Gnadenlos

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

„Was war das denn?“, hörte er nach gefühlten zwei, drei Minuten eine Männerstimme sagen. „Herr Dörnbach? Alles okay bei Ihnen?“

‚Seltsam‘, dachte der Angesprochene, ‚das klingt wieder völlig normal.‘ Vorsichtig löste er die Hände vom Kopf und machte die Ohren frei. Abermals hörte er seinen Namen. Nur diesmal lauter. „Geht es Ihnen wieder besser, Herr Dörnbach?“

„J… ja“, antwortete er zaghaft. Kein Echo mehr. „Ja, ich glaube, jetzt geht es mir wieder ganz gut.“

„Keine Kopfschmerzen mehr?“

„Nein, jetzt nicht mehr.“

„Das ist ja prima. Sie scheinen die Krise überstanden zu haben. Das freut mich sehr“, meinte der Medizinmann mit deutlich entspannteren Gesichtszügen. Er konnte sich gar nicht erklären, was diese seltsame Attacke bei seinem Patienten ausgelöst hatte. ‚Dem müssen wir nachgehen‘, schrieb er auf seinen inneren Aufgabenblock.

Aber zunächst forderte er Dörnbach auf, wenn es denn möglich sei, den Kopf leicht anzuheben. „Ich mache Ihnen diese Binden erst einmal ab. Aber behalten Sie zunächst noch die Augen zu. Es könnte Sie zu arg blenden.“

Geduldig ließ der Mann auf dem Bett die Prozedur über sich ergehen, obwohl er schmerzvoll einige Kopfhaare samt Wurzel einbüßte. Eines der Heftpflaster hatte beim Anlegen des Verbands statt der Haut ein kleines Haarbüschel etwas weiter oben erwischt.

Kaum waren die Binden vom Kopf gewickelt, erkannte Dörnbach, dass es rosa durch seine Augendeckel leuchtete. ‚Blind also auch nicht‘, dachte er und riskierte trotz Warnung einen blinzelnden Blick. Und dann sah er sie, seine wunderschöne Marie-Luise, die mit Tränen in den Augen und im knatschengen Bleistiftkleid seitlich auf dem Bett saß und die Schnabeltasse in der Hand hielt.

„Hallo Maus“, flüsterte er lächelnd, „da bin ich wieder.“

„Das ist schön“, säuselte Marie-Luise, die erst jetzt realisierte, dass die Gesichtshaut ihres Mannes feuerrot war. Er hatte sich einen Sonnenbrand der Extraklasse eingefangen, schien das aber noch nicht zu spüren. Sachte tastete der Arzt die besonders betroffenen Stellen ab und flüsterte der inzwischen dazugekommenen Krankenschwester etwas zu.

„Was ist eigentlich passiert, Schatz?“, fragte die Schöne besorgt. „Ich habe nur gehört, dass Du mit einem Hitzschlag hergebracht worden bist.“

„Das frage ich mich gerade auch“, antwortete ihr Mann. Angestrengt versuchte er, sich die Ereignisse der letzten Stunden vor dem endgültigen Blackout ins Gedächtnis zurückzurufen. Dann hatte er’s. „Ich …, ich habe einen Toten auf dem Friedhof in Birkelbach gefunden.“

„Du hast was?“

„Einen Toten gefunden. Auf dem Friedhof in Birkelbach, als ich dort an einem Grab gearbeitet habe.“

„Wie bitte?“ Die Gattin war entsetzt. „Seit wann arbeitet denn der Chef der Gemeindewerke Erndtebrück an einem Grab in Birkelbach? Habt Ihr denn für sowas jetzt auch keine Leute mehr?“

„Doch, doch, Maus. Aber …, aber ich bin ja auch gleichzeitig Chef des Bauhofs. Und da gibt es diesen Friedhofsarbeiter, den Leipold, von dem ich Dir erzählt habe. Der ist doch so krank. Den hat’s heute Morgen wieder mal umgehauen, noch bevor er nach Birkelbach konnte. Das Grab, das er gestern angefangen hatte, musste aber heute Abend fertig sein. Morgen um elf Uhr ist dort Beisetzung.“

