Winterwahn

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Sari: Weltengrau #3
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3. Kapitel 2





Ulfrskógr, am Wall





Überall auf Norselund war zu spüren, das der bevorstehende Winter nicht mehr lange auf sich warten ließ. Der kühle, dunkle Herbst machte deutlich, dass die vierte Jahreszeit heuer früh, kalt und erbarmungslos über das Land kommen würde. Auf der Insel tat er das noch spürbarer als auf dem Festland. Am Wall spielte das kaum eine Rolle, denn hier war der Frost das ganze Jahr über allgegenwärtig. Die Männer und Frauen, die an diesem Ort langfristig ihren Dienst versahen, waren den Umgang mit der tödlichen Kälte gewohnt. Indirekt hatte die Witterung aber durchaus Einfluss auf den Verlauf des Lebens in dieser Jahreszeit. Die jährlichen Angriffe der Klabauter waren weitestgehend unberechenbar, doch hatten sich im Laufe der Jahrzehnte gewisse Gesetzmäßigkeiten herausgebildet. Eine davon war, dass die Angriffswellen umso heftiger ausfielen, je früher der Winter über das Land kam und je härter er war.



Auch die Tatsache, dass es bislang völlig ruhig war, deutete auf einen besonders harten bevorstehenden Kampf hin. Viele Neulinge glaubten, die Geschichten über vereinzelte frühe Angriffe dienten nur dazu, ihre Wachsamkeit zu schärfen oder ihnen Angst einzujagen. Das war jedoch ein Irrtum, denn tatsächlich waren solche Überfälle kleinerer Gruppen Klabauter in den Herbstwochen eher die Regel als die Ausnahme. Was diese vereinzelten Streuner aus ihren Behausungen trieb, wusste man nicht. Niemand gestand den Bestien so viel Intelligenz zu, so etwas wie Spähertruppen vorauszuschicken. Das hätte auch kaum einen Sinn gemacht, denn der Wall befand sich seit über dreihundert Jahren an Ort und Stelle. Ständig besetzt und in immerwährender Bereitschaft.



Auf der anderen Seite wusste man so gut wie nichts über die Klabauter. Nicht, wo genau sie lebten, und noch weniger wie ihr Leben aussah. Ganz davon zu schweigen, warum sie alljährlich in rasender Heftigkeit nach Süden stürmten, um am Wall zu Hunderten und Tausenden ihr Ende zu finden. In diesem Jahr hatte man bisher nicht eine einzige Sichtung vermelden können.



Varg av Ulfrskógr stand an den Zinnen der Nordseite der mittleren Mauer und sah auf den Wehrgang der ersten, äußeren Mauer hinab. Die Wehranlage, auf der er sich befand, war zwei Mannslängen höher als die äußere. Hinter ihm erhob sich die dritte und letzte Verteidigungslinie noch einmal zehn Schritte höher in den immergrauen Himmel. Auf diese Weise konnten die Bogenschützen aus mehreren Reihen schießen und zur Not auch einen weiter vorne liegenden Wehrgang unter Beschuss nehmen, falls dieser überrannt wurde. Dass die erste Mauer aufgegeben werden musste, war jedoch viele Jahre lang nicht mehr der Fall gewesen.



Während Varg in das leichte Schneetreiben schaute, in dem sich die Welt hinter der Festungsanlage gen Norden verlor, dachte er an den großen Durchbruch von 794. Das tat er nicht besonders oft, obwohl in diesen dunklen Tagen sein Bruder gefallen war. Er selbst war damals, vor zweiunddreißig Jahren, noch ein Kind und erinnerte sich nur verschwommen an den jungen Mann, der eigentlich sein Halbbruder gewesen war.



