mr. Blyth wohnte. Mat folgte mechanisch dieser Straße, warf weder einen Blick auf des Malers Wohnung, als er vorbeiging, noch auf die Droschke mit Gepäck, welche vor dessen Gartentür anhielt. Hätte er nur im geringsten hingeschaut, so würde er Valentin darin haben sitzen und das Fahrgeld zählen sehen.

Aber er wanderte fort gerade aus und beachtete gar nichts. Der Regenschauer war beinah vorüber und durch Nebel und Wolken drangen die Strahlen des wiederkehrenden Sonnenlichts belebend und erwärmend in sein Angesicht

Obgleich er sich selbst beherrschte und nichts äußerlich wahrnehmen ließ, so tobte dennoch eine heftige Gemütsaufregung in seinem Innern. Der Name Zack war öfters auf seinen Lippen, dabei variierte er beständig in seinem Gange, jetzt eilend, dann langsam und schlaff. Es war bereits Abend, als er erst die Richtung nach seiner Wohnung nahm, und bereits Nacht, bevor er an Zacks Bette saß.

»Mir ist jetzt ein Teil besser, Mat«, sagte Zack in Beantwortung der ersten Frage. »Blyth ist zurückgekommen und hat ein paar Stunden neben mir gesessen. Wo seid Ihr die ganze Zeit her gewesen, alter rastloser Eisenmann?« fragte Zack in seiner leichtherzigen Manier.

»Es ist ein Brief für Euch angekommen, die Hauswirtin sagte, sie wolle ihn auf die Tafel im Vorderzimmer legen.«

Matthias fand und öffnete den Brief, welcher zwei Schreiben enthielt. Das eine war an Mr. Blyth adressiert und das andere hatte keine Adresse. Die Handschrift war ihm fremd, er blickte ans Ende und las den Namen Thorpe. »Warte ein wenig«, sagte er, als Zack zu sprechen begann, »ich will erst meinen Brief lesen, dann wollen wir reden.«

Der Inhalt, den er für sich las, war folgender: —

»Einige Stunden sind verflossen, seit Sie mein Haus verließen. Ich habe etwas Zeit gehabt, wieder ein klein wenig Kraft und Fassung zu gewinnen, und habe solchen Rat und Beistand erhalten, welcher mich befähigte, Nutzen daraus zu ziehen. Jetzt, wo ich weiß, dass ich ruhig schreiben kann, sende ich Ihnen diesen Brief. Ich will Sie nicht fragen, wodurch Sie Kenntnis von dem schuldvollen Geheimnis erhielten, das ich vor jedermann, – ganz besonders vor meiner Frau – verborgen hielt, – sondern Ihnen eine Erklärung und ein solches Bekenntnis geben, wie Sie das Recht haben, von mir zu verlangen. Ich bestreite dies Recht nicht, – ich gestehe es Ihnen zu, ohne einen weiteren Beweis zu verlangen, als Ihre Handlungen, Ihre grausamen Worte und das Haarbracelet mir schon gegeben haben.

Es ist schicklich, Ihnen zuvor zu sagen, dass der angenommene Name, unter dem ich in Dibbledean bekannt war, seinen Ursprung in einem törichten Scherze hatte, – in einer Wette, dass mich einige Bekannte – welche meine Neigung zum Botanisieren lächerlich machten und mich stets verfolgten, um mich in meiner Beschäftigung zu stören – nicht auffinden und meine Spur in meiner ländlichen Zurückgezogenheit nicht zu entdecken vermöchten. Ich ging nach Dibbledean, weil dessen Nachbarschaft durch seltene Spezies Farnkräuter berühmt war, welche ich zu besitzen wünschte. Daher nahm ich den Namen an, um ganz sicher zu sein, nicht von meinen Freunden aufgefunden und gestört zu werden. Nur mein Vater war in das Geheimnis eingeweiht und besuchte mich einige mal in meiner Zurückgezogenheit. Ich habe keine Entschuldigung dafür, dass ich meinen falschen Namen noch zu einer Zeit fortführte, wo ich genötigt und verpflichtet war, redlich und offen über mich und meine Lebensstellung zu sein. Mein Betragen war unverzeihlich und strafbar in dieser Hinsicht, wie in noch andern Verhältnissen.

Was sich in Dibbledean ereignete, darüber kann ich nicht sprechen – Scham und Reue gestattet mir nicht, darüber zu schreiben.