Die Worte flossen einfach so aus ihm heraus. ‚Irgendwie‘, dachte er, ‚klingt das alles stimmig, was ich hier erzähle.‘ Wie weggewischt war seine Unsicherheit. „Und weil die anderen Leute schon alle unterwegs waren, hab’ ich mir halt gedacht, ‚komm, kannst auch mal wieder ein bisschen Bewegung brauchen‘ und bin hin. Aber dann war das so wahnsinnig heiß, dass es mich einfach aus den Latschen gehauen hat.“

„Na super“, lachte sie entrüstet, „Deine Hilfsbereitschaft bringt Dich noch mal irgendwann um.“

„Ich bitte Dich“, protestierte er sachte, „ich kann doch den armen Kollegen nicht einfach malochen lassen, obwohl es ihm so dreckig geht. Aber das Grab musste fertig werden. Du weißt doch, dass wir die Verpflichtung zur Betreuung aller Friedhöfe haben. Also auch das Ausheben von Grabstellen.“

„Darf ich kurz stören?“, fragte die Schwester und begann, ihm eine Art schmerzstillende Brandsalbe auf Stirn, Wangen und Ohren zu schmieren.

„Mag ja alles sein“, fuhr Marie-Luise unbeirrt fort, „aber was ist denn dann Besonderes daran, dass man bei der Buddelei Tote findet? Du hast mir doch selbst erzählt, dass Grabstellen nach maximal 30 Jahren aufgelassen werden. Wenn man da gräbt, findet man mit Sicherheit den einen oder anderen. Sieht halt nicht mehr so gut aus.“

„Stimmt, meine Süße. Ich habe den aber nicht unten gefunden. Meiner lag oben. Vor der Kapelle. Und auch nicht als Skelett, sondern aus Fleisch und Blut. Viel Blut. Und noch warm.“

Frau Dornhöfer erschrak bis ins Mark. Und die Schmierbewegungen der Schwester gerieten ins Stocken. „Das ist ja entsetzlich! Mein Gott. Wo kam der Tote denn her?“

„Das weiß ich eben nicht. Auf alle Fälle lag er vor der Friedhofskapelle auf dem Bauch, hatte einen Blumenstrauß dabei und einen klaffenden Schmiss im Genick. Ich war gerade aus dem Loch geklettert und wollte mich dort unten in den Schatten setzen, um was Kaltes zu trinken. Mir war eh schon hundsmiserabel zumute. Und dann das.“

„Welch ein Luxus“, quittierte Sven Lukas die Lieferung seines ‚Tropical Bechers‘ und streckte alle Viere von sich. „Den hab’ ich mir wahrlich verdient.“ Sie hatten jetzt Pause. Da ging kein Weg dran vorbei. Zumal der Chef sich kurz zuvor noch rückversichert hatte, dass in Sachen Fahndung und Zeugensuche alles Menschenmögliche getan werde.

„Lass’ es Dir schmecken“, rief er dem Kollegen mit vollem Mund zu und achtete unter schnellem Löffeln streng darauf, dass die Sonne nicht allzu viel von seinem Eis verflüssigte. Er hatte dem ‚Freak‘ mit dem ‚Cup Dolomiti‘ größenmäßig in nichts nachstehen wollen. Zumal er schließlich auch die kühle Zeche zu zahlen hatte.

„Würde jetzt noch ein sachter Luftzug der brütenden Abendhitze den Garaus machen, wäre ich der wiederhergestellteste Kriminalist aller Zeiten.“ Doch diesen Gefallen tat ihm der ungewöhnliche Sommer 2019 nicht einmal in Erndtebrück.

Gut 20 Minuten schlabberten die beiden die riesigen Portionen in sich hinein, beobachteten die Menschen um sich herum und redeten so gut wie nichts. Nur, wenn mal wieder ein Vertreter der Poser-Szene mit röhrendem Triebwerk den Kreisel vor dem ‚Dolomiti‘ umrundete, ließ der ‚Freak‘ den einen oder anderen deftigen Spruch los.

„Lauter schwanzlose Gesellen“, kommentierte er kopfschüttelnd das eitle Gehabe der Typen in ihren hochgezüchteten Boliden.

„Wie meinst Du das?“, erkundigte sich der Chef belustigt.

