Eine Tote im Fluss

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„Ja – und wo ist Ihre Tochter?“

Schulterzucken. „Wir wissen es nicht. Und wir hatten auch noch keine Chance, nach ihr zu suchen. Denn als wir aus Italien zurückkamen, mussten wir ja zunächst annehmen, dass Hanna hier ist. Das Haus war sperrangelweit offen. Und dort vorn glaubte ich sie mit ihrem Freund gesehen zu haben.

Nachdem wir endlich gemerkt hatten, dass die Frau nicht unsere Hanna ist, hatten wir richtig Stress, die beiden unter Kontrolle zu kriegen. Ich habe sofort Ihre Kollegen von der Wache in Berleburg angerufen. Und mein Mann hat die weglaufende Frau eingefangen. Dabei hat ihn dann der Typ mit der Waffe bedroht.

Reinhard wollte ihm das Ding abnehmen. Und bei der Rangelei hat sich wohl der Schuss gelöst. Dann hat er die beiden schließlich reingebracht. Dem Mädel musste ich dann noch eine reinhauen, weil es mich anfallen wollte.“

„Abenteuerlich“, meinte die Beamtin, während sie sich nach einem Rucksack und ein paar Sommerklamotten bückte, die wild verstreut auf dem Rasen lagen. „Ist gar nicht so viel, was die dabei haben. Aber vielleicht steht ja hier irgendwo noch ihr Auto rum, wo der Rest drin liegt.“

Mit ihrer ‚Beute‘ kehrten die beiden Frauen in dem weitläufigen Garten schließlich wieder um. „Hier ist übrigens wohl das Loch, das bei dem Schuss entstanden sein muss“, zeigte Desiree Klinkert auf den sonst makellosen aber recht trockenen Rasen.

„Ui, da müssen wir unter Umständen noch das Geschoss rauspuhlen oder ausgraben lassen.“ Sarah Renner sah die Hausherrin dabei von der Seite an und fragte schließlich, ob sie denn nicht mal den Versuch gemacht habe, ihre Tochter per Handy zu erreichen.

„Das ist ja die Krux“, lamentierte Frau Klinkert. „Das Handy liegt auch bei den Sachen im Wohnzimmer. Allerdings mit leerem Akku. Wundert mich bei unserer zerstreuten Professorin allerdings nicht. Sie büffelt nämlich augenblicklich für mehrere Prüfungen an der Uni. Sie hat den Kopf wo ganz anders.“

Auf der kleinen Lichtung im Uferwald und am Wegesrand hatten die KTU-Leute sogar noch Akku-Strahler aufgebaut, um noch eine Weile effektiv arbeiten zu können. Es war zwar noch immer genügend Tageslicht vorhanden. Doch das wurde von der mittlerweile tiefer stehenden Sonne so flach über die Berge am Rande des Edertals ausgesandt, dass sogar die Grashalme störende Schatten warfen.

„Das Licht muss hell sein und von oben kommen“, hatte Gerd Steiner bestimmt. Aber geholfen hatte es nicht mehr sehr viel. Und die Männer in den weißen Anzügen waren auch so ziemlich am Ende ihrer Kräfte.

Schweißnass und ausgezehrt saßen sie zu einer Art Abschlussbesprechung auf ihren Klappstühlen am Rüstwagen der KTU und leerten dabei eine Flasche Mineralwasser nach der anderen.

Kriminalkommissar Lukas, an diesem Tag ja Einsatzleiter, bedankte sich bei den Männern für ihre außerordentliche Leistung. „Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht“, sagte er. „Aber für mich muss ich sagen, dass ich heute auf das Ergebnis der grausigsten Tat geschaut habe, die mir bisher im Dienst untergekommen ist.“ Die meisten nickten beifällig. Keiner von ihnen wusste, wie lange er die Bilder des heutigen Tages mit sich herumschleppen würde. Auch keiner von den ganz Hartgesottenen.

Wenig später hatten sie zusammengepackt und ihr Fahrzeug beladen. Steiner, Klaiser, der ‚Freak‘ und Rüdiger Mertz waren sich einig, dass für den Tag alles Nötige getan war und man die Fahrt in die jeweiligen Reviere antreten könne. Lediglich das Absperrband musste wegen eventueller Nacharbeiten am nächsten Tag bleiben.

„Ach du heilige Scheiße, was für ein Aufmarsch“, schnaufte Jens Höver, als er mit dem Streifenwagen an einer Wegegabelung hinter Hannas Badestelle ankam. Drei Polizeifahrzeuge und der Wagen von der KTU. Dazu lauter Uniformierte und Männer in Zivil, die gerade einsteigen wollten.

