Gnadenlos

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„Wahnsinn. Was Sie sich alles merken können.“

„Es interessiert mich halt. Ich kann mit der Frau zwar politisch nichts anfangen. Aber eigentlich finde ich alles, was Frauen in Spitzenpositionen so leisten, richtig toll.“

„Danke. Kleinen Moment mal bitte“, meinte Sven und ging ein paar Schritte zur Seite. Per Handy rief er bei Petra Fischer im Kommissariat an. „Tu mir bitte einen Gefallen und gib’ gerade mal eine Fahndungsmeldung raus. ‚Gesucht wird ein weißer Audi SUV, Q-Modell neuerer Bauart, Farbe weiß, Kennzeichen HU, Trennung, I, mehr ist nicht bekannt. Es gibt auch keine Infos zum Fahrer. Das Fahrzeug wurde gegen 14:10 Uhr zuletzt gesehen in Birkelbach, Fahrtrichtung vermutlich Erndtebrück.“

Nach dem Zusatz der üblichen Präliminarien wie ‚Hinweise an …‘ und so weiter beendete er sein Telefonat und kehrte wieder zu den beiden zurück. „So, Frau Homrighausen, jetzt noch was ganz Wichtiges: warum sind Sie eigentlich wieder hierher zurückgekommen?“

„Ja nun“, antwortete sie und machte eine kleine Pause, „als ich zu Hause war, ist mir erst einmal richtig klar geworden, was ich da eigentlich erlebt habe. Erst der weggeworfene Spaten, dann dieser davonrasende Audi-Fahrer. Ich dachte, da ist irgendwas im Busch. Deshalb bin ich nochmal losgezogen. Und als ich hier ankam, war schon die Polizei vor Ort.“

„Und dann haben Sie den Spaten an sich genommen?“

„Klar. Und das wollte ich Ihrem Kollegen sagen. Aber der hatte ja keine Zeit für mich.“

„Ja okay, aber warum haben Sie ihm den Fund denn nicht einfach gezeigt?“

Diese Frage hätte Sven besser nicht gestellt. Denn sie brachte ihm nicht nur einen vorwurfsvollen Blick ein. Er bekam auch eine richtig pampige Antwort. „Wie denn bitte, Herr Kriminalrat? Rollator fahren, Spaten halten und noch hinterherrennen? Vergessen Sie’s!“

Der ‚Freak‘ schwankte zwischen Mitleid und Ausraster. ‚Weiß der Himmel, wie oft diese Nervensäge das Ding schon in der Hand gehabt und damit Täterspuren verwischt hat‘, dachte er. Die wären nämlich ohne Schwierigkeiten nachweisbar gewesen. Spatenstiel und Griff hatten schließlich einen Lacküberzug. Für die KTU eigentlich so etwas wie ein Elfmeter. Aber jetzt …

Als hätte sie die Gedanken des Kommissars erahnt, griff die kleine Frau kurzerhand in den Kofferraum. „NEIN, NICHT!“, brüllten die Polizisten, die einen Meter zu weit weg standen, um eingreifen zu können. Aber sie grinste nur und holte einen Arbeitshandschuh hervor. „Für Sie scheine ich ja wohl der absolute Vollpfosten zu sein. Oder?! Ich werde das Teil doch nicht mit bloßen Händen anfassen.“

Fassungslos schauten die beiden Polizisten auf den Spaten. Man musste kein Fachmann sein, um festzustellen, dass das scharfkantige Teil mit brachialer Gewalt in etwas hineingeschlagen worden war, das Blut und Haare an der linken Blattseite hinterlassen hatte.

„Boah! Das ist ja noch nicht mal ganz trocken“, beschrieb Bernd die offensichtlichen Spuren der Gewalttat. „Und der Spaten ist messerscharf. Schau mal, der scheint nagelneu zu sein.“

Vor der Kapelle hatte der Leichenbeschauer seine Arbeit mittlerweile beendet und vorab bereits ein vages Urteil zur Todesursache gefällt. „Tod durch Genickbruch, spätestens aber durch hohen Blutverlust. Hervorgerufen durch einen massiven Schlag mit einem scharfkantigen Gegenstand in Höhe des vierten Halswirbels.“

Das deckte sich mit den Vermutungen des Notarztes, der gemeinsam mit dem inzwischen heruntergekühlten Dörnbach bereits das Gelände verlassen hatte. Der Mann mit dem Hitzschlag war auf dem Weg ins Krankenhaus nach Berleburg. Auf eine Vernehmung hatten die Beamten angesichts seines Zustandes vorerst verzichtet.