„Na ja“, meinte Sven, „wer derart aufdrehen muss, um den Mädels zu imponieren, hat in der Regel sonst nicht viel zu bieten. Das ist statistisch belegt. Die Vögel sind in Sachen Potenz meist mächtig unterbelichtet. Deshalb brauchen sie ja diese Ersatzpimmel.“

„Ach“, lachte Klaus und schaute seinem Kollegen tief in die Augen. „Da muss ich aber jetzt richtig staunen.“

„Wieso das? Was meinst Du?“

„Och, pfff, ich denke da gerade an einen aufstrebenden Oberkommissar aus meiner Dienststelle, dessen Namen wir jetzt mal nicht nennen wollen. Der fährt gelegentlich auch wie eine gesengte Sau, wird aber bald Vater. Sollte da an dessen Theorie was nicht stimmen, oder muss ich mir ernsthaft Gedanken machen?“

„Also weißte …!“, hüstelte sein Gegenüber und griff nach der Eiskarte, um dem Chef gespielt mal richtig eins überzubraten. Der konnte aber ausweichen und dabei gerade noch verhindern, bei seinem Seitschwung seinen gläsernen Eispokal samt dazugehörigem Tablett vom Tisch zu fegen.

Die beiden mussten lachen. Zumal eine Frau am Nachbartisch, es war wohl die Bedienung, vor Schreck einen derart spitzen Schrei ausgestoßen hatte, dass der Gast vor ihr vor Schreck sein Eis vom Löffel in den Kaffee sausen ließ. „Boaaaah, Erdbeer-Plörre! Die mag ich überhaupt nicht. Hier, trinken Sie’s“, rief der Mann und reichte die Tasse zu Klaiser rüber.

Klaus konnte sich vor Lachen nicht mehr halten. Vor allem, weil der mit der Tasse auch noch ein Gesicht machte, als habe man ihn vergiftet. Mit einer Hand griff er hektisch an seinen Hals, tat, als schnappe er nach Luft und ließ seine Zunge unter Erstickungsgeräuschen immer weiter aus dem Mund wandern. Ein Bild für die Götter.

„Attenzione, is komme!“ kreischte daraufhin die Bedienung, rauschte um den Tisch herum und versuchte, den vermeintlich Sterbenden mit einem nassen Putztuch zu erfrischen.

Doch das war dem eindeutig zu viel. Gestenreich versuchte er den Lappenangriff abzuwehren und sank röchelnd vom Stuhl auf die Knie. Die Hände zum Himmel gestreckt rief er: „Signorina, bitte, bitte nicht mit dem nassen, dreckigen Lappen. Ich verspreche Ihnen, auch nicht zu sterben!“

„Oh Gott, oh Gott, oh Gott!“, johlte Klaiser und drohte vor Lachen keine Luft mehr zu bekommen. Auch der ‚Freak‘ und die Leute an den Nachbartischen bogen sich vor Lachen. Johlend sprangen einige von ihnen auf, um das Drama genauer betrachten zu können. Doch plötzlich stand der vom nassen Textil bedrohte Mann auf, hob den rechten Arm und bedankte sich lautstark.

Lächelnd griff er nach der Hand der Bedienung, küsste sie galant und sagte: „Meine Damen und Herren, darf ich uns vorstellen: Debora und Luka Minelli. Wir sind Situationskomiker und auf der Durchreise hier bei einem Eis hängen geblieben.“ Mit einer tiefen Verbeugung nahmen die beiden regelrechte Ovationen der Menschen drum herum entgegen. „Sie waren ein tolles Publikum. Vielen Dank!“

„Gibt’s ja nicht“, flüsterte Sven kopfschüttelnd und versuchte, sich zu beruhigen. „Stimmt!“, kam auch Klaus langsam wieder zu Atem. „Das ist wirklich kaum zu fassen. Wie kann man denn aus einem solchen Zufall einen derartigen Brüller produzieren?“

 

„Es bot sich halt an“, lachte der Mime. „Meine Frau hatte ein wenig Kaffee verschüttet und gerade erst das Wischtuch von der Theke geholt, als Ihnen beinahe der Glaskelch runtergefallen wäre. Das nennt man in unserem Gewerbe eine Steilvorlage. Mit der schnellen Reaktion auf solche Situationen verdienen wir unser Geld bei kleinen und großen Veranstaltungen.“