An seine Mutter hatte er überhaupt keine Erinnerungen mehr, da sie gestorben war, bevor er seinen dritten Winter erlebt hatte. Er wusste nur, dass es sich um eine Bürgerliche gehandelte hatte, eine junge, schöne Frau aus einer Huskarlarsippe, der nur ein kurzes Leben an der Seite seines Vaters vergönnt war. Es war ungewöhnlich, dass ein Jarl sich ein Weib nahm, dass nicht zumindest aus den Reihen der Familien der Thane stammte, obgleich eine solche Verbindung nicht den gleichen skandalösen Beigeschmack hatte, wie es auf dem Festland der Fall gewesen wäre. Außerdem war damals bereits das Grau über die Welt gekommen, und dieser Umbruch hatte viele alte Konventionen überall auf dem Kontinent und der Insel aufgeweicht und teilweise davongespült.



Seiner Autorität als Jarl hatte seine halbbürgerliche Herkunft nie einen Abbruch getan. Das lag zum einen an dem starken Vermächtnis des alten Egilhard und ihrer Ahnen begründet. Aber auch sein resoluter und entschlossener Führungsstil, nachdem er schon im achtzehnten Winter zum Jarl von Ulfrskógr wurde, hatten einen Anteil daran. Überhaupt hatte sich sein Leben durch den Tod des Bruders nicht merklich verändert. Das Verhältnis zu seinem Vater hatte er seit jeher als freundlich distanziert in Erinnerung. Er empfand keine echte Trauer, wenn er an die alten Tage und das Dahinscheiden seiner Familie dachte, bestenfalls ein leichtes Bedauern. Der einzige Schmerz, den die Vergangenheit ihm brachte, war noch immer der Verlust seiner Gemahlin und der Tochter, die starb, bevor sie geboren war. Doch auch der verblasste allmählich und wurde nach und nach eins mit der Melancholie, die ihn umgab wie feiner Nebel.



Der Spätherbst 794 war ein solcher gewesen, wie man ihn heuer in Norselund erlebte. Nach einem kurzen, kühlen Sommer waren Kälte und Schnee über das Land hergefallen, kaum dass die Blätter vollständig in den Farben des Herbstes verblüht waren. Am Wall war es gespenstisch still für diese Jahreszeit, bis dann im frühen Oktober, ungewöhnlich spät also, der Angriff der Klabauter begann. Damals hatte es nur zwei Mauern gegeben und diejenige, auf welcher der Jarl jetzt stand, war die äußere gewesen.



Er hatte selbst etliche Male hier gekämpft und sah die heranwogenden Wellen aus weißen, zottigen Leibern vor seinem inneren Auge Form annehmen. Es war ein gespenstisches Schauspiel, wenn man in der Ferne sah, wie der fahle Horizont mit einem Mal lebendig zu werden schien. Wie er gleich einer Brandung aus gedrungenen Gestalten mit zahllosen schwarzen Augen heranrollte. Die Tatsache, dass es dabei weiterhin bis auf den allgegenwärtigen Wind völlig still war, verstärkte nur den surrealen Eindruck eines solchen Angriffs.



Sie kamen immer lautlos. Selbst wenn die Bogenschützen damit begannen, sie unter Feuer zu nehmen, blieben sie ruhig. Man glaubte beinahe hören zu können, wie ihre klauenbewehrten Gliedmaßen den vereisten Schnee aufwühlten und den stinkenden Atem zu vernehmen, der sich rasselnd ihren aufgerissenen Mäulern entrang, während sie die Mauern erkletterten. Erst wenn sie selbst auf den Wällen angriffen, begannen sie mit ihrem markerschütternden Gebrüll. Nach der vorangegangenen Stille wirkte dieses grauenhafte Geräusch doppelt intensiv. Wer das Brüllen der Klabauter einmal gehört hatte, vergas es sein ganzes Leben nicht mehr.



Der Jarl war da keine Ausnahme. Es war ein unwirklich klingendes Geräusch, das tief aus dem massigen Rumpf der Geschöpfe zu kommen schien. Ein kaum artikuliertes Röhren, das etwas Bärenartiges, aber auch etwas Menschliches hatte, wie das Geschrei eines Irren. Er würde jetzt nicht mehr lange am Wall bleiben, war heuer ohnehin nur guten Gewissens hierhergekommen, weil sein ungebetener Gast Interesse an dem Bollwerk bekundet und ihn begleitet hatte.