Mein Aufenthalt in dem Landhaus währte viel länger als mein Vater erlaubt haben würde, wenn ich ihn nicht getäuscht hätte und wenn er nicht zu sehr durch unvorhergesehene Geschäftsschwierigkeiten mit einem fremden Kaufmanne in Anspruch genommen worden wäre.

Diese Schwierigkeiten häuften sich zuletzt so sehr, dass seine Gesundheit darunter brach. Seine Gegenwart, oder die Gegenwart einer dazu besonders qualifizierten Person, welche ihn in Deutschland – wo eines seiner Geschäftshäuser durch einen Agenten geführt ward – zu vertreten vermochte, war durchaus notwendig. Ich war sein einziger Sohn; er hatte mich als Teilnehmer in seinem Londoner Hause aufgenommen und mir dennoch erlaubt, viele Monate lang abwesend zu sein, um meine Lieblingsbeschäftigung treiben zu können. Als er mir aber schrieb, dass ein großer Teil unseres Eigentums verloren ginge, wenn ich nicht eine Reise nach Deutschland unternähme, woran er durch sein Unwohlsein verhindert sei – so hatte ich keine andere Wahl, als mich ihm sogleich zur Verfügung zu stellen.

Ich reiste mit dem Gedanken ab, dass meine Abwesenheit nicht länger als drei bis vier Monate höchstens dauern würde. Ich schrieb Ihrer Schwester beständig; denn obgleich ich indelikat und leichtsinnig mit ihr umgegangen war, so kam doch niemals ein Gedanke in mein Herz, sie zu verlassen: meine teuersten Hoffnungen jener Zeit waren darauf gesetzt, ihr Gatte zu werden. Nicht einer meiner Briefe ward beantwortet. Ich ward in Deutschland so lange zurückgehalten, als ich ursprünglich zugestanden hatte. In meiner Angst wagte ich, zweimal an Ihren Vater zu schreiben. Aber beide Briefe blieben ebenfalls unbeantwortet. Als ich dann wieder zurück nach England kam, sandte ich sogleich eine zuverlässige Person nach Dibbledean, um Nachforschungen anzustellen, welche ich aus Angst und Furcht nicht zu machen wagte. Mein Bote ward mit der schrecklichen Nachricht – von Ihrer Schwester Flucht und Tod – vor der Haustür abgefertigt.

Es entstand in mir sogleich der Verdacht, dass meine Briefe unterschlagen worden seien. Die Heftigkeit meines Grams und meiner Verzweiflung, welche mir das Ereignis hinsichtlich Ihrer Schwester verursachte, war zu groß, und ich betrachtete dies als die Folge meiner Sünden. Es mag Ihnen befremdend erscheinen, dass dieser Gedanke nicht früher in mir entstand. Es würde Ihnen aber vielleicht nicht länger mehr so erscheinen, wenn ich Ihnen das eigentümliche System der heimischen Erziehung speziell schildern könnte. Mein Vater war sehr streng und gewissenhaft bestrebt, mich – mehr als alle andern jungen Menschen – nicht mit der moralisch gesunkenen Welt in Berührung kommen zu lassen. Doch es wäre nutzlos, hierbei noch länger zu verweilen. Keine Erklärungen vermögen die vergangenen Begebenheiten zu ändern und die Schuld zu mindern.

Ängstlich besorgt – obgleich geheim und unter Zittern und Zagen – veranstaltete ich Nachforschungen, um Gewissheit zu erlangen, ob das Kind noch lebe oder nicht. Sie wurden lange fortgesetzt, aber erfolglos; – erfolglos vielleicht, wie ich jetzt in bitterer Betrübnis denke, weil ich das Nachforschen andern anvertraute und nicht den Mut hatte, es öffentlich zu tun.

 

Zwei Jahre später verheiratete ich mich unter Umständen nicht gewöhnlicher Art, – unter was für Umständen – haben Sie wohl nicht Anspruch zu fragen. Jene Lebensperiode ist mein und meiner Frau Geheimnis, und gehört nur uns allein an.

Ich habe nun lange genug dabei verweilt, Sie über den Anteil meiner schweren Schuld in den vergangenen Ereignissen aufzuklären. Jetzt habe ich noch einige Worte über die Gegenwart und Zukunft mit Ihnen zu reden.