„Bewundernswert, klasse!“ Die Leute auf der Terrasse konnten sich gar nicht mehr beruhigen. Doch auf eine Zugabe ließ sich das Ehepaar nicht mehr ein. Dafür aber auf die Einladung durch die beiden Polizisten. „Eis geht immer, danke.“

„Mach jetzt bloß keinen Fehler“, flüsterte Klaus dem ‚Freak‘ grinsend ins Ohr. „Sonst werden wir hier noch zum Horst gemacht.“

„Weißt Du denn, wer der Tote dort auf dem Friedhof war? Hast Du den gekannt?“ Marie-Luise saß noch immer auf der Bettkante ihres Mannes und versuchte gemeinsam mit ihm, sein Kurzzeitgedächtnis wieder auf Vordermann zu bringen. Dörnbach ging es zwar von Minute zu Minute besser. Aber so ganz frei von Lücken war seine Erinnerung noch immer nicht.

„Keine Ahnung. Hab’ ich Dir doch schon gesagt. Ich glaub’, ich hab’ den ohnehin nur auf dem Bauch liegend gesehen. Mit Gesicht nach unten.“

„Was heißt, Du glaubst?“

„Ha, ich weiß es halt nicht genau. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich ihn angefasst habe. Als ich ihn fand, lag er in einer so großen Blutlache, dass ich mich, glaub’ ich, nur noch geekelt und weggedreht habe.“

„Und woher wusstest Du, dass er tot war?“

„Na ja, weil da doch, wie gesagt, … schon so viel … Blut war …“ Klaus Dörnbach kam ins Stocken.

„Was ist mit Dir?“

„Ich überlege gerade, an irgendetwas wollte ich mich doch erinnern“, antwortete er, tief in Gedanken. … „Nee, fällt mir nicht ein.“

Die Schöne strich mit der linken Hand sanft über seine immer noch glühende Stirn. Das gab ihr Gelegenheit, unauffällig auf die Armbanduhr zu schauen. ‚Mist‘, dachte sie, als sie die Uhrzeit vergegenwärtigte, ‚das wird eng.‘ Ausgerechnet heute hatte sie nämlich ein Date. Aber davon durfte ihr Gatte nichts wissen. Niemals!

Jeden zweiten Dienstag 19 Uhr, zu einer Zeit, wo Klaus sonst ständig in einer Ausschusssitzung oder im Gemeinderat saß, war sie mit einem alten Klassenkameraden verabredet. Zum Sex. Im Wald, im Auto, in einer Feldscheune. Egal. Sie brauchten das. Beide. Aber ihrer beider Ehen sollten nicht darunter leiden.

Vor fast genau einem Jahr hatte sie ihn wiedergetroffen. Bei einem Klassentreffen in Jagdhaus. 20 Jahre, nachdem beide das Abitur gemacht und damals eigentlich wenig für einander übrig hatten. Doch das Wiedersehen mit diesem plötzlich extrem sympathischen und sportlichen Typen hatte sie elektrisiert. Und ihn ebenfalls.

Wie auf ein stilles Kommando hin waren sie noch am selben Abend auf dem Weg zu ihren Autos auf dem Parkplatz des Restaurants übereinander hergefallen. „Ich will mit Dir schlafen“, hatte er ihr ins Ohr geflüstert. „Und ich mit Dir. Sofort!“

In dieser Nacht erlebte Marie-Luise zum ersten Mal in ihrem Leben hemmungslosen Sex auf dem Rücksitz eines Mercedes. Ein ekstatisches Liebesabenteuer, das sie niemals für möglich gehalten hätte. Und das sie fortan nicht mehr missen wollte.

„Ich hab’s“, riss Klaus seine Frau aus ihren Gedanken.

Was hast Du?“, fragte sie, regelrecht erschrocken.

