Eine Tote im Fluss

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Im Wohnzimmer der Klinkerts war es beunruhigend still geworden. Lediglich das leise Fauchen der Klimaanlage war zu hören. Noch immer herrschten draußen tropische Verhältnisse. Umso angenehmer waren die Temperaturen im Haus. Dennoch standen jetzt kleine Schweißperlen auf der Stirn der Hausherrin.

„Sagten Sie vorhin ‚Mord‘? Herr …“, Desirees Stimme versagte.

„Klaiser, Frau Klinkert. Mein Name ist Klaus Klaiser. Ja, ich sprach von Mord.“

„Das ist ja entsetzlich. Also kein Unfall, kein …“, wieder versagte ihre Stimme. Desiree fand zu keinem klaren Gedanken mehr. Vor ihren Augen geriet alles in Bewegung. Sie fühlte sich einem Zusammenbruch nahe. Doch ihr Mann saß neben ihr, umfing ihren Oberkörper mit einem Arm und gab ihr mit der anderen Hand zu trinken.

„Komm Schatz, bitte, das ist jetzt wichtig für die Polizei. Gehören die Sachen auf den Fotos unserer Tochter?“

Desiree ließ sich die Aufnahmen noch einmal zeigen. Dann knickte sie auf einmal ein. Reinhard konnte sie gerade noch so abfangen. Wieder gab er ihr zu trinken. Mit glasigem Auge schaute Desiree zuerst ihren Mann an, dann Klaus Klaiser. Offenbar hatte sie realisiert, dass eine Tragödie über ihre Familie hereingebrochen war.

„Ja“, stammelte sie, „ich kenne die Sachen. Das Badelaken, den Bikini, die Bermuda und das Poloshirt.“ Dann warf sie ihren Kopf an die Schulter ihres Mannes und plötzlich bebte ihr Körper wie unter Schüttelfrost. Ein unglaublicher Weinkrampf hatte sich ihrer bemächtigt und ließ sie laut schluchzen. Ihr Mann weinte mit.

Betreten schauten die Polizeibeamten zunächst einander an und dann zu Boden. Diese beklemmende Szene hatte sich keiner von ihnen ausgesucht. Und doch konnte ihr niemand entkommen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit richtete sich Reinhard Klinkert auf und fragte: „Haben Sie ein Foto von der Toten? Wir brauchen Gewissheit. Wir müssen wissen, ob das unsere Hanna ist.“

„Nein“, sagte Sven Lukas, der gemerkt hatte, dass Klaus Klaiser zu einer Antwort nicht fähig gewesen wäre. So nahe war ihm der Zusammenbruch der Frau gegangen.

„Tut mir leid. Wir haben kein Foto, das wir Ihnen zeigen können.“

„Das glaube ich Ihnen nicht. Sie haben doch sicher Fotos von dem Ort gemacht, an dem die Tote gefunden wurde. Und Sie haben mit Sicherheit auch Fotos von dem Leichnam. Warum dürfen wir die nicht sehen?“, insistierte Klinkert.

„Weil sie zu einer Identifizierung nicht taugen würden“, stellte Sven nun nüchtern fest. „Tut mir leid.“ Seine Blicke suchten irgendwas in der Wohnung, nur nicht die Blicke von Hannas Vater.

Reinhard Klinkert gab sich mit dieser Antwort nicht zufrieden. „Wenn Sie kein Foto haben, dann lassen Sie uns bitte zu ihr.“

Sven schluckte. „Das geht nicht. Die Lei…, äh … die Frau ist in der Gerichtsmedizin.“

„Hören Sie“, wurde der Hausherr plötzlich bestimmend, „Ich will jetzt sofort ein Foto von der toten Frau sehen. Ich habe ein Recht darauf!“

„Aber es ist doch, wie gesagt, bisher nur eine Vermutung. Wir wissen nicht, wer die Tote ist.“ Der ‚Freak‘ hob und senkte resignierend die Schultern. Er wollte unter allen Umständen vermeiden, dass die Eltern die so malträtierte Leiche zu Gesicht bekommen. Und er wollte deren Zustand auch nicht beschreiben. Da kam ihm Klaus zu Hilfe, der sein extremes Unwohlsein endlich in den Griff bekommen hatte. „Ein Foto würde Ihnen nichts helfen, Herr Klinkert. Denn ihr Gesicht ist durch äußere Einflüsse total entstellt.“

Der Angesprochene starrte ihn an.

„Was heißt das, ‚total entstellt‘?“

Klaus druckste herum. Doch der erregte Vater nötigte ihn zu einer klaren Auskunft. Also atmete der Kripo-Chef durch und fasste sich ein Herz. Wissend, dass er die Grenzen des Erträglichen sprengen würde.