„Naja, das war ja fast zu erwarten nach all dem, was da über Funk kam“, zog er die Stirn kraus. „Pass bitte auf die Typen auf“, bat er Sarah Renner, die auf dem Beifahrersitz saß und darauf achtete, dass Bonnie und Clyde keinen Blödsinn machten.

Die Beamten hatten die beiden Eindringlinge bei den Klinkerts einfach nach dem amerikanischen Gangsterpaar benannt. Denn die beiden, die jeweils mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt hinten im Wagen saßen, zeigten sich nach wie vor nicht bereit, ihre Identität preiszugeben. Und Papiere hatten sie, wie sich herausstellte, auch keine dabei.

Erstaunt und fast verängstigt schauten sie nach draußen. „Was ist denn hier geboten?“, flüsterte der Muskelmensch. „Die werden doch wohl nicht wegen uns hier sein. Um Himmels Willen.“

Höver sprang aus dem Wagen und ging rüber zu den Kollegen. „Grüß Euch. Schlimm, die Geschichte hier, oder?“

„Allerdings. Du machst Dir keine Vorstellung. Eine Riesensauerei. Sei froh, dass Ihr nicht dabei wart“, entgegnete Mertz, der mehr auf den Boden als dem Kollegen ins Gesicht schaute. „Was treibt Euch denn hierher?“

„Wir haben zwei junge Leute hier im Ort festgenommen, die in ein Haus eingebrochen sind und behaupten, sie hätten die dazugehörige Adresse auf Ausweispapieren heute Vormittag etwa hier gefunden. Hier muss irgendwo ‘ne Badestelle sein, an der alle möglichen Klamotten rumliegen. Wir haben die beiden dabei. Die könnten uns das genau zeigen.“

„Das glaube ich jetzt nicht“, schüttelte Rüdiger Mertz den Kopf. „Ihr habt Leute gefangen, die heute Vormittag hier gewesen sein wollen? Hier an dieser Stelle? Warte mal ‘n Moment, Kollege.“

„Ja, aber was ist denn hier eigentlich genau passiert?“, rief ihm Höver hinterher. Doch Mertz hörte schon nicht mehr hin und war mit einem Satz bei Klaisers Audi.

„Macht mal bitte kurz aus“, rief er Klaus zu und bedeutet sowohl ihm als auch Sven Lukas, noch einmal auszusteigen und mitzukommen. Auch die übrigen Beamten blieben und kletterten wieder aus ihren Fahrzeugen.

„Hier, Kripo-Chef Klaus Klaiser kennt Ihr ja. Und das ist Sven Lukas.“

„Kennen wir auch“, meinte Höver und gab beiden die Hand.

„Die können Dir mehr erzählen“, erklärte Mertz. „Aber erzähl Du den beiden am besten noch mal, wen Ihr da dabeihabt und was die auf‘m Kerbholz haben.“

Während Jens Höver die Geschichte in kurzen Zügen wiedergab, ging er gemeinsam mit den Beamten rüber zum Streifenwagen, um ihnen auch gleich Gelegenheit zu geben, die Festgenommenen in Augenschein zu nehmen. Klaus Klaiser schüttelte während des Berichts fortwährend den Kopf und schaute jetzt durch die Seitenscheibe, um das Pärchen anzusehen.

„Das kann ich gar nicht glauben. Oder könnt Ihr Euch das vorstellen? Die zwei bringen eine Studentin um und gehen dann in deren elterlichen Garten, um rumzuvögeln. Nä! Die …“

„Moment“, unterbrach ihn der Kollege, „hier ist der Mord geschehen? Wir dachten, dass sei unten an der Ederbrücke passiert.“

„Nee. Die Frau wurde heute Nachmittag dort unten in der Eder gefunden, aber ganz offensichtlich da vorne ermordet.“ Klaus zeigte in Richtung der Stelle, an der Blut am Wegrand gefunden worden war. „Dort müssen sich fürchterliche Szenen abgespielt haben. Die SpuSi ist gerade mit ihrer Arbeit fertig.“

„Das ist ja Wahnsinn“, entfuhr es Höver. „Die beiden behaupten, wie gesagt, sie seien heute Vormittag hier gewesen und hätten an der Stelle den Personalausweis einer Studentin aus dem Ort gefunden. Das sollen sie Ihnen am besten selbst erklären“, fuhr er fort, während er die hintere Tür des Wagens öffnete und den gefesselten Mann herauszog.