Den Toten hatten die Kollegen mit einer Alufolie zugedeckt, weil der Mann noch nicht abtransportiert werden konnte. Der Staatsanwalt ließ mal wieder auf sich warten. Und auch der Leichenwagen war noch nicht da. Es gab also noch gar keine Möglichkeit, das Opfer vor den höchst interessierten Fliegen durch einen Plastiksack, oder gar einen Zinksarg zu schützen.

Mit spitzen Fingern hatte Dirk Finkbeiner den Geldbeutel des Getöteten aus dessen Gesäßtasche gefriemelt und darin sowohl Führerschein als auch Personalausweis gefunden. Nach eindeutiger Identifizierung über die Passfotos war klar, bei dem Toten handelte es sich um Daniel Böttcher aus Bad Berleburg. Der Bedauernswerte war gerade einmal 39 Jahre alt geworden.

In der Kurstadt liefen bereits die Recherchen zu Personenstand, Beruf und eventuellen Angehörigen. Klaus Klaiser hatte das in Auftrag gegeben und nebenbei beobachtet, dass die beiden Kollegen oben beim Friedhof noch immer mit der Rollator-Dame beschäftigt waren.

Per Handy fragte er nach und staunte, als ihm der ‚Freak‘ von dem Spaten und Frau Homrighausens Beobachtungen erzählte. „Sag bloß. Die Frau hat den Mörder gesehen und die Mordwaffe einfach mitgenommen?“

„Davon müssen wir im Moment mal ausgehen.“

„Und sie selbst? Kommt sie als Täterin nicht in Frage?“

„Nee, das glaube ich nicht. Geht rein technisch gar nicht. Kleinheisterkamp sieht das auch so.“ Mehr wollte er am Telefon mit Rücksicht auf die Zeugin nicht sagen. Wie hätte er denn ihr Handicap beschreiben sollen, ohne dass sie das mitbekommen würde? Die Frau war ohnehin schon hibbelig genug.

„Ich komme mal rauf zu Euch.“ Der Kripo-Chef wollte gerade das Telefonat beenden, als ihm noch etwas einfiel. „Habt Ihr eigentlich eine Fahndung nach dem Wagen rausgegeben?“

„Klar. Läuft schon ‘ne ganze Weile. Aber sollten wir bei dieser Hitze nicht den uniformierten Kollegen den Rest des Geländesuchspiels ersparen? Ich meine, es reicht doch wahrscheinlich, wenn die sich auf den Bereich um den Parkplatz konzentrieren.“

Doch die hatten ohnehin schon ergebnislos abgebrochen und versuchten, sich mit Getränken aus den Einsatzfahrzeugen zu erfrischen. Aber die hatten sich längst der Außentemperatur angepasst, wie man dem einen oder anderen Fluch entnehmen konnte.

„Sei mal kurz ruhig“, bat Manni Burmester den Kollegen. Die Leitstelle in Siegen gab gerade die Fahndungsmeldung per Funk an alle Streifen heraus. „HU, Trennung I“, hatte er mitbekommen und wartete auf die Wiederholung. Beim Stichwort „weißer Audi SUV, Q-Modell“ streckte er sich kerzengerade durch.

„Bingo!“, rief er, „den haben wir doch heute Vormittag bei der Kontrolle oberhalb von Weidenhausen in der Mache gehabt. Der ist doch gefahren wie ein Henker, über 45 Klamotten zu schnell.“

„Stimmt.“ Georg Hutschneider streckte seinen Daumen hoch. Den Fahrer hatte er sich gemerkt. Weil er derjenige Beamte war, der im Bulli saß, den ganzen Papierkram erledigen und die Bußgelder kassieren musste.

„Der stand total unter Zeitdruck und hat die 160 Euro ohne Widerspruch sofort bezahlt. Mit seiner Karte. Hatte angeblich `n wichtigen Termin. ‚Den Führerschein kann ich doch behalten, bis Ihr mir schreibt, oder?‘, hat er noch gefragt. Dann ist er abgedüst.“

Hutschneider kramte in seiner Kladde die Durchschläge der Protokolle und Zahlungsbelege durch. … „Moment, wir haben doch seine Personalien hier, hab’s gleich.“ Mit nassem Finger blätterte er den ansehnlichen Stapel durch wie ein Geldbündel.