»Das wird ein schlimmes Jahr«, ertönte schräg hinter ihm eine Stimme, die klang wie ein schartiges Schwert, dass man über einen rostigen Amboss zog.



Das Äußere des Mannes, nur wenige Fingerbreit kleiner als der Jarl mit langem, aschgrauen Haar und ebensolchem Bart, passte dazu. Sein Gesicht war gezeichnet von Jahrzehnten der Zeit und mehr als einem Dutzend zumeist verblasster Narben. Die blassblauen Augen waren so kalt wie das allgegenwärtige Eis dieses Ortes. Erik Bokdal hatte im Jahr des großen Durchbruchs den zweiten Winter hier verbracht. Er lebte seit nunmehr vierunddreißig Jahren an diesem Ort und war seit über fünfzehn Jahren der Kommandant des Walls. Er trat jetzt neben den Jarl an die Zinne, verschränkte die Arme vor dem in einen dicken Mantel gehüllten Körper, und schaute hinaus in das ewige Weiß.



»Ich habe gerade an den Durchbruch gedacht«, sagte Varg, »man sagt, das Wetter und die ungewöhnliche Ruhe waren damals genauso wie jetzt.«



»Ganz genau so war es«, bestätigte der Kommandant. »Es war ebenso kalt, ebenso gespenstisch ruhig. Und doch ... fühlt es sich anders an.« Er schüttelte leicht den Kopf und wand sich halb seinem Lehnsherren zu, so dass er ihm direkt ins Gesicht sehen konnte. »Ich bin über meine lange Dienstzeit hier kein abergläubischer, seniler Narr geworden. Aber ich habe ein ungutes Gefühl, wie eine dunkle Vorahnung für diesen Winter. Es ist schwer zu erklären, aber es wird ein schlimmes Jahr, dessen bin ich sicher.«



Varg zog eine Augenbraue hoch und wand sich seinerseits dem alten Krieger zu. Er kannte Bokdal beinahe sein ganzes Leben lang und hatte mehr als einmal in den vergangenen zwanzig Jahren an diesem Wall Seite an Seite mit ihm gestanden und gekämpft, wenn die Angriffe begannen. Es würde das erste Jahr sein, an dem er nicht an den Kämpfen teilnehmen konnte, wenn die Klabauter nicht in den nächsten Tagen kamen. Der alte Kämpe war tatsächlich kein Mann für Vorahnungen, hatte aber in den Jahrzehnten, die er in der ewigen Kälte verbracht hatte, eine Art sechsten Sinn entwickelt. Mehr als einmal hatte er die Wachmannschaften einen oder zwei Tage vor den Angriffen verdoppeln lassen. Ganz so, als hätte er vorausgespürt, wann die Monstren kamen.



»Ich kenne euch lange genug, um das nicht als das Geschwätz eines alten Soldaten abzutun, Erik. Was ist anders in diesem Jahr? Haltet ihr es für angebracht, wenn ich für etwas mehr Verstärkung sorge, als ich mitgebracht habe? Die Garde hat immer ein paar Männer für den Wall übrig.«



Als Varg vor drei Tagen angekommen war, hatte er fünfzig Blodsjkoldir seiner Rabengarde im Schlepptau gehabt. Drei Dutzend davon waren angedacht, bis zum Ende der jährlichen Angriffe am Wall zu bleiben. Die anderen dienten als Eskorte für den Jarl selbst und drei der Priester, die ihn begleitet hatten. Ormond Torga, der Leiter der Delegation der Kirche in Ulfrskógr, hatte an dem Besuch an der nördlichsten Wehranlage von Norselund mit Freuden teilgenommen. Der alte Mann schien einen unversiegbaren Durst nach Wissen und Neuem zu verspüren. Von den anderen Männern Gottes hatten nur seine beiden ständigen Begleiter, die Brüder Lombardo und Bridges, den Weg in die ewige Kälte angetreten.