„Verzeihen Sie. Aber es lässt sich leider nicht anders beschreiben. Die Tote hat kein Gesicht mehr.“

„Neiiin, lieber Gott, neiiin!“, schrie Reinhard. „Mach, dass das nicht wahr ist!“ Noch immer hielt er seine Frau eng umschlungen. Doch die bekam gar nicht mehr mit, was gerade passierte. Eine gnädige Ohnmacht ließ sie fast seinen Händen entgleiten.

Die Beamten waren wie erstarrt. Das Leid der Eltern auch noch durch diese furchtbare Nachricht zu verstärken, das war das größte Elend für die beiden.

„Herr Klinkert, ich bitte Sie, wir sind nach wie vor nicht sicher, ob es sich bei der Toten tatsächlich um Ihre Hanna handelt“, griff Sven wieder ein. Doch der Vater hatte resigniert. Weinend fragte er zurück, „ja, wer soll es denn sonst sein?“

Als Klaus Klaiser an diesem Abend nach Hause kam, fiel er in die Arme seiner Frau und legte seinen Kopf auf ihre Schulter. Ute hielt ihn fest und wartete, bis er sich erklären konnte. „Weißt Du“, sagte er nach einiger Zeit, „es gibt Tage, da verfluche ich meinen Entschluss, zur Polizei zu gehen. Heute ist einer davon.“

Sie fragte nicht nach. Denn sie wusste, dass er erzählen würde, wenn er es denn wollte. Und wenn nicht, dann würde er es schon allein deshalb nicht tun, um sie nicht zu beunruhigen. Grausame Begebenheiten, so wusste sie, erführe sie ohnehin nicht von ihm. Und so blieb auch an diesem Abend vieles von dem unausgesprochen, was ihn über Gebühr belastete. Bis in den späten Abend hinein saßen sie auf ihrer Terrasse und tranken fast zwei Flaschen eines herrlich spritzigen badischen Weißburgunders. Klaus hatte den Löwenanteil davon beansprucht. Der Wein hatte seine Zunge gelockert und ihn zu seinem Humor zurückfinden lassen. Die Erlebnisse in Arfeld waren wie weggeschaltet.

Beide amüsierten sich denn auch köstlich über so manche Episode im Münsterland. Zum Beispiel die Erlebnisse mit Onkel Karl. „Dieser Mann ist einfach eine Granate“, lachte Klaus, als er an die Spiele des alten Herrn mit Luisa erinnerte.

Der alte, liebenswert knorrige Bauer hatte in einem Korbsessel beim Abendbrot gesessen und quer über den großen Tisch dem Töchterchen der Klaisers Grimassenschneiden beibringen wollen. Die Kleine hatte mit den unglaublichsten Versuchen darauf reagiert und gemeinsam mit „Ontel Tarl“, wie sie ihn nannte, die gesamte Großfamilie zu Lachsalven animiert.

Schon allein dieses Abendessen auf dem Bauernhof von Utes Großeltern war die Reise ins Münsterland wert gewesen. Beide brauchten solche Besuche in der Heimat. Hin und wieder eine Fahrt zurück zu den Wurzeln. Für Ute und Klaus immer etwas Wertvolles.

Auch Sven, der ‚Freak‘, war am späten Abend mit einem regelrechten Stimmungsleck nach Diedenshausen zurückgekehrt. Nur im Gegensatz zu Ute Klaiser war Mina bereits bestens informiert, über den Fund der Leiche und deren Zustand. Was Wunder auch. Als Hebamme im Krankenhaus hatte sie beste Verbindungen zu Ärzten und Rettungssanitätern.

Und die hatte sie genutzt, als sie noch am frühen Abend wegen einer unvorhergesehenen Geburt in die Klinik gemusst hatte. Nachdem das Baby auf der Welt und Mutter und Kind versorgt und glücklich waren, holte sie die nötigen Informationen ein. Die würde sie brauchen, um ihren Lebensgefährten auffangen zu können, wenn er nach Hause käme. Denn sie wusste, dass auch Sven Lukas höchst sensibel auf jede Art von Gewaltverbrechen reagierte.

Im Freundeskreis hatte sie ihn schon mehrfach für diesen Wesenszug gelobt. Und sie hoffte, dass er niemals so abstumpfen würde, dass für ihn Mord und Totschlag eines Tages zum Alltagsgeschehen zählen würde. Zwar bestand diese Gefahr in Wittgenstein ohnehin nicht. Doch Minas Denke zeigte, wie sehr sie sich um das Seelenleben ihres geliebten Sven sorgte.