„Hier!“, brüllte er förmlich, „das ist er. Warte, äääh, Jörg Rainer Radtke, geboren 15.10.73, wohnhaft Willy-Brandt-Straße 53, Hanau.“

„Klasse!“ Burmester jubilierte. „Und das Kennzeichen?“

„HU-I 9537.“

„Super!“ Georg ballte triumphierend die rechte Faust. Dann griff er zum Funkmikro und rief die Leitstelle. „Wär’ doch gelacht, wenn der uns durch die Lappen ginge.“

Die Streifenpolizisten staunten nicht schlecht, als sie vor dem Mc Donald’s in Geisweid von einem schlanken Mann in schwarz-weiß angesprochen wurden. Sie hatten sich gerade mit einer großen Cola samt viel Eis eingedeckt, um den Rest ihrer Schicht auf den brüllend heißen Straßen besser ertragen zu können. Da war der weiße Audi Q5 auf den Parkplatz gefahren.

‚Henner‘ Seifert auf dem Beifahrersitz hatte sofort kapiert, wer da aus dem Wagen gesprungen war und auf sie zukam. Schließlich hatten sie die Fahndung nach dem Wagen schon zweimal im Funk mitbekommen.

Doch bevor er auch nur papp sagen konnte, klopfte der Mann bereits an die rechte Seitenscheibe und bat durch die typische Handbewegung, diese herunterzulassen.

„Entschuldigung, können Sie mir sagen, wie ich hier zum Friedhof komme?“

„Zum Friedhof?“ Seifert schaute ein wenig belämmert.

„Ja, Friedhof. Ich bin jetzt die Straße zweimal bis zum Ortsende und zurück gefahren und kann ihn nicht finden. Auch das Navi zeigt keinen Friedhof an. Und ich bin ohnehin schon viel zu spät für die Beerdigung.“

„Warten Sie“, mischte sich Kollege Jens Blecher ein, „ich zeig’ Ihnen auf der Karte, wie Sie hinkommen.“ Mit einem Stadtplan von der Ablage stieg er auf der Fahrerseite aus und kam heftig niesend um den Bulli herum. „Hier“, reichte er Henner den Plan an dem Mann vorbei, „guck im Quadranten D3 nach. Ich muss mir mal eben die Nase putzen.“

Henner war irritiert, ließ sich aber nichts anmerken, als sich der Audi-Fahrer ihm zuwandte. Denn er sah im Hintergrund, dass Blecher statt in die Hosentasche nach hinten zum Gürtel griff. Blitzschnell hatte er von dort seine Handschellen vorgeholt und in Bruchteilen von Sekunden bereits das rechte Handgelenk des arglos fragenden Mannes gefesselt.

„Hey, was soll das?!“, schrie Radtke entsetzt auf und wollte sich abrupt umdrehen. Aber da hatte der Beamte bereits seinen linken Arm mit stahlhartem Griff auf den Rücken gedreht.

„Aua! Das tut weh!“

„Dann bleiben Sie einfach ruhig stehen. Dann passiert Ihnen nichts.“

„Was hab’ ich denn getan, verdammt nochmal? Sie können mich doch nicht einfach hier auf offener Straße ohne Grund und Ursache festnehmen.“

 

„Doch können wir. Nach Ihnen wird nämlich bundesweit gefahndet, Herr Radtke.“

Es schien den Polizisten, als schwinde die sommerliche Bräune im Gesicht des Festgenommenen. „Nach mir wird was?“

„Gefahndet“, antwortete Henner. „Sie werden polizeilich gesucht.“

„Verstehe ich nicht. Warum das denn? Was wirft man mir denn vor? Etwa zu schnelles Fahren? Ich hab’ doch bei Ihren Kollegen schon gezahlt. Und die haben mich weiterfahren lassen. Oder kann man deswegen neuerdings auch noch nachträglich festgenommen werden?“

„Nein, deswegen nicht.“

Irritiert blickte der Mann von einem Polizisten zum anderen. Längst war sein blütenweißes Hemd an verschiedenen Stellen leicht transparent geworden. Es klebte dort an seinem athletischen Körper. „Aber weshalb denn dann?“

„Das wird man Ihnen auf der Dienststelle sagen. Bitte kommen Sie jetzt mit uns.“

Die Nachricht vom schnellen Fahndungserfolg hatte eingeschlagen wie eine Bombe. „Effektiver geht es ja nun wirklich nicht“, freute sich Klaus Klaiser, der immer noch auf dem Friedhof in Birkelbach stand und dort nach einem Intensivgespräch mit Frau Homrighausen auch noch mit einem Neuen von der Spurensicherung zusammengerumpelt war.

„Verdammt, das ist doch immer dasselbe“, hatte der losgemault und sich aufgepumpt wie ein Ochsenfrosch. „Wie sollen wir denn jetzt noch brauchbare Fingerabdrücke und Spuren am Tatort sichern können, wenn hier tausend Leute überall rumlatschen und alles begrabschen?“

‚Lieber Himmel was ist das denn für eine peinliche Figur?‘, wollte der ‚Freak‘ gar nicht glauben, wie dieser Mensch sich aufführte. Der Typ war gerade erst aufgetaucht und hatte keinerlei erkennbaren Grund für sein Gestänker.