Sie haben erklärt, dass ich meine Schuld büßen soll, indem Sie mein schmachvolles Geheimnis allen meinen Freunden mitteilen wollen, wie sehr ich Ihre Schwester geschändet und ihr qualvolle Leiden verursacht habe.

Mein ganzes Leben war bisher eine lange Büßung für das begangene Unrecht. Meine zerrüttete Gesundheit, meine geheimen Sorgen, mein schmerzlich tiefer Kummer, ohne Trost und Teilnahme einer vertrauten Seele – haben mich seit Jahren härter bestraft und vor der Zeit mehr gealtert, als Sie wohl denken mögen. Wünschen Sie mich noch viel schmerzlicher, noch grauenhafter leiden zu sehen? Wenn das ist, so mögen Sie den siegreichen Triumph genießen, dass sie es bereits verhängt und schon bewirkt haben. Ihre Drohungen, von denen ich glaube, dass Sie der Mann dazu sind, sie auszuführen – werden mich in wenig Stunden aus der sozialen Sphäre treiben, in welcher ich bisher gelebt habe und wo ich noch heute von meinen teuersten Freunden so hoch geehrt wurde. Sie werden mich gerade in dem Moment aus meiner Heimat treiben, wo mein Sohn mich zärtlich gebeten hat, ihn in mein Haus zurück zu nehmen.

Diese Prüfungen, so schwer sie auch sind, bin ich bereit, zu ertragen, sie in Demut zu empfangen und als Sühneopfer meiner Sünden zu betrachten. Aber mehr, ich habe nicht die Kraft zu einem nochmaligen Begegnen. Ich kann nicht einer solchen Bloßstellung gegenüber stehen, womit Sie mich niederschmettern. Die Sorge, ja ich kann wohl sagen, die Schwäche meines Lebens ist gewesen, die Achtung von andern zu gewinnen und zu erhalten. Sie sind in Begriff, durch Enthüllung des Verbrechens, das meine Tugend entehrt, meinen guten Ruf zu vernichten. Ich kann es über mich ergehen lassen als einen wohlverdienten Teil meiner Strafe, aber ich habe nicht den Mut zu warten und Ihre Vollziehung mit anzusehen. Mein Inneres sagt mir, dass ich nicht mehr lange zu leben habe, aber meine Überzeugung versichert mir, dass ich mich nicht schicklich zum Tode vorbereiten kann, bevor ich nicht weit, weit von weltlichen Interessen, weltlichem Leid und Schmerz entfernt bin. Das Entsetzen und der Schrecken der öffentlichen Schande ist mehr als ich ertragen kann, ist das Ende meines qualvollen Leben. Wir haben uns zum letzten mal gesehen in dieser Welt. Die Minuten meines Daseins sind gezählt! Noch in dieser Nacht werde ich jenseits Ihrer Rache sein; noch in der Nacht werde ich zu einer Zufluchtsstätte reisen, wo der Rest meines qualvollen Lebens vor Ihnen und vor allen Menschen verborgen sein wird.

Jetzt bleibt mir nur noch eine Erwähnung der zwei eingeschlossenen Briefe.

Der erste ist an Mr. Blyth adressiert. Mögen Sie denselben in seine Hände bringen, denn ich wage aus Scham nicht direkt mit ihm zu korrespondieren. Wenn das, was Sie über mein Kind sagten, die Wahrheit ist und ich kann es nicht bezweifeln – dann habe ich in meiner Unwissenheit von ihrer Identität, durch meine Entfremdung von Mr. Blyths Hause, seitdem sie dort eingetreten ist, unwissentlich eine große Beleidigung gegen Mr. Blyth begangen, welche keine Reue angemessen auszusöhnen vermag. Jetzt in der Tat fühle ich, wie dünkelhaft unbarmherzig mich die Schändlichkeit meiner eigenen Sünde verleitet hat, andere damit zu beschuldigen. Jetzt also weiß ich, dass, wenn Sie die Wahrheit gesprochen, ich mich sehr gegen Mr. Blyth vergangen habe, als er das letzte mal in meinem Hause war – Ich häufte die Schande meines eigenen verlassenen Kindes auf den braven Mann, welcher so edel und zärtlich gegen sie war und ihr ein Asyl in seinem eigenen Hause gab. Der unaussprechliche Schrecken und die Angst darüber wären allein fähig, mir den Tod zu geben. Ich wundere mich jetzt, dass ich mich sobald wieder von dem Schauder erholt habe.