 



»Ich kann es nicht gut beschreiben«, brummte Bokdal. »In manchen Jahren ist es wie ein Ziehen in den Knochen, oder ein flaues Gefühl im Bauch, und dann weiß ich einfach, dass es bald losgeht. Ich will nicht behaupten, dass ich mir jedes Mal sicher bin, aber mehr als einmal hat mich mein Instinkt einen oder zwei Tage gewarnt, bevor es losging. Ich will verdammt sein, wenn ich dieses Gefühl nicht schon als junger Bengel hatte. Auch an dem Tag, bevor der schreckliche Sturm begann, in dem Euer Bruder und so viele andere von uns ihr Leben gelassen haben. Aber vielleicht habe ich mir das auch im Laufe der Dekaden nur so lange eingeredet, bis ich es selbst geglaubt habe. Oder das Alter macht mir doch allmählich das Gehirn matschig.



Aber wie auch immer, so fühlt es sich heuer nicht an. Ich kann es nicht in Worte fassen. Ich glaube nicht, dass wir in den nächsten Tagen auch nur eines von diesen Biestern zu sehen bekommen werden. Das ganze Jahr hatten wir nicht eine einzige götterverdammte Sichtung. Obwohl es so scheißkalt ist, wie das letzte Mal vor über fünfzehn Jahren. Als ich das Amt des Kommandanten übernommen habe, hatten wir auch so einen gemein kalten Wintereinbruch. Nachts scheint es einem heuer, als schneide einem der Wind die ungeschützten Teile des Gesichts weg. Es ist einfach alles zu ruhig. Auf eine merkwürdige Art, die ich noch nie erlebt habe. Nicht die Ruhe vor dem Sturm, sondern anders, irgendwie unnatürlich.«



Er brach ab, schaute den Jarl direkt an und zuckte mit einem schiefen Lächeln die Schultern.



»Ich plappere wie ein altes Weib, aber besser kann ich es nicht beschreiben, Mylord.«



Varg erwiderte das Lächeln voller ehrlicher Zuneigung zu dem ergrauten, harten Gefolgsmann und nickte.



»Manchmal ist das so, Erik. Ich habe nicht euer Gespür für diesen Ort, aber vielleicht weiß ich, was ihr meint. Wenn ich wieder in Snaergarde bin, schicke ich euch noch ein paar Blodsjkoldir mehr, nur für alle Fälle. Wenn ihr irgendetwas braucht, sendet Nachricht. Ich würde noch eine Weile hierbleiben, aber mit meinen Gästen dieses Jahr bin ich leider nicht so ungebunden, wie ich es gerne hätte.«



Der Kommandant nickte grimmig. »Aye, Mylord. Ich danke euch. Und verstehe schon. Wundert mich, dass sich überhaupt welche von denen hergetraut haben. Muss sagen, ich hatte mir diese Vögel anders vorgestellt. Für verweichlichte Festländer und dann noch Priester scheinen die Drei ziemlich hart im Nehmen zu sein. Hab schon norselunder Burschen gesehen, die sich beschissener angestellt haben in der Witterung hier. Die beiden Lakaien von dem Alten waren auf jeden Fall mal Soldaten, bevor sie die Kutte genommen haben.«



»Aye«, nickte Varg, »die sind auch eher untypisch für ihre Art. Die anderen Priester sind so, wie du sie dir vorstellst, deswegen ist auch keiner von denen hier. Aber der Alte hat mehr Eisen in sich als mancher Herzog vom Festland und die beiden anderen sind kaum mehr als Totschläger, würde ich sagen. Aber wir hätten es schlechter treffen können.«



Sie standen für einen Moment Seite an Seite an den Zinnen, während sich ihre Blicke in dem diesigen, undurchdringlichen Weiß verloren, das sich in Richtung Norden am Horizont ausbreitete. Irgendwo dort vorne, etliche Landmeilen weiter in den Ausläufern des Eisgebirges, mochten die Klabauter lauern. Außer dem Wind herrschte auf diesem riesigen Friedhof aus Eis völlige Stille. Sie standen noch nicht lange dort, und doch spürte Varg, wie die unbarmherzige Kälte sich durch seine dicke Kleidung fraß. Er spürte seine Zehen bereits nicht mehr und das wenige, was unter Kapuze und Bart von seinem Gesicht freilag, hatte sich ebenfalls in eine Mischung aus Taubheit und Kribbeln verwandelt.