„Ich hab’ das Fahrzeug vom Bauhof hinter der Kirche im Schatten geparkt. Die Schlüssel stecken in meiner Hosentasche. Der Wagen wird morgen gebraucht. Kannst Du die Schlüssel heute Abend noch bei denen in den Briefkasten werfen?“

„Klar, mach’ ich. Hast Du eigentlich schon mit der Polizei gesprochen?“

„Natürlich, ich habe den Toten ja gefunden und der Polizei gemeldet. Wieso fragst Du?“

„Na, nicht dass die auf die Idee kommen, Du wärst das mit dem Mord gewesen. Haben die Dich auf dem Friedhof nicht angesprochen?“

„Ich glaub’ nicht. Ich kann mich aber nicht richtig erinnern. Da waren zwar jede Menge Uniformierte. Aber ich hab’ da so gut wie nichts mitgekriegt. Wegen dieser irrsinnigen Kopfschmerzen. Das Einzige, was ich mitbekommen habe, war ein Brausebad mit einer Gießkanne. Das tat richtig gut. Aber dann bin ich immer wieder weggetreten, … glaube ich.“

Marie-Luise wurde hibbelig. Halb sieben war schon durch. Und noch hatte sie ihr Handy nicht wieder eingeschaltet, wusste also nicht, wo sich ihr Lover mit ihr treffen wollte. Sie müsste jetzt weg. ‚Du geiles Miststück‘, beschimpfte sie sich in Gedanken, ‚hast du’s denn wirklich so nötig, dass dir selbst am Krankenbett deines Ehemannes nichts anderes einfällt?‘

Aber dem ging es augenscheinlich deutlich besser. Und ja, sie hatte es nötig, verdammt nochmal! Sie musste hier raus. Telefonieren.

Dörnbach spürte die Unruhe, die seine Frau ergriffen hatte. „Hast Du noch was vor?“, fragte er.

„Nein, wieso?“ Mit der Gegenfrage versuchte sie Zeit zu gewinnen, um eine plausible Ausrede zu finden.

„Na ja, Du wirkst so, wie soll ich sagen? So … nervös. Als müsstest Du dringend noch irgendwohin.“

‚Nein, bitte, bitte nicht‘, dachte sie. ‚Der weiß doch nicht etwa Bescheid über meine Dates. Hat der ihm etwa bei seinem Zufallstreffen neulich was über uns erzählt?‘

„Was ist, meine Süße? Warum bist Du so …, so … anders?“

„Ich bin nicht anders. Ich …, ich muss nur noch was fürs Abendessen einkaufen. Dazu bin ich ja heute gar nicht gekommen. Ich konnte doch nicht ahnen, dass Du im Krankenhaus landest.“ ‚Scheiß-Ausrede!‘, dachte sie.

„Ach sooo“, lachte Dörnbach befreit, „das hättest Du mir doch sagen können.“

„Quatsch. Das hättest Du in umgekehrter Situation doch auch nicht gemacht.“

Der Rest war weglächeln aller Zweifel und ein dicker Kuss für ihren Mann. Dann stand sie auf und musste sanft seine Hand abwehren, die ihre nackten Beine tätschelte. „Werd’ Du erst mal gesund. Wir sehen uns morgen“, lächelte sie und warf ihm noch einen Handkuss zu, bevor sie das Zimmer verließ.

Draußen auf dem Flur zog sie hastig ihr Handy aus der Handtasche und schaltete es ein. Selbst der Moment, bis sich das Teil im Netz einloggte, war ihr schon zu viel. Aber kaum war das geschehen, kam die Ernüchterung. Keine WhatsApp, kein Anrufversuch. Daniel hatte sich noch nicht gerührt. Ungewöhnlich nach den Liebesschwüren, die sie noch am Vormittag von ihm am Telefon gehört hatte.

Schnellen Schrittes verließ sie die Station und war wenige Augenblicke später über die breite Treppe herunter durchs Foyer ins Freie gelangt. Hektisch wählte sie seine Handynummer. Der Ruf ging raus. Aber da tat sich zunächst einmal nichts. Bis sich plötzlich eine Frauenstimme meldete. „Hallo, mit wem spreche ich bitte?“

Marie-Luise Dörnbach erschrak. Wer war das? Daniels Frau konnte das nicht sein. Sie kannte deren Stimme, die bedeutend höher war und in der immer ein leichter Kiekser mitschwang.

„Gegenfrage, wer sind denn Sie?“

„Ich bin Kommissarin Sarah Renner von der Kriminalpolizei in Bad Berleburg.“

Sie bekam schlagartig Gänsehaut am ganzen Körper. ‚Um Gottes Willen! Was war da los? Wie um alles in der Welt kam denn diese Kommissarin an Daniels Handy?‘

„Hallo?“, fragte Sarah erneut nach, „wer sind Sie denn bitte?“

Marie-Luise war unschlüssig. Sollte sie sich mit ihrem Namen melden und gegenüber der Polizei outen? Und war das überhaupt nötig? Aber die Antwort auf ihre Fragen wurde ihr von Sarah Renner abgenommen.