„Kommen Sie, raus hier.“ Und zu seiner Kollegin rief er rüber: „Sarah, holst Du bitte die Frau auf Deiner Seite raus?!“

Während der ‚Tarzan‘ auf die Füße gekommen und an Lukas weitergereicht worden war, fragte der unverhohlen, „Ey Bulle, was veranstaltet Ihr denn hier für ‘n komisches Trachtenfest?“

„Ich werd‘ Ihnen helfen, ‚komisches Trachtenfest‘“, konterte Sven. „Packen Sie sich schon mal schön warm ein. Bei Mord verstehen wir keinen Spaß. Vor allem nicht, wenn es sich um eine derart grausame Tat handelt.“

Der gefesselte Spaßvogel wurde weiß wie eine Wand. „Mord?“, kam fast tonlos aus seiner Kehle. Hypernervös räusperte er sich und wechselte dabei die Gesichtsfarbe wie ein Chamäleon. „Mord? Seid Ihr wahnsinnig? Ihr könnt uns doch keinen Mord in die Schuhe schieben“, hüstelte er und wollte sich dem Griff des Kommissars entziehen.

Doch der hielt ihn wacker an der Kette zwischen den Handschellen fest und zog dabei leicht an. Dem Träger schmerzten die Gelenke. „Ihr seid doch alle bekloppt“, rebellierte der, „wir bringen doch niemanden um. Hey, Schatz“, rief er seiner Begleiterin zu, die von Sarah Renner gerade aus dem Wagen geholt wurde, „hast Du das gehört? Die Arschlöcher hier behaupten, wir hätten jemanden ermordet.“

„Waaas? Wiiir?“ ‚Bonnie‘ erstarrte. „Ich …, wir …“, stammelte sie, „wir haben doch niemanden umgebracht.“

Auch die Oberkommissarin wurde blass. „Wie? Die sollen das gewesen sein?“

„Wir waren das auch nicht, Ihr Idioten!“, schrie Clyde lauthals.

„Mäßigen Sie sich“, pfiff Lukas den Einbrecher an, der sich wie ein Tanzbär gebärdete. „Sie gehören nun mal zum engsten Kreis der Verdächtigen. Offenbar sind Sie ja wohl schon an diesem Platz hier gewesen und haben so richtig abgeräumt.“ Das mit dem ‚engsten Kreis‘ war wohl mehr ein Versprecher. Die beiden waren bisher die einzigen Verdächtigen.

„Ja sag mal, habt Ihr ‘n Spleen, oder was?“, protestierte die junge Frau. „Deswegen bringen wird doch niemanden um. Wir ziehen den Leuten höchstens ‘n bisschen Kohle aus der Tasche oder schauen nach, was bei denen daheim so alles geboten ist. Das war‘s aber auch schon!“

„Ach, das war‘s aber auch schon? Dann kommen Sie doch mal und zeigen Sie uns, was hier geboten war“, forderte der Kripo-Chef. „Und Sie kommen auch mit“, rief er mit Blick auf deren Begleiter. „Zeigen Sie uns, von wo Sie gekommen sind und was Sie hier vorgefunden haben.“

 

Die beiden Festgenommenen wechselten kurze Blicke und schienen sich so über ‚mitspielen‘ oder ‚weigern‘ verständigen zu wollen. Das gelang ihnen aber nur unzureichend. Denn während ‚Clyde‘ auf eine besonders plattgelegene Stelle am Flussufer zulief, zauderte sie und wehrte sich gegen den Griff von Sarah Renner.

„Hier“, rief der Dieb, „hier war heute Morgen noch ein Badetuch, ‘n ziemlich großes. Und unter dem Busch da lagen ein paar Klamotten, eingerollt zu so ‘nem Bündel. Hat man auf Anhieb erstmal gar nicht sehen können.“

„Was waren das für Sachen?“, fragte Sarah Renner nach. Denn es war ja zunächst Sache der festnehmenden Beamten, zu erfahren, wo denn nun die Besitztümer der Tochter gefunden worden waren. Übrigens auch im Interesse der Eltern.

„Eine weiße Bermuda und ein Poloshirt“, meldete sich ‚Bonnie‘ aus dem Hintergrund. „Und ‘n roter Bikini. Der lag auf dem Badetuch.“ Gert Steiner von der KTU nickte bei der Aufzählung der Wäschestücke.

„Aha. Und wo haben Sie den Personalausweis von Hanna Klinkert gefunden?“, wollte die Oberkommissarin weiter wissen.

„Der steckte in der Hosentasche der Bermuda.“

„Und Sie sind sicher, dass das alles aufeinander gelegen hat?“ Klaus Klaiser versuchte, mehr als nur eine reine Fundsachenabfrage aus der Geschichte zu machen.

„Klar“, rotzte ‚Clyde‘ richtiggehend heraus. „Das war genau so, wie sie‘s beschrieben hat. Aber da war keine Studentin dabei, die wir abgemurkst haben oder so.“

Klaiser zögerte mit einer Nachfrage. Wenn es stimmte, dass das Pärchen heute zum ersten Mal an dieser Stelle aufgetaucht war, konnte es für den Mord nie und nimmer infrage kommen. Das wussten auch die Kollegen. Immerhin hatte die Leiche laut Gerichtsmediziner mehrere Tage im Wasser gelegen. Und auch die übrigen Funde waren alles andere als frisch.