»Götterverdammt, die Kälte ist wirklich in jedem Jahr aufs Neue eine Erfahrung«, sagte er schließlich und wand sich von der Zinne ab. »Selbst für mich.«



Er war auf Snaergarde und von seinen Ausflügen zu den Minen bittere Winter gewohnt, aber die Witterung am Wall traf ihn immer wieder wie ein Hammer aus Eis.



»Aye«, grinste der alte Kommandant erneut, »ich glaube, das geht jeder lebenden Seele so, egal wie sehr sie ein Kind der Insel ist. Nur diejenigen, die dauerhaft hier leben, gewöhnen sich irgendwie daran. Aber dieses Jahr ist es besonders übel, selbst für die alten Eisbären wie mich. Oder vielmehr wird es besonders übel. So wie jetzt ist es sonst im Januar. Das gibt ein paar verteufelt harte Wintermonate. Ich kann euch versichern, dass wir nicht an Brennstoff sparen werden.«



»Was immer ihr braucht«, sagte Varg sofort, »das hier ist mit der Arbeit in den Minen der schwerste Dienst, den ein Mann an der Insel leisten kann. Spart an nichts, ob an Nahrung oder Kohle, und meldet eventuellen Bedarf früh genug an.«



Der Kommandant nickt und deutete eine leichte Verbeugung an.



»Es ist eine Schande, dass ihr nicht bis zu den Kämpfen bleiben könnt«, meinte er dann. »Ich werde jetzt mal zusehen, dass ich weiterkomme, bevor mir hier mein knochiger alter Arsch festfriert. Gebt ihr mir bescheid, bevor ihr abreist?«



»Das tue ich, Erik«, sagte Varg und stampfte mit den genagelten Stiefeln auf den gefrorenen Stein des Wehrgangs. »Einen oder zwei Tage bleiben wir noch. Ich verabschiede mich persönlich von euch, bevor ich abreise. Überlegt euch, was ihr über den Winter braucht, und macht eine Liste. Lieber mehr Vorräte einlagern als nötig, als einen Mangel zu leiden, wenn die Witterung euch tatsächlich für ein paar Wochen abschneiden sollte.«



Erneut nickte der Kommandant, hob die Faust zum Gruß vor die linke Brustseite und stapfte mit entschlossenem Schritt davon. Seinem Gang war nichts von der Unsicherheit anzumerken, die selbst Varg hier verspürte, wenn er über den gefrorenen Boden lief. Er bewegte sich mit der Sicherheit eines alten Kapitäns auf seinem Schiff.



Varg setzte seine Schritte mit mehr bedacht, während er in die andere Richtung den Wehrgang entlangging. Auch ein Jarl war nicht davor gefeit, sich auf dem glatten Boden auf den Hintern zu setzen und er tat sein Möglichstes, sich diese Blöße nur selten zu geben. Bislang war er hier jedes Jahr mindestens einmal ausgeglitten und hatte sich einen mehr oder weniger schmerzhaften Sturz zugezogen. Heuer war ihm das erspart geblieben, aber hatte noch zwei oder drei Tage vor sich und machte sich keine falschen Hoffnungen. Ein Moment der Unachtsamkeit genügte an diesem Ort, und man fand sich auf dem vereisten Boden wieder. Der Wall verzieh keinen Fehler, gleich welcher Art.