Und sie wusste ihn zu verzaubern. Mit gutem Essen und überhaupt. Ein leichtes und raffiniert zubereitetes Abendessen mit hauchfein geschnittenem Knochenschinken, Melone, eingelegten Maiskölbchen, Spargelspitzen, Schnitzen von Cocktailtomaten und Dillgürkchen, brachte Kommissar Lukas langsam auf andere Gedanken.

„Ihr müsst lernen abzuschalten! Ohne die Fähigkeit dazu werdet Ihr es schwer haben, in Eurem Beruf“, hatte man ihm und seinen Lehrgangskameraden in der Polizeischule mit auf den Weg gegeben. „Ansonsten lauft Ihr Gefahr, jedes miese Erlebnis wie einen bleiernen Rucksack mit Euch herum und nach Hause zu tragen. Hütet Euch davor. Denn für eine Partnerschaft ist das auf Dauer tödlich.“

Sven Lukas hatte sich das zu eigen gemacht. Doch die Fähigkeit dazu wurde mit dem gewaltsamen Tod jener jungen Frau zerstört, die er auf dem Stünzelfest kennengelernt und noch am selben Tage wieder verloren hatte. Jetzt, zwei Jahre später, half ihm Mina auf besondere Art und Weise dabei, sein Gefühlsleben gewissermaßen zu restaurieren.

Montag, 6. August

„Guten Morgen Frau Fischer, ich hoffe, Sie hatten ein schönes Wochenende.“ Unausgeschlafen und geplagt von schlechten Träumen war Klaus Klaiser an diesem Morgen ins Kommissariat gekommen. Am Tag eins nach dem „Horrorfund von Arfeld“, wie der ‚Westfalenkurier‘ auf Seite 1 getitelt hatte.

„Ach danke, mein Wochenende war schön, wenn auch leider wieder viel zu heiß. Aber Ihres scheint ja noch um einiges heißer gewesen zu sein. Nach all dem, was ich an Berichten der Kollegen und in der Zeitung lese.“

„Es war wirklich ein Horror“, bestätigte der Kripo-Chef seiner Kriminalassistentin. „Und zwar für alle Beteiligten. Ohne Ausnahme. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie furchtbar die Leiche zugerichtet war.“

„Doch“, sagte sie, „kann ich. Ich habe den kompletten Bildersatz gesehen, den Herr Steiner von der KTU gesendet hat. Wirklich entsetzlich“, fügte sie noch an und reichte dem Chef den Ausdruck des ersten Berichts aus der Kriminaltechnik, dem, so ging aus dem Papier hervor, ein weiterer folgen sollte.

„Das ging ja wirklich zügig, danke. Aber von dort ist ja so viel auch nicht zu erwarten. War ja fast alles entweder im Wasser oder platt getrampelt.“ Klaiser hörte Schritte die Treppe herauf und zu seinem Büro hin kommen. Die konnten nur zum ‚Freak‘ gehören. Und tatsächlich kam zwei Sekunden später Sven Lukas herein.

 

Sein „Guten Morgen“ machte auch nicht gerade den Eindruck, als komme es aus fröhlicher Brust. Doch immerhin hatte ihr Besitzer eine Tüte voller frischer Brötchen und Croissants mitgebracht.

Der Duft, den die Backwaren und frischer Kaffee entfachten, entschädigte ein wenig für die seltsame Stimmung, die wie ein feuchtwarmer Lappen über der Morgenrunde lag. Klar, dass der Mordfall Priorität im Bericht des ‚Freaks‘ hatte. Er war heute Morgen dran mit der „Lage“, die täglich von einer anderen Person vorgetragen wurde. Darüber hinaus hatten sich aber auch noch einige andere Fälle ergeben, die es zu berichten und zu bearbeiten galt.

Lukas war bereits beim Studium der Wochenendakte ins Schleudern gekommen. Denn es hatte, für Wittgensteiner Verhältnisse, exorbitant viele Vorfälle gegeben. Ein Einmietbetrug in Weidenhausen, ein erschossenes Pferd auf einer Koppel in Leimstruth, ein Tankstellenüberfall in Erndtebrück und ein versuchter Raubüberfall auf ein Ladengeschäft in der Berleburger Poststraße. Allesamt Fälle, die die Schutzpolizei an die Kripo weitergegeben hatte.

„Ja, Ihr Lieben, das werden ein paar ganz heftige Tage, die uns da bevorstehen. Schön, dass Rüdiger Mertz heute wieder zu uns gestoßen ist, quasi als so eine Art Dauerleihgabe“, gab Klaus zum Besten. Applausklopfen empfing ihn.