„Sagen Sie mal“, fuhr er ihm deswegen in die Parade, „haben Sie das aus schlechten Krimis oder was? Sie können hier gerne ohne das Gemotze antreten. Oder gab’s bei Ihnen zum Mittagessen Heftzweckensalat mit Glasscherbendressing?“

Die wenigen Zeugen des Auftritts mussten an sich halten, um nicht laut loszulachen. Nur der SpuSi-Mann blieb bei seinem Stiefel. „Wie kommen Sie mir denn vor?“, fauchte er verächtlich, „haben Sie überhaupt ‘ne Ahnung, was es bedeutet, manchmal jeden Grashalm umdrehen zu müssen, um überhaupt was zu finden?“

„Mehr als Sie glauben. Genauso wie alle anderen Kollegen hier.“ Lukas hätte den Mann ohrfeigen können. „Wir machen unseren Job schließlich auch nicht erst seit gestern.“

„Ja, aber nicht meinen.“

„Den möchten wir ja auch gar nicht haben“, schaltete sich Klaus ein. „Und jetzt zeigen Sie doch bitte einfach mal, was Sie draufhaben.“

Der Angesprochene fuhr herum. „Dann halten Sie sich doch schon mal da raus.“

„Au, au, au“, rief der Kripo-Chef und lief verdächtig rot an, „jetzt aber mal ganz langsam, ja?! Sie lassen jetzt einfach den Dampf aus dem Kessel und stellen sich ordentlich vor. Hier hat keiner auch nur die Spur einer Ahnung, mit wem wir es zu tun haben.“

Irgendwie schien das nicht zu helfen. „Wer ist ER denn?“, fragte der SpuSi-Mann blöde grinsend in die Runde.

„Och“, meinte Sven, „nur unser Chef. Erster Kriminalhauptkommissar Klaiser.“

„Ach so.“ Sendepause. Als hätte ihm jemand irgendwo eine Nadel reingesteckt, verlor der Aufgepumpte zusehends an Spannung. Seine Hände suchten irgendeine Parkposition, fanden aber keine. „‘tschuldigung“, stotterte er, „ich … ich … konnte ja nicht wissen. Ich ääh, ich bin Markus Hilpert und vertrete den Leiter der Spurensicherung, Herrn Steiner.“

„Na dann. Wäre schön, wenn Sie ihn auch in Sachen Benimm vertreten würden. Und in Sachen Kompetenz.“ Stinksauer drehte Klaus ab, Richtung Ausgang. „Was für ein Fatzke“, zischte er. Aber dann kam der Anruf mit der Information über die Festnahme.

„Weißt Du was, lass uns sofort nach Siegen fahren und uns den Herrn in der Arrestzelle vorknöpfen“, schlug Klaiser vor. Und als Sven ihn von der Seite anschaute und auf sein durchgeschwitztes T-Shirt deutete, fügte er grinsend hinzu. „Stell Dich nicht so an. Heißer wird’s heute eh nicht mehr. Ich mach’ die Fenster auf. Der Fahrtwind wird Dich schon trocknen.“

Doch hatte der allenfalls die Wirkung eines gigantischen Heißluft-Föns und sorgte dafür, dass der Entschluss zur Wageninnenbelüftung bald wieder rückgängig gemacht wurde. Zumal die schon etwas in die Jahre gekommene Klimaanlage endlich ihre Arbeit aufnahm.

„Ich verstehe nicht ganz, warum dieser Radtke nach Siegen gefahren ist“, meinte Sven nach einer Weile. „Warum fährt der Kerl nicht so schnell wie möglich auf irgendeine Autobahn und haut so weit wie möglich ab?“

„Hab’ ich mich auch schon gefragt. Vollkommen schräg. Stattdessen bleibt er in der Nähe und sucht einen weiteren Friedhof.“

„Wie? Er suchte einen weiteren Friedhof? Wer sagt das denn?“

„Die Kollegen, die ihn einkassiert haben.“

Der ‚Freak‘ runzelte die Stirn und fragte eher belustigt, „meinst Du, der hätte eventuell noch ‘ne Leiche, die er im Kofferraum mitgebracht hat?“

„Um Gottes Willen! Nein!“

„Was macht Dich da so sicher?“

„Was mich da so sicher macht? … Naja, er hätte doch niemals eine Polizeistreife nach dem Weg gefragt. Schon allein, um nicht aufzufallen.“