Während er auf eine der Treppen zusteuerte, die von der Mauer herunterführten, sah er sich nach den Wachmannschaften um. Im Abstand von knapp hundert Schritten standen dick vermummte Gestalten in Zweiergruppen auf jeder der drei Wehranlagen. Das waren doppelt so viele Männer wie den Rest des Jahres über, deutete aber nicht auf eine erhöhte Wachsamkeit hin. Den Herbst über, bis zum Ende der Angriffe, war diese Wachdichte normal. Was auch immer der Kommandant des Walls für dunkle Vorahnungen haben mochte, seine Untergebenen schien er bislang nichts davon spüren lassen zu wollen. Die Stimmung war allgemein leicht angespannt, wie immer um diese Zeit des Jahres, aber ansonsten so gut, wie sie an einem Ort wie diesem nur sein konnte. Varg wusste, dass besonders seine und die Anwesenheit der Blodskjoldir ihren Teil zur guten Moral der hier stationierten Männer und Frauen beitrug. Das war einer der Gründe, warum er in jedem Jahr hierher kam.



Unabhängig jeder Logik verspürte er hier bei jedem Besuch aufs Neue eine nicht greifbare, vage Faszination. Die ständige, latente Bedrohung, die hier in der Luft lag, die allein schon die Existenz dieses Bollwerks symbolisierte, sprach etwas tief in ihm an. Die Lebensfeindlichkeit der Umwelt hatte etwas Surreales, selbst für einen eingefleischten Nordmann wie ihn, der als urtümlicher Sohn Ulfrskógrs die härtesten und längsten Winter der bekannten Welt gewohnt war. Dem ewigen Eis war eine beinahe ätherische Schönheit zueigen, jedenfalls in seinen Augen, und die Bösartigkeit der Umwelt ließ sich jeden überlebten Tag wie einen kleinen Triumph anfühlen.



Auch die Fremdartigkeit und Monstrosität des Feindes, auf den man hier in jedem Jahr traf, trugen dazu bei. Varg war seit dem Tag, als sein Vater ihm den Tod seines Bruders mitgeteilt hatte, zum Jarl erzogen worden. Er hatte sich, anders als viele andere junge Männer, nie gegen den Platz gesträubt, den das Schicksal ihm zugedacht hatte. Er war von Anfang an mit Freude in seine Rolle hineingewachsen und füllte sie leidenschaftlich gerne aus. Weder die Verpflichtungen, die seine Stellung mit sich brachte, noch die Verantwortung, die er durch sie trug, waren ihm je als Last erschienen. Und doch wurde ihm hier oft bewusst, dass er auch mit weniger zufrieden gewesen wäre. Es war nicht so, als beneidete er den alten Erik um seine Stellung, aber nach ein paar Tagen konnte er sich gut vorstellen, sie selbst auszufüllen. Er vermutete jedoch, dass ihm der Rest des Jahres, die lange Zeit, die aus dem Warten auf die Zeit der Angriffe bestand, nur allzu bald langweilig würde. Der morbide Zauber, den seine Besuche am Wall für ihn hatten, lag in erster Linie in der dunklen, harschen Exotik dieses Ortes begründet. Und die ging schnell vorbei, wenn sich der Alltag einschlich.



Er hatte gerade die Treppe erreicht, die in einem Bogen hinauf auf den westlichen Turm der mittleren Mauer führte, als er das Winken einer vermummten Gestalt bemerkte. Der Grüßende stand in einer kleinen Gruppe von Männern vor dem Eingang. Beim Näherkommen erkannte der Jarl, dass es sich um Erzdiakon Ormond Torga handelte, der offenbar mit zwei Wachposten gesprochen hatte. Seine beiden menschlichen Schatten, Bruder Lombardo und Bruder Bridges, waren wie üblich an seiner Seite.



Das Interesse des Geistlichen an der Wehranlage hatte Varg ebenso wenig überrascht wie seine Bereitschaft, die Reise hierher anzutreten. Auch die Tatsache, dass er ohne Weiteres dazu bereit war, eine Weile in der unwirtlichen Umgebung zu verbringen, verwunderte ihn nicht. Er hatte den Aufenthalt der kirchlichen Abordnung in seiner Heimat nun seit einigen Wochen zu erdulden. In dieser Zeit hatte er die Eigenheiten des seltsamen Mannes zur Genüge kennengelernt. Die Präsenz der Priester war nach wie vor eine ständige, latente Bedrohung, aber alles in allem gestaltete sich ihre Anwesenheit sehr viel weniger unangenehm, als Varg befürchtet hatte. Das lag zum größten Teil an Ormond Torga. Er legte mittlerweile eine erstaunliche Ungezwungenheit an den Tag. Dabei sorgte er gleichzeitig dafür, dass seine Untergebenen sich völlig unauffällig verhielten.