„Außerdem werden uns die mehr oder weniger frisch gebackenen Kommissare Sam Weinrebe und Theo Schöneborn immer wieder mal unterstützen. Das habe ich gestern Abend noch mit Bernd Dickel vereinbart. Hab ihn telefonisch an seinem Urlaubsort erwischt.“

Wieder veranstalteten die Beamten ein wohlwollendes Klopfkonzert auf dem großen runden Tisch im Besprechungsraum. Und die beiden Letztgenannten bekamen rote Ohren.

„Also, was haben wir?“, begann Klaiser mit der Abfrage der wesentlichen Infos zu den ‚Sachverhalten‘, wie auch die schlimmsten Verbrechen in der Amtssprache eindeutig zu nüchtern beschrieben werden.

Sven Lukas, am Tage zuvor Einsatzleiter, weil diensthabender Kripo-Mann, begann mit seinen Erklärungen. Wobei er bereits seinen Bericht des Vorabends vervielfältigt und mit Genehmigung Klaisers an die Kolleginnen und Kollegen herausgegeben hatte. Er sparte dabei nicht mit detaillierten Anmerkungen zu der Art der Verletzungen, die dem Opfer zugefügt worden waren.

„Ausgesprochen dankbar müssen wir dabei Harry Senftleben und seinem Suchtrupp sein, dass bereits gestern am späten Nachmittag der Ort gefunden wurde, an dem das Opfer mutmaßlich umgebracht wurde. Dabei zeigte sich die Vermutung unseres Rechtsmediziners als bestätigt, dass der Mord bereits Tage zurückliegt. Die einzelnen Positionen und Ortsangaben findet Ihr im Übrigen auf Seite 2 des Anhangs zu meinem Bericht.“

„Wissen wir eigentlich mittlerweile mehr über die Identität des Opfers?“, fragte Claudia Siegemund.

„Nein, noch nicht“, schaltete sich Klaus Klaiser ein, während er auf seinen Tablet-Computer schaute. „Die werden wir vermutlich erst haben, wenn die Rechtsmedizin die DNA-Abgleiche fertig hat. Aber die liegen noch nicht vor.“

„Ja, aber wir haben einen ziemlich konkreten Verdacht“, führte der ‚Freak‘ weiter aus. „Wie Ihr weiter hinten im Bericht lesen werdet, gibt es die Vermutung, dass es sich bei der Toten um Hanna Marie Klinkert, geboren am 5.8.1994, BWL-Studentin aus Arfeld, handeln könnte. Sie ist spurlos verschwunden. Aber unweit des Tatortes, in einem Wäldchen an der Eder, wurden Textilien aus ihrem Besitz gefunden.

Darüber hinaus hat sich ein Ganovenpärchen deren Personalausweis angeeignet. Das Pärchen war in dem Anwesen der Eltern, als diese aus ihrem Urlaub in Italien heimkehrten. Kollegen des Polizeireviers Laasphe haben die beiden in Amtshilfe festgenommen und an uns übergeben. Sie sitzen unten im Arrest. Der Bericht der Kollegen liegt gesondert bei.“

„Wieso eigentlich ‚in Amtshilfe‘?“, kam die Frage aus der Runde.

„Hast Du Dich mal umgeschaut, wie viel Personal wir noch auf der Wache haben?“, fragte der ‚Freak‘ dagegen. Und dann musst Du Dir mal vorstellen, was der Leichenfund gestern in Arfeld für Wellen geschlagen und an Kollegen gebunden hat. Wir mussten dankbar sein, dass uns da Hilfe angeboten wurde. Und das war darüber hinaus auch noch sehr erfolgreich.“

Obwohl es noch nicht einmal acht Uhr am Morgen war, wurde es schon jetzt wieder unheimlich warm. Denn die Sonne hatte sich bereits über den Höllscheid, den Berleburger Hausberg im Osten, erhoben und feuerte ihre Strahlen gnadenlos in Richtung Polizeirevier ab. Was mancher als „Jahrhundertsommer“ feierte, hatte bei Menschen wie denen im ‚Bullenkloster‘ einen ganz anderen Namen bekommen. Nämlich ‚unerträgliche Scheißhitze‘.

Aber nicht nur deshalb begann Sven zu schwitzen. Sondern vor allem bei der Schilderung der Begegnung mit den Eltern der Vermissten. Und ähnlich erging es Klaus, der weiter ausführte, dass man die Klinkerts erst verlassen habe, nachdem ein Arzt nach ihnen geschaut hatte.

„Ach übrigens, Rüdiger. Habt Ihr den Wagen auf der Industriebrache gefunden? Ich habe noch keinen Bericht von Dir“, monierte Klaiser.