„Oder gerade doch. Weil das niemand für möglich halten würde.“

„Nee, nee“, lachte Klaus und beschleunigte am Ortsausgang, „er hätte die Leiche doch schon in Birkelbach entsorgen können. Einfach in das frisch geschaufelte Grab, ein bisschen Erde drauf und fertig. Bei der Beerdigung wäre dann auch noch ein Sarg drauf gekommen. Die nächsten 30 Jahre hätte kein Mensch die Leiche darunter jemals wiedergefunden.“

„Vielleicht hatte er das ja vor, aber kam nicht mehr dazu. Weil ihn der Mann erwischt hat, den wir dort tot aufgefunden haben. Erschlagen mit dem Spaten, den er mitgebracht und dann weggeworfen hat. Radtke konnte ja nicht ahnen, dass diese Frau Homrighausen das mitgekriegt und an uns verpetzt hat.“

„Und wieso fährt er dann ins Siegerland, um die Leiche zu entsorgen, statt das hier irgendwo in der Nähe zu versuchen?“

„Das müssen wir ihn schon selbst fragen. Du hast mir doch eingetrichtert, dass Mörder häufig völlig irrationale Entscheidungen treffen. Ich ruf’ mal eben bei den Kollegen in Siegen an und bitte die, sein Auto und den Kofferraum zu durchsuchen.“

„Mach’ das“, stimmte Klaiser zu. „Um alle Zweifel auszuschließen kann man das mal machen.“

Hinter dem Bahnübergang in Altenteich gab der Chef richtig Gas. Diese ewigen Geschwindigkeitsbegrenzungen auf der B62 gingen auch eiligen Polizisten mitunter sehr auf den Zeiger. Und dann noch diese Hitze. Vor ihnen waberten Straße und Landschaft wie ein Trugbild in der Luft.

‚Fehlt nur noch eine Flasche kaltes Bier als Fata Morgana‘, dachte Klaus und musste grinsen. Der ‚Freak‘ telefonierte, schien aber ähnliches zu denken. Zumindest zeigte er während des Gesprächs nach vorne und meinte kopfschüttelnd „is’ ja irre. … Nein, nein, Kollege, nicht Du!“

Sarah Renner und Rüdiger Mertz war dagegen absolut nicht zum Lachen zumute. Eher das Gegenteil war der Fall. Denn sie saßen einer von Weinkrämpfen geschüttelten jungen Frau gegenüber. Pia Böttcher hatte ihr Gesicht in beiden Händen vergraben und war zu keinem Gespräch in der Lage. „Ich begreife das nicht, ich begreife das einfach nicht“, stammelte sie immer nur.

Natürlich hatten beide ein mulmiges Gefühl im Bauch gehabt, als ihnen das Überbringen der Todesnachricht aufgetragen wurde. Niemand unter den Kollegen übernahm solche Aufgaben gerne und schon gar nicht freiwillig. Aber Mertz gehörte zu den erfahreneren Kollegen und war, so schlimm das auch klingen mag, ohnehin an der Reihe.

Da Sarah Renner die im Moment einzig verfügbare Polizistin war, musste sie Rüdiger begleiten. Denn der Chef wollte, dass eine Beamtin dabei ist, wenn die Nachricht vom Tod eines Familienmitglieds an eine Frau überbracht wird und kein Notfallseelsorger zur Verfügung steht.

Ohne Widerspruch stellte sich die Kollegin dieser Aufgabe. „Weil auch solch unschöne Aufgaben zum Polizeiberuf dazugehören“, hatte sie gesagt.

„Wer um alles in der Welt hat Daniel denn das angetan?“, flüsterte die Frau kraftlos und starrte die Beamten an. Ihre geröteten Augen suchten eine Antwort in den Gesichtern von Sarah und Rüdiger. Die Ermittlerin schüttelte nur sachte den Kopf und schämte sich fast für ihre polizeitypische Phrase voller Hilflosigkeit. „Wir wissen es nicht, Frau Böttcher. Noch nicht.“

„Dabei hat er doch nur ein paar Blumen zum Grab seiner Tante bringen wollen“, erzählte sie nach Minuten des Schweigens. „Seine pflegebedürftige Mutter habe ihn darum gebeten, sagte er mir noch am Telefon … Ach Gott …“, ein erneuter Weinkrampf schüttelte sie, „… das war unser letztes Gespräch … Die letzten Worte von ihm.“

Schluchzend wandte sie sich ab. „Daniel war während seines Urlaubs fast täglich in Birkelbach. Er liebte seine alte Mutter abgöttisch.“

Der Weinkrampf der jungen Witwe nahm kein Ende. Und sowohl Sarah als auch Rüdiger schien es gänzlich unangebracht, jetzt die üblichen Fragen zu stellen. ‚Hatte er Feinde, wer könnte ihm Böses gewollt haben, wie war er mit Kolleginnen und Kollegen zurechtgekommen?‘ Heute nicht! Das musste warten.