Es steht Ihnen frei, in Mr. Blyths Brief zu blicken, wenn es Ihnen beliebt; ich habe Ihnen denselben anvertraut. Außer dem Bekenntnis meiner Scham, meines Kummers und meiner aufrichtigen Reue, enthält derselbe einige Fragen an Mr. Blyth, welche er in seiner christlichen Mildherzigkeit gewiss bereitwillig beantworten wird. Die Fragen beziehen sich auf des Kindes Idealität, und die darin verzeichnete Adresse ist die meines Rechtsanwaltes und Agenten in London. Er wird mir die Dokumente besorgen und mit Mr. Blyth ein Arrangement treffen, auf welche Art seinem Adoptivkind ein Teil meines Vermögens zugesichert werden kann. Er hat ihre Liebe verdient, daher überlasse ich ihm dankerfüllten Herzens das Kind. Ich selbst bin nicht wert, ihr nur in das Angesicht zu sehen.

Der zweite Brief ist an meinen Sohn und ihm dann zu übergeben, wenn Sie ihm seines Vaters Vergehen mitgeteilt haben. Sollte noch eine Regung von Barmherzigkeit und Verzeihung gegen mich in Ihrem Herzen wohnen und Sie das Geheimnis meinem Sohne nicht offenbaren wollen, so zerreißen Sie den Brief und sagen Sie ihm, dass er in dem Hause meines Agenten eine Kommunikation mit mir finden werde. Er bat mich um Verzeihung – sie ist ihm vollständig gewährt. Ich lebe der Hoffnung, dass er auch mir die gegen ihn ausgeübte Strenge verzeihen wird; sie war nur aus der ehrbaren Absicht entstanden, um ihn vor einem ähnlichen Falle, wie der seines Vaters war, zu bewahren; aber ich glaube jetzt, sie war zu hart und langandauernd. Ich habe für diesen Irrtum und für noch andere schwer gebüßt; schwerer noch würde ich leiden, wenn er seine Heimat ganz und gar verließe; dann wünschte ich, ihn niemals gekannt zu haben. Seien Sie gütig mit ihm und besonders jetzt, da er krank ist, seien Sie es seiner Mutter wegen.

Meine Hand wird immer schwächer, ich kann nicht mehr schreiben. In Reue, Kummer und Scham bitte ich Sie jetzt um Verzeihung, – wenn es Ihnen möglich ist, mir dieselbe zu gewähren.«

Damit endete das Schreiben.

Matthias hielt es noch eine Weile in der Hand. Er blickte einige mal auf das Schreiben Mr. Thorpes an seinen Sohn, welches auf der Tafel lag – aber ohne es zu zerreißen, noch zu berühren.

Während Mat noch las, begann Zack im Schlafzimmer zu sprechen.

»Ich denke, Ihr müsst nun Euren Brief zu Ende gelesen haben, Mat. Soeben dachte ich an unser Gespräch über unsere Reise nach Amerika, – alter Junge, – um dort Büffeljagden zu halten und in der Wildnis herumzustreifen. Wenn mein Vater mich wieder in Gnaden annimmt und Ja dazu sagt, so gehe ich sehr gern mit Euch, Mat; aber nicht zu lange, wisst Ihr! – wegen meiner Mutter und meiner hiesigen Freunde. Aber eine Seereise und ein wenig in den einsamen Gegenden herumstreifen – wie Ihr’s nennt – würde mir sehr gut tun. Ich fühle, dass ich mich hier nicht eher festsetzen kann, bevor ich nicht einen Ausflug gemacht habe. Ich bin besorgt, dass ich es nicht eher vermag, als bis ich den Teufel aus mir getrieben habe, gleich wie man ihn durch einen sehr starken Ritt aus einem Pferde treibt. Ich bin gespannt, ob mich mein Vater gehen lassen wird!«

»Ich weiß, er wird es, Zack.«

»Ihr! Wie?«

»Das will ich Dir ein andermal sagen. Du sollst Deinen Ritt haben, Zack – Dein Herz soll mit mir zufrieden sein.« Als er dies sagte, blickte er auf den Brief Mr. Thorpes an seinen Sohn und nahm ihn in die Hand.