Wieder zerrte der Versuchs-Tarzan an den Ketten. „Ihr wollt uns hier irgendeine Scheiße anhängen. Aber da habt Ihr Euch geschnitten.“

„Wir wollen Ihnen keineswegs ‚irgendeine Scheiße anhängen‘, wie Sie sagen. Nur Fakt ist, dass Sie für uns bisher die Einzigen sind, von denen wir wissen, dass sie an dieser Stelle waren. Und hier ganz in der Nähe hat ein bestialischer Mord stattgefunden. An einer Frau, die hier gebadet und womöglich danach ein wenig geschlafen hat. Geht das vielleicht in Ihre Birne?“

Wieder entwich die Farbe aus dem Gesicht des Mannes in Handschellen. „Wir waren das nicht, wirklich nicht“, wurde er plötzlich ganz kleinlaut. „Ganz bestimmt nicht. Mit dem Mord haben wir nix zu tun.“

„Wann genau soll das denn gewesen sein?“, fragte ‚Bonnie‘ mit provokanter Stimme. „Heute Morgen, oder was?“

„Das wissen wir nicht genau“, blieb der Hauptkommissar bewusst vage in seiner Antwort. „Wann genau waren Sie denn hier? Und warum eigentlich?“

„Na, rate doch mal, Polyp“, antwortete sie spitz.

„Komm, jetzt mach‘ keinen Blödsinn“, wurde der junge Mann plötzlich kooperativ. „Das können wir ihm ja ruhig sagen. So um halb zehn sind wir hier aufgetaucht.“

„Und wo kamen Sie her?“

„Von oben im Ort. Von der Kirche.“

„Von der Kirche? Was haben Sie denn da gemacht?“

„Nix“, antwortete die Frau, bevor ‚Clyde‘ etwas sagen konnte. Sie schien die Härtere von den beiden zu sein.

„Wie? Nix.“

„Wir haben nix gemacht. Wir waren nur da.“

„Ach so, Sie haben eigentlich in den Gottesdienst gewollt, aber dann die Lust verloren. Oder wie muss ich das verstehen?“

„Wie Du das verstehen musst, ist mir so was von scheißegal, das kannste Dir überhaupt nicht vorstellen, Du Arsch.“

„So, jetzt reicht‘s!“ Klaiser war stinksauer. „Ich lasse mich von Ihnen nicht permanent beschimpfen und beleidigen. Das gilt im Übrigen auch für die Kollegen. Ihnen fehlt es ganz offensichtlich an jeder Form geistiger und sittlicher Reife. Und an Unrechtsbewusstsein sowieso. Sperrt die Frau bitte schon mal in den Bulli“, sagte er, an die Laaspher Kollegin gewandt.

„Wieso das denn jetzt schon wieder? Wir haben doch gar nix gemacht!“, schrie ‚Bonnie‘ auf und wand sich wie ein Aal in ihrer Fesselung.

„Nix gemacht, ist schon mal leicht untertrieben“, merkte Sarah Renner an, als sie die Randalierende mit Mertz‘ Hilfe in den Wagen verfrachtete und an einer Halteschlaufe festmachte.

Als die Frau weggeschlossen war, machte der Kripo-Chef einen erneuten Versuch, mit deren Compagnon zu reden. Der schien ihm mittlerweile so ‚weichgeklopft‘, dass er reden würde, hatte Klaus den Eindruck. Sven Lukas und er waren mit ‚Clyde‘ rüber zu dem zweiten VW-Bus gegangen, in dessen Fond sie sich nun an einem Tisch gegenübersaßen.

„Also, noch mal“, eröffnete er das Gespräch, „was haben Sie an der Kirche gewollt und wieso kamen Sie hierher?“

Sein Gegenüber rieb sich die Handgelenke, die mittlerweile von den Metallfesseln befreit waren. „Wir haben mit dem Mord nichts zu tun!“

„Das war nicht meine Frage“, antwortete Klaus ruhig. „Was wollten Sie an der Kirche und wieso kamen Sie anschließend hierher?“

„Wir haben mit dem Mord nichts zu tun“, kam es stereotyp über den Tisch.

Klaiser blieb ruhig. „Hören Sie. Wenn Sie sich weiter stur stellen und nicht antworten wollen, können Sie sicher sein, dass ich Ihnen die Frage so oft stelle, bis Sie Alpträume kriegen. Wenn Sie wirklich nichts mit dem Gewaltverbrechen zu tun haben, dann war der Diebstahl heute hier dagegen doch nur ein Klacks.