Gut eine halbe Stunde nach Beginn der traurigen Mission nahm sich schließlich der Hausarzt Pia Böttchers an, um ihr ein Beruhigungsmittel zu spritzen. Rüdiger hatte Dr. Gedeon telefonisch hergebeten, nachdem er auf dem Sekretär im Wohnzimmer ein Rezept über Psychopharmaka für die Hausherrin entdeckt und Sarah darauf aufmerksam gemacht hatte. Beide fürchteten, sie könnte sich unter der Last der Ereignisse etwas antun.

„Eine absolut richtige Entscheidung“, wie der Arzt den Kripo-Leuten bescheinigte. „Es muss jetzt auch reichen. Ich möchte Sie bitten zu gehen und mit Ihren Fragen bis morgen, eventuell auch später, zu warten“, bestätigte er ihren ohnehin gefassten Entschluss. Unter den gegebenen Umständen sei eine Befragung reines Gift für die junge Frau.

„In Ordnung“, willigte Mertz ein. „Aber den PC von Herrn Böttcher müssen wir auf jeden Fall mitnehmen.“

Die Witwe nickte. Und der Arzt ging den beiden voraus ins Arbeitszimmer, wo sie einen Laptop fanden und vom Netz nahmen. „So, aber jetzt gehen Sie bitte.“

Nichts, was sie lieber taten. Dieser beklemmenden Atmosphäre entkommen zu dürfen, war schon fast eine Gnade. Vor allem für Sarah. Still setzte sie sich in den Wagen. Und Rüdiger, der mit ihr eigentlich kurz das weitere Vorgehen besprechen wollte, traute sich nach einem Blick zu ihr herüber nicht, sie anzusprechen. Er ahnte, wie aufgewühlt sie tief im Inneren war.

Als sie auf ihrer Fahrt von dem netten Haus am Herrenacker hinunter in die Stadt am Tor zum Schlosspark vorbeikamen, verdrückte die Kollegin verschämt ein paar Tränen. „Du musst Dich nicht schämen für Deine Gefühle“, versuchte Mertz zaghaft ein Gespräch. „Du kannst mir glauben, dass mir so etwas genauso zu Herzen geht wie Dir.“

„Du meinst, weil ich weine?“, fragte sie tapfer zurück.

Er nickte. „Genau das meine ich. Und ich finde es groß, dass Du so lange an Dich gehalten hast.“

„Lieb von Dir. Aber es war etwas anderes. Schau mal in den Rückspiegel. Siehst Du das händchenhaltende Pärchen? Bei diesem Anblick habe ich an Tom und mich gedacht und mir überlegt, was wäre, wenn man mir die Nachricht von seinem Tod überbrächte. Ich wüsste nicht, was ich täte. Ich würde mich wahrscheinlich umbringen.“

Rüdiger wartete einen Moment, um richtig auf die überbordenden Gefühle der Kollegin reagieren zu können. Aber außer einem leichten Schnüffeln hörte er nichts mehr. Sachte zupfte er ein Kosmetiktuch aus der Box in der Mittelkonsole und reichte es zu ihr rüber. „Tom ist Dein Freund?“

„Oh ja.“ Tapfer tupfte Sarah sich die Augen trocken. Dann zeigte sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht. „Und den lass’ ich auch nicht mehr los.“

„Das ist immer dasselbe Theater hier“, brummte Klaus Klaiser. „Wenn Du in Weidenau zur Polizei willst, musst Du weite Wege gehen.“ Sein Gemütszustand ließ sich am Geräusch des Schaltgetriebes ablesen, als er den Rückwärtsgang reinhaute und versuchte, im total zugeparkten Hof umzudrehen.

Sven Lukas wagte es nicht, das Aufjaulen der Getriebezähne auch nur mit einem Ton zu kommentieren. Die hohen Temperaturen machten heute wirklich allen zu schaffen. Sogar dem sonst so disziplinierten Chef, der sich zur weiteren Stellplatzsuche anderswo anschickte.

 

„Guck, da vorne will einer raus!“, rief der Kollege, „den Platz schnappst Du Dir doch, oder?“ Klaiser nickte, setzte den Blinker und fuhr in Warteposition.

Doch kaum war der Nissan rückwärts aus der Lücke herausgefahren, schoss von der Einfahrt her ein Golf-Cabriolet heran und belegte das begehrte Fleckchen Parkraum wieder. Grinsend stieg ein braungebrannter, junger Bärtiger aus, stolzierte vor dem wartenden Audi her und zwinkerte Klaus zu.