Zwischen dem Geistlichen und Varg herrschten seit ihrer ersten Begegnung eine distanzierte Höflichkeit und ein stiller Respekt. Der Priester war ein gebildeter, aufgeschlossener Mann mit einem offenkundigen Wissensdurst. Dazu kam ein bissiger Humor, der nicht selten vor Ironie und Zynismus troff. Auch mit seinen Untergebenen pflegte er einen eher ungezwungenen Umgangston. Dennoch war dem Jarl nicht verborgen geblieben, dass die anderen Priester ihm mindestens ebenso viel Furcht wie Respekt entgegenbrachten. Die einzigen Ausnahmen bildeten die Brüder Lombardo und Bridges. Was die beiden Männer anging, war Varg inzwischen sicher, dass es sich nicht um echte Geistliche handelte. Ihre Art sich zu bewegen und ihre stoische Gleichgültigkeit machten nur einen Teil der tödlichen Aura aus, die sie umgab. Er erkannte Männer, die es gewohnt waren zu kämpfen und zu töten, ob man sie nun Soldaten, Krieger oder Mörder nennen wollte. Diese beiden gehörten in diese Kategorie.



Ormond Torga hingegen entzog sich jeder Kategorisierung. Seine humorvolle, ungezwungene Art stand im Gegensatz zu der spürbaren Ehrfurcht seiner Untergebenen. Auch sein niedriger Titel passte nicht zu der Aufgabe, die er hier ausfüllte. Ein Erzdiakon war kaum mehr als der Vorsteher der Glaubensgemeinde einer kleineren Stadt. Die Leiter der kirchlichen Abordnungen in Falksten und Krakebekk waren Bischöfe. Sie trugen vermutlich, anders als Torga, auch keine schlichten braunen Roben wie ein gewöhnlicher Mönch. Selbst die einfachen Priester kleideten sich in weiße Talare, während der Erzdiakon und seine Begleiter überhaupt keinen Wert auf ihr Äußeres zu legen schienen. Unter anderen Umständen wäre der Mann Varg vermutlich sympathisch gewesen.



Seine resolute und direkte Art gefiel ihm ebenso wie der trockene, oft bittere Humor. Doch er unterschätzte ihn nicht, Torga war zu jeder Zeit hellwach und somit gefährlich. Ihm entging nichts, und was in ihm vorging, blieb jedem Außenstehenden verschlossen. Seine wahren Motive und Zielsetzungen kannte nur er allein. Varg glaube nicht, je einem Mann begegnet zu sein, der undurchsichtiger und weniger berechenbar war als der Erzdiakon. Außer dem alten Zauberer vielleicht, dessen Anwesenheit er nach wie vor vermisste.

 



Torga ließ die beiden Wachen und seine Begleiter nun hinter sich und kam dem Jarl entgegen. Es war das erste Mal, dass sie sich heute über den Weg liefen. Sie waren seit ein paar Tagen hier und Varg wusste nicht, womit sich der Mann den größten Teil des Tages über beschäftigte. Er schien damit zufrieden zu sein, in der Wehranlage selbst und der kleinen daran angrenzenden Ortschaft herumzustreunen.



»Grüße, eure Lordschaft«, sagte Torga nun und schaute unter der gefütterten Kapuze seines Mantels hervor zu dem Jarl auf.