Oder erzählen Sie mir nur Scheiß und haben die Frau doch ermordet und sie anschließend in Gebüsch geworfen?“ Klaus, der ‚Clyde‘ bei der Frage fast ins Gesicht gekrochen wäre, hatte bewusst das Gebüsch gewählt und nicht das Wasser, in das die Ermordete geworfen worden war. Er erhoffte sich davon eine erkennbare Irritation. Aber da war nichts.

„Nee, nee, nee! Nix da!“ Der andere wollte aufspringen, wurde aber von Sven wieder in den Sitz gedrückt. „Wir? – ‘ne Frau umgebracht und ins Gebüsch geschmissen? Nix! Du bist ja total bekloppt, Bulle! Wir waren an der Kirche, weil wir bei den Leuten da ‘n paar Geldbeutel ziehen wollten. Hat aber nicht geklappt. Einer hat‘s gemerkt. Und da mussten wir türmen.“

„Ach du Sch…e“, verkniff sich der ‚Freak‘ den Kraftausdruck, den er öfter mal aus purer Verwunderung einsetzte. „Ihr seid Taschendiebe? Hundsgemeine Taschendiebe? Das darf doch nicht wahr sein.“

„Ja“, antwortete ‚Clyde‘, in einer Art Kapitulation. „Wir sind nix anderes als hundsgemeine Taschendiebe.“

Dann begann der Mann zu erzählen. Die beiden seien mit ihrem Wagen und „ohne was auf der Tasche zu haben, nicht mal Geld für Sprit“ am Sonntagmorgen durch Arfeld gekommen. „Als wir langsam durchfuhren, standen jede Menge Leute vor der Dorfkirche. Hochzeit oder so was, haben wir gedacht. Da lässt sich was machen. Wäre nicht das erste Mal gewesen.

Aber das ging schief. Gleich beim ersten Versuch“, erzählte er freimütig. Ein Mann habe wohl ein Krabbeln an seiner rechten Pobacke gefühlt und beim Hinfassen die Hand von ‚Bonnie‘ erwischt, die in der Tasche mit der Geldbörse steckte. Sie habe sich losreißen können. Aber nur ein Sprint zum Auto habe sie gerettet.

Das hätten sie aus Sicherheitsgründen ganz vorne an der Straße abgestellt. Und das sei in diesem Fall ihr Glück gewesen. Weil der Mann sie nämlich verfolgt habe. „Wir haben‘s nur ganz knapp geschafft und konnten noch rechtzeitig abhauen.“

Unten im Ort, so erzählte er weiter, seien sie dann rechts abgebogen. „Hätte ja jemand mit dem Auto hinter uns herkommen können. Deshalb sind wir auch sofort auf so ‘n altes Industriegelände abgebogen, mit jeder Menge Schrott und Autos drauf. Mit dem bisschen Sprit im Tank wären wir wahrscheinlich nicht mal mehr zwei Kilometer weiter gekommen. Dann wäre die Karre stehen geblieben.“

Und weil sie noch immer nicht sicher waren, ob ihnen jemand auf den Fersen war, hätten sie den Wagen dort stehen lassen und seien zu Fuß „in die Botanik gerannt. Erst über so ‘n kleinen Kanal und ein paar Meter weiter über eine Holzbrücke auf die andere Seite der Eder.“

„Aha. Und wo war das?“

„Da drüben“, zeigte ‚Clyde‘ flussabwärts. „Wir sind ein ganzes Stück am Fluss lang, bis wir hier an dieser Stelle rauskamen. Da hatten wir wenigsten Deckung. Und dann haben wir halt die Klamotten und den Personalausweis mit Wohnadresse gefunden.“

„Moment, Moment“, unterbrach der ‚Freak‘, dem die ganze Story viel zu flott vorgetragen war, „im Personalausweis steht aber nur der Wohnort, also Bad Berleburg.“

„Na und? Stimmt das etwa nicht?“

„Doch, doch. Aber vom Ortsteil ist darin keine Rede. Woher wussten Sie denn, dass die Besitzerin der Kleidungsstücke aus Arfeld kommt? Hätte ja auch jeder x-beliebige andere Ort sein können.“

‚Clyde‘ nahm den etwas scharf vorgetragenen Einwand gelassen hin. „Stimmt. Aber uns war klar, dass das jemand hier aus dem Ort sein musste. Schließlich stand da ja noch so ‘n altes Fahrrad rum. Und bei der Hitze, dachten wir uns, fährt niemand kilometerweit von einem Dorf ins andere mit einem Fahrrad, nur, um bis zu den Knien im Wasser stehen zu können. Noch dazu mit so ‘nem Drahtesel, der nicht mal ‘ne Gangschaltung hat.“

„Das mit dem Fahrrad irritiert mich jetzt ein wenig. Davon war bisher noch keine Rede“, versuchte Klaus Klaiser der Sache jetzt auch weiter auf den Grund zu gehen.