Der Kripo-Chef kochte. „Eine Unverschämtheit reicht mir für heute, mehr brauche ich nicht“, motzte er und sprang aus dem Wagen, bevor ihn der ‚Freak‘ zurückhalten konnte. „Entschuldigen Sie“, sprach Klaiser den ausgesprochen muskulösen Hipster von hinten an, „haben Sie nicht gesehen, dass ich vor Ihnen da war und dort parken wollte?“

Doch der würdigte ihn nicht eines Blickes, zeigte ihm im Weitergehen einen Stinkefinger über die Schulter und rief in breitem Siegerländer Slang: „Do mosste halt schneller sin, Oppa!“

„Sie glauben doch wohl nicht, dass ich mich von Ihnen so behandeln und beleidigen lasse. Mit drei großen Sätzen schoss der düpierte Kriminalist an dem Golf-Proll vorbei, baute sich auf Abstand vor ihm auf und forderte ihn auf, stehen zu bleiben.

„Wat?“, fragte der Grinsemann erheitert und ging langsam auf Klaus zu, „wat soll isch? Mach Disch ma’ net läscherlisch, Do Dost.“

Sven knirschte mit den Zähnen und ahnte Fürchterliches. So hatte er den Chef noch nie gesehen. Doch der fuhr innerlich offenbar gerade komplett runter und sagte ganz nüchtern: „Das reicht jetzt! Ich hoffe, Sie können lesen.“

„Wat willst Do Kasper dann vo mia?“, fragte der Typ. Provozierend knuffte er Klaiser mit der Faust auf die Brust. Doch der blieb ungerührt stehen und schaute ihm schnurgerade in die Augen. „Ich will Ihnen nur zeigen, wen Sie gerade beleidigt und attackiert haben.“ Damit griff er blitzschnell nach der wieder nach vorn fahrenden Faust, drehte sie nach innen und veranlasste deren Besitzer, vor Schmerz pfeifend eine Rumpfbeuge zu machen. „Was ist jetzt?“, fragte er trocken und hielt dem Gebückten seinen Dienstausweis vor die Nase, „können Sie’s selbst entziffern, oder soll ich’s Ihnen vielleicht doch besser vorlesen?“

Der ‚Freak‘ behauptete hinterher sehr zur Gaudi der Kolleginnen und Kollegen, dass man hätte hören können, wie der Muskelmann geschluckt habe. Dabei sei sein Kehlkopf am Hals hervorgetreten und rauf und runter geschossen, „als wenn er ‘ne Maus verschluckt hätte, die dringend wieder raus wollte.“

Sein zweites Zusammenrumpeln an diesem brüllend heißen Tag endete mit einem klaren Punktsieg für Klaus. Björn Schlemper, so hieß der Typ, landete als Personalie samt dem Tatvorwurf „fortgesetzte Beleidigung und Nötigung“ im Notizbuch und anschließend in seinem Golf, um mit einem Affenzahn vom Hof zu fahren. „Entschuldigung“, hatte er noch fast tonlos gestammelt.

„Den hätte ich mit auf die Wache genommen“, war der ‚Freak‘ enttäuscht vom Vorgehen seines Chefs.

„Und?“, hatte der gefragt, „wo hätten wir dann unseren Wagen hinstellen sollen? Der wird seine Abreibung schon noch bekommen.“

Jörg Rainer Radtke lag ausgestreckt auf der Pritsche einer Arrestzelle, als Sven Lukas einen Blick durch die Kontrollklappe warf. „Hallo!“, rief er von innen, „kann ich jetzt endlich mal mit jemandem sprechen, der mir sagt, was mir konkret vorgeworfen wird?“

„Da sind Sie bei uns genau richtig“, antwortete Sven und bat den „Schließer“ darum, den Mann in den Vernehmungsraum zu bringen. Klaus nutzte die Zeit, um sich weiter mit den beiden Beamten zu unterhalten, die Radtke festgenommen hatten. „Der hat keinerlei Widerstand geleistet.“ Soviel könnten sie sagen. Und dass er sich überhaupt keiner Schuld bewusst sei. Er habe vorher nur nach dem Friedhof gefragt und nicht begriffen, was plötzlich mit ihm geschah. „Also wie ein Mörder sieht er nicht gerade aus“, merkte Jens Blecher an. „Aber was heißt das schon?“

Tatsächlich staunten die Kriminalbeamten nicht schlecht, als Radtke ins Vernehmungszimmer geführt wurde. ‚Eine durch und durch gepflegte Erscheinung‘, dachte Sven schon fast neidisch. ‚Durchtrainierter Körper in feinem Zwirn und mit irre teuren Schuhen, garantiert handgenäht und aus Italien.‘ Der Mann sah aus wie geleckt. Lediglich sein blütenweißes Hemd klebte noch hier und da an seiner verschwitzten Haut.