»Grüße, Erzdiakon«, erwiderte Varg, bei dem ebenfalls nur der Teil der Haut seines Gesichtes ungeschützt war, die nicht von seinem Bart verdeckt wurde. Auch er trug einen dicken, mit Klabauterfell gefütterten Mantel und hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Gegen die Kälte, die derzeit hier herrschte, war selbst der härteste Norselunder nicht gefeit. Im Stillen machte sich Varg eine gedankliche Notiz, nach seiner Rückkehr nach Snaergarde den Minenarbeitern im Norden einen Besuch abzustatten. Auch dort mussten die Lebensumstände mittlerweile noch unerträglicher sein, als es ohnehin schon der Fall war.



»Ist eure Neugier an diesem Ort inzwischen gestillt, oder können wir noch ein paar Tage bleiben?«, wollte er von dem Erzdiakon wissen.



Das Lächeln des alten Priesters war freundlich und spöttisch zugleich. »Ihr könnt den Gedanken, mich aus den Augen zu lassen noch immer schlecht ertragen, nicht wahr?«



»Es wäre gleichermaßen unachtsam wie unhöflich, mich nicht persönlich um das Wohlergehen meines Gastes zu kümmern«, gab Varg ebenfalls lächelnd zurück.



»Ihr meint, wenn mir etwas passieren würde, könnte das ein schlechtes Licht auf eure Gastfreundschaft werfen? Ich verstehe, ich verstehe«, meinte Torga. »Aber wie dem auch sei, meinetwegen können wir noch zwei oder drei Tage bleiben. Es ist hier in der Tat unvorstellbar kalt, aber es ist ein faszinierender Ort. Vor allem, wenn man so lange so viel davon gehört hat, und im Grunde nie wusste, ob er wirklich existiert.«



Varg legte den Kopf leicht schräg und zog eine Augenbraue hoch. Er spürte, wie die Haut spannte und die angefrorenen Haare auf seiner Braue nachgaben.



»Soll das heißen, auf dem Festland bezweifeln die Menschen, dass es den Wall und die Klabauter wirklich gibt? Wir exportieren nicht besonders viel von dem Fell, aber wenn ich richtig informiert bin, ist es innerhalb der Aristokratie ein relativ verbreitetes Luxusgut.«



»An der Existenz der Bestien selbst zweifelt kaum jemand. Aber im Laufe der Jahre haben sich, wie es üblich ist, viele Geschichten um die geheimnisvolle Verteidigungsanlage gesponnen. Alle paar Jahre bringt irgendein Seehändler Gerüchte in Umlauf, dass euer Jarltum überrannt worden sei und auf der Insel ein offener Krieg mit den Klabautern herrscht. Solche Dinge eben.«



Der Erzdiakon zuckte mit den Schultern. »Es gibt so gut wie keine zuverlässigen Niederschriften über diesen Ort. So weit in den Norden ist die Kirche selbst in der Zeit, die zwischen dem Krieg und dem Einbruch des Grau lagen, nie gekommen. Und ältere Berichte sind reine Spekulation. Es gibt mehr als ein Dutzend verschiedene Zeichnungen von den Bestien, die zum Teil erheblich voneinander abweichen. Das bringt mich zu meiner nächsten Frage. Und wäre es euch wohl genehm, wenn wir uns für einen Moment in den Eingangsbereich des Turms begeben würden? Ich habe das Gefühl, dass mein Gehirn unter diesem Wind allmählich einfriert. Von meinem Hintern ganz zu schweigen.«



Varg nickte und deutete stumm auf das Tor zum Turm. Es war aus dickem Eisenholz gezimmert und schwer beschlagen. Über dem Mauersturz befand sich auf der linken Seite ein Loch, aus dem Rauch in die eisige Luft quoll. Es roch nach brennendem Holz und Frost. Der Jarl zog den Flügel der Tür mühelos auf, ließ den Priester eintreten und folgte ihm dann. Er schloss die Tür und spürte sofort, wie die Haut seines Gesichtes zu kribbeln begann. Neben dem Tor stand ein Eisenofen, von dem aus ein schmales Rohr zu der Öffnung über der Tür führte. Der kleine Metallbehälter strahlte eine intensive Hitze aus, die den Innenraum des Turms allerdings nur unwesentlich zu erwärmen vermochte. Trotzdem war der Temperaturunterschied deutlich spürbar,