„Sie können mir doch nicht erzählen, dass hier ein Fahrrad tagelang völlig unbehelligt herumstehen kann und keiner Notiz davon nimmt.“

„Hier kommt ja wohl sonst kein Schwein hin. Die Ecke ist doch so was wie Urwald“, argumentierte der Mann.

„Ich glaub‘s Ihnen aber nicht.“

„Dann lass‘ es doch. Es war aber so. Dort hinten hat es an einem Baum gelehnt.“ Der Ganove zeigte aus dem Bulli heraus in das Wäldchen hinein. „Und etwas dahinter lag das Kleiderbündel unter einem Busch.“

Klaus und dem ‚Freak‘ klingelten die Ohren. Was für eine Geschichte! Aber was hätten sie machen sollen? ‚So eine Story saugst du dir nicht so einfach aus den Fingern. Immerhin ist sie bis hierhin schlüssig‘, dachte Lukas. ‚Und dass der Typ plötzlich plaudert wie ein Wasserfall, ist nachvollziehbar. Schließlich lässt sich niemand gern des Mordes verdächtigen. Dann lieber kleinere Schandtaten zugeben.‘

Eine gute Stunde später, erzählte der Festgenommene weiter, hätten sie sich schließlich aus dem Versteck herausgetraut und seien auf einem Wiesenweg der Straße entgegen gelaufen, die sie von dort hatten ausmachen können. Das Fahrrad hätten sie mitgenommen, um sich dann zu zweit, er auf dem Sattel, sie auf dem Gepäckträger, komfortabler fortzubewegen.

„Wir waren nur wenige Meter auf Asphalt gefahren, als wir schon das Schild ‚Stedenhofstraße‘ sahen. Dort, wo diese, … ääh diese Hanna zu Hause ist. Einfach der Hammer! Manchmal hat man halt auch mal Glück“, grinste ‚Clyde‘ besonders schräg. Den Polizisten standen die Haare zu Berge.

In das Haus zu kommen sei ein echtes Kinderspiel gewesen. Schließlich hätte auf der Gartenseite die Schiebetür zum Wohnzimmer einen Spalt weit offen gestanden. Nur eine Nachbarin hätte neugierig nachgefragt, wer sie denn eigentlich seien, als sie ums Haus herum in den Garten gegangen seien. „Wir haben ihr einfach ‘ne Geschichte erzählt. Von wegen Geburtstag und so. Und da haben wir von ihr erfahren, dass die Eltern im Italien-Urlaub sind.“

Dem Kripo-Chef reichte das erst einmal. Im Übrigen dauerte ihm das alles viel zu lange. Wenn es, was er vermutete, tatsächlich die falsche Spur auf der Suche nach dem oder den Mördern war, dann gab es jetzt Wichtigeres zu tun. „Kommen Sie, wir bringen Sie jetzt nach Berleburg. Alles andere machen wir später dort im Kommissariat.“

„Wie“, fragte ‚Clyde‘ entsetzt, „was heißt denn später?“

„Na, heute Abend oder vielleicht auch erst morgen.“

„Seid Ihr verrückt? Wir haben doch gar nix gemacht.“ Irgendwie wollte der Ganove nicht wahrhaben, dass sich die Kripo trotz der akuten Suche nach einem Mörder auch um Einbrüche und Diebstähle kümmert.

„Sven, tu mir einen Gefallen und bring ihn rüber zu seiner Frau. Rüdiger und die Kollegen können jetzt hier Schluss machen. Anschließend soll Mertz mit den Festgenommenen bei dem Industriegelände vorbeifahren, sich das Fahrzeug zeigen lassen und nach Schlüssel und Zulassung gucken. Danach sollen sie sie zur Wache bringen. Die beiden kommen in Arrest. Und Du fährst bitte zusammen mit mir zu den Eltern der Studentin.

 

Und bei den Laaspher Kollegen bedanke ich mich ausdrücklich für die hervorragende kollegiale Hilfe. Wir übernehmen das jetzt. Oder wollt Ihr noch mit zu den Eltern?“

„Oh nein, bitte nicht“, antwortete Sarah Renner. Und auch der Kollege Höver verzichtete herzlich gerne darauf. „Ihr bekommt noch heute Abend unseren Bericht per Mail“, verabschiedete sich die Oberkommissarin.