„Guten Tag, ich bin Klaus Klaiser und das ist mein Kollege Sven Lukas. Wir sind von der Kriminalpolizei Bad Berleburg. Nehmen Sie bitte Platz.“

„Danke“, antwortete der Mann jovial. Formvollendet, als komme er zu einem Geschäftsmeeting, stellte auch er sich vor. „Ihnen auch einen guten Tag. Mein Name ist Jörg Rainer Radtke und ich bin CEO der BenRaMet in Hanau. Bitte, was wirft man mir vor?“

„Herr Radtke, Sie stehen im Verdacht, heute in der Zeit zwischen 13:15 Uhr und 14:00 Uhr auf dem Friedhof in Erndtebrück-Birkelbach einen Mann ermordet zu haben.“

WAAAS?!“ Mit weit aufgerissenen Augen sprang der Mann auf und rief: „Das ist doch nicht Ihr Ernst, oder?!“ Mit fast irrem Blick starrte er den Kripo-Chef an. „ICH soll einen Mann umgebracht haben? Mit allem Respekt – Sie sind ja wahnsinnig!“ Offenbar hatte er mit allem möglichen gerechnet, nur nicht mit einem Mordvorwurf.

„Herr Radtke, setzen Sie sich wieder. Zunächst muss ich Sie darüber belehren, dass es Ihnen nach dem Gesetz freisteht, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder zur Sache nicht auszusagen und einen Verteidiger hinzuzuziehen.“

„Auf einen Anwalt kann ich verzichten! Aber natürlich werde ich mich äußern. Nur wüsste ich nicht zu was. Wie kommen Sie denn dazu zu behaupten, dass ich einen Menschen ermordet habe? Das ist doch hanebüchen!“

„Wir haben eine Zeugin, die Sie auf dem Friedhof gesehen hat.“

Der Festgenommene bekam einen trockenen Mund. Heiser fragte er, „wie bitte? Sie haben eine Zeugin?“

„Ja, sagte ich doch. Aber jetzt will ich erst einmal wissen, was Sie in Birkelbach wollten.“

„Ich wollte zu einer Beerdigung.“

„Beerdigung?“

„Ja. So eine Veranstaltung auf dem Friedhof, bei der tote Menschen, die in der Regel in Särgen, oder als Asche in einer Urne liegen, in einem Erdloch verbuddelt werden. Und zwar solche Menschen, die vorher schon tot waren und nicht erst auf dem Friedhof ermordet werden müssen.“

‚Du provozierst mich nicht‘, nahm sich Klaiser vor und fragte ganz ruhig: „Wann sollte die sein?“

„Um 14 Uhr.“

„Ja, aber da war doch gar keine Beerdigung.“

„Das ist es ja. Ich dachte, ich spinne, als ich dort ankam. Trotz einer ziemlich nervigen Polizeikontrolle war ich um 13:56 Uhr dort. Aber da war keine Menschenseele zu sehen. Niemand! Absolute Ruhe. Dabei hatte man mir eine Riesenbeerdigung angekündigt. Der Verstorbene war immerhin Chef einer der ganz großen Gießereien hier. Hans Völz. Sagt Ihnen vielleicht was.“

„Nein, sagt mir nichts“, antwortete Klaiser. „Aber ich weiß, dass in Birkelbach heute keine Beerdigung stattgefunden hat. Haben Sie sich etwa im Datum geirrt?“

„Nein, habe ich nicht!“

„Glaube ich Ihnen sogar“, klinkte sich der ‚Freak‘ ein. „Sie sind doch nicht von Hanau nach Birkelbach gefahren, ohne sich über den genauen Termin zu informieren.“ Dabei grinste er den Probanden frech an und dachte, ‚Junge, du kannst mir viel erzählen, bloß komm mir jetzt nicht mit irgendeinem Scheiß.‘

„Bin ich auch nicht. Der Besuch bei der Trauerfeier war ursprünglich auch gar nicht geplant. Aber weil ich, sagen wir mal, ziemlich in der Nähe war, wurde ich kurzfristig von meinem alten Herrn gebeten, dorthin zu fahren.“

„Von Ihrem Vater? Wie muss ich das verstehen?“

„Mein Vater ist der Seniorchef unseres Unternehmens. Er fühlte sich heute Morgen nicht besonders und sah sich außerstande, selbst zu kommen. Aber Völz war einer unserer ältesten Geschäftspartner. Er meinte, da müsse jemand von uns dabei sein.“