„Doch, den müsstest Du in Deinem Mail-Account haben. Hab‘ ihn erst gerade abgeschickt. Das war gestern einfach zu spät. Weil wir noch Trouble mit den beiden Ganoven hatten.“

„Okay“, bat Klaus, „dann erzähl mal kurz.“

„Tja, was gibt‘s da zu erzählen? Das ist kein herkömmlicher Pick-up. Ein ‚fahrbares Wohnklo mit Kochnische‘, wenn Dir das was sagt. Ein rollendes Baubüro, allerdings mit ‘nem satten Drei-Liter-Diesel“, erklärte der Autokenner Mertz weiter.

„Wundert mich übrigens nicht, dass die den schneller trocken gefahren haben, als sie einem ‘n paar Cent aus der Tasche ziehen konnten. Wenn das Motörchen mal so richtig losblubbert, dann kannst Du‘s im Tank regelrecht schlürfen hören. So schnell, wie der Karren den Sprit wegsäuft, fährt kein Tankwagen.“

Gelächter der Kollegen quittierte Rüdigers Beschreibung. ‚Lass‘ sie‘, dachte Klaiser. Das Thema drum herum ist schlimm genug für die Leute.

„Naja, als ich sie höflich um die Schlüssel und die Papiere für den Wagen gebeten habe, meinten sie nur, das ‚alles drin‘ sei. Das heißt, er sagte das. Die Lady hat nur Gift und Galle gekotzt.“

„Okay. Und wie weiter?“, drängte der Chef nun.

„Langer Rede kurzer Sinn: der Karren war unverschlossen, der Schlüssel steckte. Und die Papiere waren im Handschuhfach. Das Fahrzeug ist zugelassen auf eine Firma „Kubisch & Partner“ aus Hamm, Kennzeichen HAM-KP 3312. Das ist, wie ich recherchiert habe, ein Unternehmen, das auf Fernwasserleitungsbau spezialisiert ist. Konnte leider weder gestern, noch heute Morgen jemanden in der Firma erreichen.“

„Dann können wir ja wahrscheinlich davon ausgehen, dass der VW-Amarok gestohlen wurde“, mutmaßte Pattrick Born. Denn tatsächliche Vertreter der Firma hätten ja wohl nicht trocken fahren und in fremde Häuser einbrechen müssen.“

„Das sehe ich genauso“, pflichtete ihm Rüdiger bei. „Übrigens, und das sollte uns bei der ganzen Sache noch mehr interessieren, der Wagen stand bereits am Freitagnachmittag auf dem Parkplatz der alten Fabrik. Und er sei seitdem keinen Millimeter mehr bewegt worden, hat uns ein Mann berichtet, der nebenan eine kleine Firma besitzt.“

„Das heißt im Klartext“, mühte sich Sven um eine Schlussfolgerung, „dass diese Ganoven uns ganz schön beschissen haben. Und zwar mit großen Teilen ihrer Geschichte. Von wegen bei der Kirche Leute beklauen wollen und verfolgt worden zu sein. Und dann ist‘s wohl auch nix mit ‚gestern die Badestelle gefunden‘ haben.“

„Warum denn nicht?“, wollte Rüdiger Mertz wissen.

„Warum hätten sie denn da gestern noch mal auftauchen sollen, wenn sie ein paar Hundert Meter entfernt schon am Freitag die Karre abgestellt haben? Sprit hatten sie ja wohl keinen dabei. Sonst wären sie ja mit dem Wagen gestern dort auch wieder weggekommen.“

„Ja, aber das hieße ja …“, begann Klaiser laut zu überlegen, „das hieße ja, dass sie vielleicht schon am Freitag an dieser Badestelle waren. Ungefähr um die Zeit, in der die junge Frau umgebracht worden ist.“

„In der Tat, das hieße es. Wird Zeit, dass wir den beiden da unten richtig einheizen.“

„Ja, aber vorher bitte dringend Kontakt mit der Firma Kube und … ääh Dingenskirchen machen.“

„Kubisch & Partner, klar, mache ich.“

„Claudia, bitte sei so lieb und klemme Dich mal hinter den ebenfalls spurlos verschwundenen Freund von Hanna Klinkert. Der Mann heißt Arne Priester, mit ‘nem Doktor vornedran, ist 30 Jahre alt, Wirtschaftsanwalt und wohnt in Puderbach. Würde mich mal interessieren, wo der abgeblieben ist und ob er derjenige war, der sich auf dem Badelaken von Hanna verewigt hat.“

„Äh, wie? Verewigt?“

„Schau einfach in den Bericht. Dann wirst Du‘s begreifen.“ Es war ihm einfach zu peinlich, der Kollegin gegenüber von vermutetem Geschlechtsverkehr und Spermaresten zu sprechen. Aber die hatte die entsprechende Stelle im KTU-Bericht ohnehin schnell gefunden und gebremst lächelnd genickt.