„Oh Gott, wird das bitter“, murmelte der ‚Freak‘ und brachte ‚Clyde‘ zu dem Bulli, in dem schon ‚Bonnie‘ saß. Für ihn war der Typ ein Lügenbeutel ‚Würde mich echt interessieren, welche Aktien die beiden tatsächlich in der Geschichte haben.‘

Dann löste sich der Fuhrpark am Ederufer langsam auf. Doch als auch das KTU-Fahrzeug langsam anrollte, kam Klaiser plötzlich eine Idee. „Stopp, Herr Steiner!“, lief er laut rufend hinter dem Transporter her. „Bleiben Sie noch einen Moment stehen!“ Der Fahrer schien ihn aber nicht gehört zu haben und fuhr weiter. Klaus blieb hartnäckig und holte auf.

Als er am Heck des Transporters war, schlug er mit der flachen Hand gegen das Rückfenster. Mit dem Erfolg, dass das Gefährt scharf abbremste und der Hauptkommissar krachend auflief.

„Hörte sich fast an wie ‘ne Sprengung“, grinste der Kriminaltechniker, als er ausgestiegen war und Klaus kopfreibend von hinten auftauchte. „Was kann ich denn noch gegen Sie tun?“

Der Mann hatte halt diesen schrägen Humor. Und Klaiser gefiel das in dem Moment sogar. Obwohl er der Leidtragende war. „Ich müsste mindestens ein Foto von jedem der gefundenen Kleidungsstücke haben. Damit ich den Klinkerts was vorzeigen kann. Immerhin ist es ja möglich, dass es sich bei dem Opfer doch nicht um ihre Tochter handelt.“

„Möglich ist das“, erwiderte Steiner, während er an seinem Smartphone rumhantierte, „aber glauben Sie das nach all dem, was wir bisher wissen? Ich nicht.“

„Ich werde nicht für‘s Glauben bezahlt, sondern …“

„… für‘s Wissen und Beweisen. Ist mir klar“, lächelte der ältere Herr aus Siegen und sagte: „Ich hab‘ Ihnen vorhin schon ein paar Fotos auf Ihr Smartphone geschickt.“

Klaiser bedankte sich. „Okay, hauen Sie ab und machen Sie Ihre Arbeit gründlich“, grinste er etwas verklemmt. „Wir sind wirklich auf jeden Fingerabdruck und jeden identifizierten Wollfaden angewiesen. Aber …“

„Aber was?“

„Sie haben natürlich recht. Es wäre ein Wunder, wenn die Tochter der Klinkerts irgendwo pumperlg‘sund herumspringen würde. Nur wer, bitteschön, ist dann die Tote?“

„Das wäre dann wieder Ihr Spiel“, entgegnete Steiner beim Einsteigen. Dann schlug er die Tür zu und gab Gas.

Die beiden Fahrzeuge mit den Kojak-Lampen auf dem Dach fielen in der Stedenhofstraße sofort auf. Zumal manche ihrer Bewohner dabei waren, vor den Häusern oder an ihren Gartentischen über die gefundene Leiche zu diskutieren.

Desiree Klinkert hatte die Beamten bangen Blickes an der Haustür empfangen und erschreckt registriert, dass es sich um andere Leute handelte. Und dass die ohne die Einbrecher kamen. „Was ist? Wer sind Sie? Wissen Sie etwa, wo Hanna ist?“

„Guten Tag, Frau Klinkert“, reagierte Klaus Klaiser so normal, wie er es in dieser Situation vermochte, „ich bin Hauptkommissar Klaus Klaiser von der Kripo Bad Berleburg und das ist mein Kollege, Kommissar Sven Lukas. Können wir bitte drinnen darüber reden?“

„Ja, aber was ist denn mit Hanna? Wenn schon die Kriminalpolizei kommt. Ist ihr etwas passiert, oder hat sie was angestellt?“

„Frau Klinkert, bitte. Wir sollten nicht hier draußen reden. Im Übrigen wäre es besser, wenn Ihr Mann dabei wäre. Ist er da?“

„Ja, natürlich. Er telefoniert die ganze Zeit und versucht, Bekannte von Hanna zu erreichen.“

Mehr sanft geschoben als freiwillig, war die Hausherrin schließlich hineingegangen und hatte ihnen einen Platz am großen Esstisch angeboten. Im Hintergrund hörte man eine Männerstimme sagen: „Gut. Dann vielen Dank. Und wenn Sie etwas hören, bitte rufen Sie uns an. Egal, zu welcher Uhrzeit.“

Kurz darauf war auch Reinhard Klinkert mit den Neuen bekannt gemacht worden. Doch bevor einer der beiden mehr sagen konnte, fragte er: „Sagen Sie, Herr Hauptkommissar, ich habe gerade erfahren, dass in der Eder eine Frauenleiche gefunden wurde. Ist das wahr?“

Seine Frau schaute ihn entsetzt an. „Was? Eine Frauenleiche? Wer erzählt das?“

„Maybrit Berger. Sie hat es von einem Nachbarn erfahren.“

„Das ist ja furchtbar. Sind Sie etwa deswegen hier?“, fragte sie bei Klaiser nach.

„Schatz, bitte beruhige Dich“, fuhr ihr Mann dazwischen, „das muss für uns zunächst mal nichts zu bedeuten haben. Zumal die Frau schon länger im Wasser gelegen haben soll. Das stimmt doch, Herr Klaiser?“

„Ja, das stimmt. Wir gehen davon aus, dass die Frau schon seit mehreren Tagen tot ist. Aber wir kennen ihre Identität noch nicht.“

„Na, Gott sei Dank“, seufzte Frau Klinkert erleichtert auf. „Es kann sich also unmöglich um Hanna handeln. Sie hat nämlich heute Nacht in ihren Geburtstag hineingefeiert.“

„Nein Schatz, hat sie nicht.“

Die Nachricht ihres Mannes durchfuhr Desiree Klinkert wie ein Blitz. Tief atmend fragte sie: „Hat sie … nicht? W…, wo…, woher weißt Du das so genau?“

„Von Maybrit, Sophie und Ole. Die waren gestern Abend alle im ‚Tonkrug‘ und haben gewartet. Nur Hanna war nicht da. Zur verabredeten Zeit um 21 Uhr nicht und auch zum Geburtstag um Mitternacht nicht.“

„Und wo war ihr Freund? Wo war Arne Priester?“

„Der war auch nicht da.“

„Ja, aber wie ist denn so was möglich? Das gibt‘s doch gar nicht. Vielleicht war sie ja bei ihm zu Hause. Hast Du ihn denn nicht angerufen?“

„Natürlich. Aber der hat sowohl an seinem Festnetz-, als auch an seinem Mobiltelefon die Mailbox hängen. Ich hab‘ nur seine Eltern erreicht. Die sagen, er sei schon seit Tagen nicht mehr aufgetaucht. Das hätte bei ihm aber wenig zu bedeuten. Er sei häufiger mal länger beruflich unterwegs.“

„Aber doch nicht über Hannas Geburtstag“, weinte Desiree Klinkert plötzlich los. „Sie hatte sich so darauf gefreut, mit ihm und den paar Freunden hineinzufeiern.“

Dann sprang sie auf. „Aber Sie, Herr ääh … Herr Hauptkommissar, Sie sind doch nicht ohne Grund extra hergekommen. Was haben Sie denn für Informationen?“

„Ich glaube, Sie setzen sich am besten erst einmal hin, Frau Klinkert“, antwortete Klaiser ganz ruhig. Dabei war ihm so unwohl, dass es kaum zu beschreiben war. „Ich möchte Ihnen zunächst einmal etwas zeigen.“ Dabei legte er sein Smartphone vor ihr auf den Tisch und ließ ein Foto nach dem anderen über das Display laufen.

„Gehören diese Kleidungsstücke eventuell Ihrer Tochter Hanna?“

„Ach, sind das die Sachen, die dieses Einbrecherpärchen gefunden hat? Wo sind die beiden überhaupt?“

„Die sitzen in Berleburg in der Arrestzelle.“

„Und haben die vielleicht was mit Hannas Verschwinden zu tun?“, schaltete sich Reinhard Klinkert ein.

„Das können wir noch nicht sagen“, erklärte der ‚Freak‘, „im Moment sind sie eher nicht verdächtig.“

Klaus lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Fotos. Sein Inneres rebellierte. Weil er ahnte, dass es gleich zu einer Katastrophe kommen könnte.

„Die beiden Einbrecher sind, soweit wir das beurteilen können, Gelegenheitsdiebe. Die klauen zwar wie die Raben, scheinen aber nicht bösartig zu sein.“ Sven Lukas wollte mit seiner Beschreibung von ‚Bonnie‘ und ‚Clyde‘ etwas Druck aus der Geschichte nehmen.

„Nicht bösartig? Das kann ich nun wirklich nicht sagen. Immerhin ist der Typ mit einer geladenen Waffe auf mich los“, bemerkte Klinkert ziemlich schroff. „Und meine Frau wurde von der tobenden Frau angegriffen.“

„Aber für den Mord kommen sie nach derzeitiger Lage der Dinge nicht in Frage. Schon aus zeitlichen Gründen nicht“, erklärte der Kripo-Chef. „Wir werden uns die beiden morgen aber wieder vornehmen. Seien Sie beruhigt. Priorität hat aber auf jeden Fall die Ermittlung des oder der Täter.“