Rüdiger und Pattrick Born sollten sich um ‚Bonnie & Clyde‘ kümmern und ihnen mal richtig auf die Finger klopfen. Vor allem Pattrick Born hatte den Hauptkommissar in der Vergangenheit durch seine Verhörpraktiken des öfteren sehr beeindruckt. Sam Weinrebe bekam den Fall mit dem erschossenen Pferd übertragen und Theo Schöneborn sollte sich um die beiden Betrügereien in Weidenhausen und Erndtebrück kümmern. Den versuchten Raubüberfall auf den Laden in Berleburg sollte dann Claudia bearbeiten, wenn sie die Nachfragen nach dem Verbleib von Priester erledigt hatte.

Klaus wollte nämlich unter keinen Umständen wieder eine Mordkommission von außerhalb, die sich mit einer gewissen Eigenmotorik in einer autonomen, fast undurchdringlichen Hülle bewegte. Darum sagte er den beiden Helfern von der Schutzpolizei, „kann sein, dass ich Euch schnell wieder von Euren Aufgaben abziehen muss, wenn sich im Mordfall tatsächlich etwas ändern sollte.“ Die Kollegen nickten und zogen mit den entsprechenden Anzeigen und Berichten von dannen.

‚Zum Glück kommt Jürgen Winter morgen aus dem Urlaub zurück‘, sprach sich Klaus in Gedanken noch ein wenig Mut zu. ‚Das macht uns dann doch noch etwas elastischer.‘

Alexandra Afflerbach von ‚Steffes Hof‘ in Weidenhausen war richtig sauer. „Wissen Sie“, sagte sie an Theo gewandt, während sie gemeinsam mit einer jungen Frau die Tische in ihrem Restaurant für eine Gesellschaft eindeckte, „es kommt schon mal vor, dass hier jemand rausgeht ohne sein Bier zu bezahlen. In den meisten Fällen kommt der dann sogar peinlich berührt wieder zurück. Weil er‘s tatsächlich vergessen hat.

Aber was sich diese beiden jungen Leute geleistet haben, das geht deutlich darüber hinaus.“ Theo musste sich ein wenig anstrengen, um alles zu verstehen. Denn die Helferin stellte gerade mit einigem Scheppern Suppenschalen auf die Unterteller.

„Kommen Sie, wir gehen rüber ins Nebenzimmer. Da sind wir eher ungestört“, forderte ihn daher die Chefin des überaus beliebten Gasthauses auf.

Tatsächlich bot der kleine Raum, mit dem Stammtisch links neben der Theke, eine schon fast heimelige Atmosphäre. Von den Geräuschen im Restaurant war hier kaum etwas zu hören. Alexandra Afflerbach hatte im Vorbeigehen aus der Kühlung Cola und Wasser mitgebracht und fragte nach dem Getränkewunsch des Beamten, der die erbetene eiskalte Cola fast in einem Zug leerte. „Es ist schon wieder so unheimlich warm geworden.“

„Da sagen Sie was“, federte die Chefin hoch, kaum, dass sie gesessen hatte. „Moment bitte“, unterbrach sie und führte etwas abseits per Handy ein kurzes, besorgtes Gespräch mit dem Getränkelieferanten. „Bei denen sind die Lager mittlerweile fast so leer wie bei ihren Kunden. Die Brauereien und Mineralbrunnen kommen nicht mehr hinterher, bei dieser Bullenhitze“, erzählte sie, als sie sich wieder zu Theo Schöneborn setzte. „Oh, entschuldigen Sie bitte“, lachte sie plötzlich, „das mit der ‚Bullen-Hitze‘ ist mir so rausgerutscht.“ Es war ihr peinlich. Aber sie konnte ihr Lachen kaum unter Kontrolle bringen.

„Ach Gott, da sind wir deutlich Schlimmeres gewohnt“, wehrte Theo ab. Aber auch er brauchte einen Moment, bis er seine spontane Fröhlichkeit unter Kontrolle hatte. „Okay, Frau Afflerbach, was genau haben die beiden Leute getan? Und vor allem, können Sie uns etwas über deren Identität sagen?“

 

„Das ist ja das Seltsame“, entgegnete die adrette Frau, „wir haben keine Ahnung, wie sie tatsächlich heißen. Angekommen sind sie hier am Sonntag vor einer Woche, also am 29. Juli. Als Rucksacktouristen, die sich mit Sabine und Gregor Schütze aus Dormagen eingetragen haben. Mit Adresse und allem Drum und Dran. Die beiden machten einen guten Eindruck. Und deswegen sah ich auch keinen Grund, nach ihren Personalausweisen zu fragen.“

„Machen Sie das denn üblicherweise?“

„Naja, hin und wieder schon. Wenn mir irgendetwas komisch vorkommt. Aber die meisten kommen ohnehin über Online-Buchungen zu uns. Da ist das alles schon im Vorfeld geregelt. Auch die Zahlungsmodalitäten stehen da bereits fest.“

„Okay“, brummelte Theo vor sich hin, während er eifrig Notizen machte, „was hat Sie denn erkennen lassen, dass Sie betrogen worden sind?“

„Haja, die beiden sind einfach abgehauen, ohne sich noch einmal zu zeigen. Sie waren am Freitag noch beim Frühstück“, sinnierte Frau Afflerbach und ging im Kopf offenbar noch einmal Stück für Stück durch, wie der Morgen abgelaufen war. „Und dann waren sie plötzlich verschwunden. Bleiben wollten sie aber ursprünglich bis vorgestern, also Samstag.“

„Wann haben Sie festgestellt, dass die Leute, wie Sie sagen ‚einfach abgehauen‘ sind?“

„Das hat unsere Putzhilfe am Vormittag bemerkt. Sie hatte deren Zimmer aufgeräumt und festgestellt, dass alle Sachen verschwunden waren, die die Gäste bei sich hatten. Zunächst nicht weiter tragisch, hab‘ ich gedacht. Vielleicht haben sie ihre Sachen in die Reinigung bringen wollen. Sie hatten ja nicht so viel dabei.

Als sie aber nicht zum Abendessen aufgetaucht waren und auch nicht über Nacht kamen, war es endgültig klar. Die sind einfach verschwunden, ohne zu bezahlen. Eine hübsche Summe, auf der sie uns haben sitzen lassen. 405 Euro allein für Übernachtungen und Halbpension bis Freitag. Die beiden weiter gebuchten Tage nicht mitgerechnet. Und dazu noch eine Getränkerechnung von knapp 180 Euro. Die haben ja hier zweimal bis lange nach Mitternacht gesessen und ordentlich was reingeschüttet. Und dabei noch drei Leute mit beköstigt, die an einem Abend zu uns hereinkamen und sich sofort zu den beiden setzten.“

„Da kommt tatsächlich einiges zusammen“, resümierte Schöneborn, obwohl er insgeheim dachte, dass die Preise für Übernachtung mit Halbpension durchaus moderat sein müssten. Immerhin hatten die Unbekannten vier Nächte hier verbracht, gefrühstückt und zu Abend gegessen. ‚Umso härter für die Wirtsleute, auf das Geld verzichten zu müssen‘, dachte er.

„Hatten Sie den Eindruck, dass sich die fünf untereinander kannten?“

„Ich glaub‘ schon. Denn sie waren sehr schnell sehr vertraut miteinander. Zumindest die drei Männer. Wie das mit den beiden Frauen war … Das kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Die beiden saßen auch zu weit auseinander.“

„Sagen Sie, Frau Afflerbach, woher wissen Sie eigentlich, dass die beiden Personen, die hier bei Ihnen gewohnt haben, falsche Namen angegeben haben?“

„Das haben Ihre Kollegen von der Wache schon am Samstag angedeutet, nachdem wir die Anzeige erstattet haben. Zumindest gebe es die Namen nicht unter der angegebenen Adresse, haben die Kollegen herausgefunden.“

Schöneborn klatschte sich mit einer Hand an die Stirn und blätterte in dem Aktendeckel, den er vor sich auf dem Tisch liegen hatte. ‚Ich Hornochse‘! beschimpfte er sich innerlich, ‚hast du doch schon alles in der Akte gelesen.‘

„Sorry“, sagte er, „die Seite hatte ich übersehen. Irgendwie ist es wohl einfach zu heiß für klare Gedanken“, lachte er verlegen.

„Kein Problem“, lächelte seine Gastgeberin und schenkte ihm ein weiteres Glas eiskalter Cola ein. Dann fragte sie, ob denn dieser Tatbestand ausreiche, um das Betrügerpaar auf eine Fahndungsliste zu setzen.

„Natürlich werden wir nach denen suchen. Aber dafür brauchen wir schon eine ziemlich präzise Täterbeschreibung.“

„Oje, ich bin so unheimlich schlecht darin, Menschen so zu beschreiben, dass man sie danach malen könnte. Aber ich habe mir ihre Gesichter trotzdem ziemlich genau eingeprägt. Bei einer Gegenüberstellung würde ich sie sofort erkennen.“

„Na, das ist doch immerhin was“, hellte sich Theos Miene deutlich auf. Ihm war nämlich plötzlich eine Idee gekommen. „Schauen Sie mal bitte“, lenkte er ihren Blick auf das Display seines iPhones, „sind die das eventuell?“ Er hatte das Foto von ‚Bonnie & Clyde‘ aufgerufen, das seit diesem Morgen jedem Polizeibeamten von ganz NRW zugespielt worden war.

„Zeigen Sie mal“, kam Alexandra Afflerbach näher. Um gleich darauf mit dem Brustton der Überzeugung zu sagen: „Na klar, das sind sie! Wie kommen Sie denn zu diesem Bild?“

„Darf ich Ihnen leider nicht sagen. Sind Sie wirklich sicher, dass das Ihre Betrüger sind?“

„Absolut sicher. Das sind sie. Warten Sie mal ‘n Moment“, tätschelte sie dem aufgeregt dreinblickenden Polizisten die Hand, „Leonie, komm bitte mal.“

Kurz darauf stand die junge Frau von nebenan bei ihnen und beäugte das Foto.

„Aber sicher. Das sind sie. Eindeutig! Können Sie der Mama ruhig glauben“, lachte sie den Beamten an. „Wieso? Habt Ihr die schon?“

„Die haben wir schon. Seit gestern Abend. Aber wieso eigentlich Mama?“

„Weil ich ihre Tochter bin.“

Theo war ganz verdattert. „Ach, Entschuldigung, das konnte ich ja nicht wissen.“

„Natürlich nicht“, meinte Mama Afflerbach. „Mein Fehler. Ich hab‘ ganz vergessen, sie vorzustellen.“

„Alles halb so wild“, lachte Leonie und wandte sich wieder ab. „Ich helfe hier halt ab und zu mal aus.“ Dann lärmte sie draußen wieder mit dem Geschirr.

„Wie sind Ihnen die beiden Typen in die Fänge geraten?“, wollte Alexandra wissen. „Haben die woanders auch umsonst übernachtet und sich den Leib vollgeschlagen, ohne dafür zu zahlen?“

„Dazu darf ich Ihnen im Moment auch nichts sagen“, antwortete der Angesprochene. „Aber eines ist sicher. Die beiden werden in absehbarer Zeit auf Staatskosten logieren. Allerdings sicher nicht so komfortabel wie bei Ihnen. Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment. Ich muss mal gerade telefonieren.“

Klaus Klaiser hielt es nicht mehr in seinem Sitz, als ihm Theo Schöneborn telefonisch mitteilte, dass „Bonnie & Clyde auch diejenigen waren, die in Weidenhausen von Sonntag bis letzten Freitag für umsonst im ‚Steffes Hof‘ logiert“ hatten.

„Ich hab‘s geahnt, ich hab‘s geahnt! Diese Zeitgleichheit. Solche Zufälle gibt‘s nicht. Hast Du super gemacht. Bist Du noch dort?“

„Klar, Chef. Wir sollten hier auf alle Fälle die SpuSi reinlassen, würde ich vorschlagen. Auch wenn das Zimmer längst gereinigt ist.“

„Auf jeden Fall. Ich setze die gleich in Bewegung. Bleibst Du bitte solange da?“

„Natürlich. Muss hier erstmal um ein wenig Verständnis werben für diese Maßnahme. Heute Mittag wird hier eine größere Gesellschaft erwartet.“

„Du machst das schon“, schmierte Klaus dem glücklichen Kollegen etwas Brei um den Bart. „Danke Dir.“ Dann beendete er das Telefonat und rannte rüber ins ‚Labor‘, das Büro von Sven Lukas. Doch der glänzte durch Abwesenheit. „Wo ist Sven?“, rief Klaiser laut in den Flur.

„Der ist in Arfeld, wo die SpuSi den Amarok untersucht. Die haben den nicht abschleppen können, wegen seines Automatikgetriebes!“, rief Rüdiger Mertz von weiter hinten durch eine offene Bürotür. „Übrigens“, kam er schließlich heraus auf den Flur, „es ist scheißwarm hier.“ Dabei wischte er sich mit einem riesigen Taschentuch Schweiß aus dem Gesicht und vom Hals.

„Um mir das zu sagen, musstest Du Dich aber nicht extra rausquälen“, lächelte Klaiser.

„Nee, ich wollte Dir nur kurz berichten, dass die Firma Kubisch & Partner seit Ende vergangener Woche ihre Bauleiterin Kathrin Leimbach vermisst, samt ihrem Dienstwagen, einem VW-Amarok, braun-metallic.“