„Nun kommen Sie schon. Ich kann Ihre Nummer hier im Display ohnehin erkennen. Und Sie sind hier auch gespeichert – unter ‚MaLu‘. Es dürfte ein Leichtes sein, hinter Ihre Identität zu kommen. Wäre es denn so schlimm, wenn ich sie von Ihnen erführe?“

Die Anruferin gab darauf keine Antwort. „Was ist mit Daniel?“, wollte sie viel dringender wissen. „Was ist mit Daniel Böttcher? Warum hat die Polizei sein Handy?“

„Darauf werde ich Ihnen am Telefon keine Auskunft geben. Aber ich werde Ihnen ein paar Fragen stellen. Und Sie können entscheiden, ob Sie darauf antworten wollen.“

„In Ordnung.“

„Sind Sie mit Herrn Böttcher verwandt?“

„Nein.“

„Okay. Das ist damit schon mal klar. Darf ich fragen, wo Sie im Moment sind?“

‚MaLu‘ gab keine Antwort. Was sollte das? Warum war es so wichtig zu erfahren, wo sie sich aufhält?

Sarah Renner ahnte, dass es sich bei der Anruferin um ein amouröses Verhältnis Böttchers handelte. ‚Wer weiß, wo sich die Frau derzeit befindet. Vielleicht schon in Vorfreude in einem Bett?‘ Schließlich hatte die Kommissarin für heute 19 Uhr in Böttchers Handy-Kalender ‚Malu love‘ gefunden. Eine Wiederholung ähnlicher solcher Beiträge, alle zwei Wochen dienstags.

„Gut, wenn Sie mir das nicht sagen wollen, dann frage ich Sie, ob es Ihnen möglich oder zuzumuten wäre, zu uns ins Kommissariat zu kommen?“

Frau Dörnbach war in höchster Aufregung. Was war bloß passiert? „Hatte Herr Böttcher einen Unfall?“ ‚Blödsinn‘, dachte sie sofort. ‚Für Unfälle ist die Kripo nicht zuständig.‘

„Frau MaLu oder wie immer Sie heißen mögen, können Sie zu uns ins Kommissariat kommen? Ich verspreche Ihnen, ich werde Ihnen hier alles erklären.“

Wieder schwieg die Angesprochene einen Moment, lenkte dann aber ein und sagte: „In Ordnung. Ich komme zu Ihnen.“

„Wissen Sie, wo die Polizeiwache in Bad Berleburg ist und wie lange Sie bis zu uns etwa brauchen?“

„Ich bin in zehn Minuten bei Ihnen.“ Sie unterbrach die Verbindung und stieg in ihren Wagen, der mit offenem Dach direkt unterhalb der zentralen Klinikzufahrt geparkt war. Die Sitze ihres 207er Peugeot Cabrio hatten die Sonnenglut gespeichert. Sie musste sich vorsehen, dass ihre perfekt gebräunten Beine keine Verbrennungen davontrugen.

Aber die bildschöne Frau liebte es, in dem offenen ‚feuerroten Mädelswagen‘, wie ihn Klaus nannte, bei Männern am Straßenrand Stielaugen zu provozieren. Und daher wurde so oft wie irgend möglich ‚offen‘ gefahren. Nur im Moment waren all diese Gefühle passé. Ihr wundervolles dunkles Haar, der makellose Körper im engen Bleistiftkleid hatten keinerlei Bedeutung in ihrer augenblicklichen Befindlichkeit.

„Lieber Himmel, was kommt denn da Aufregendes?“ Harry Senftleben am Wachtisch fuhr regelrecht elektrisiert hoch, als er Marie-Luise Dörnbach vor dem Reviergebäude aus ihrem Wagen steigen sah. Und dann kam dieses Bild von einer Frau auch noch die Treppe zu ihm hinauf, um Sekunden später vor ihm zu stehen. Nur die Plexiglasscheibe trennte die beiden.

Harry bekam einen trockenen Mund. Trotzdem brachte er ein ganz passables „Guten Abend, wie kann ich Ihnen helfen?“, heraus.

„Guten Abend, ich möchte bitte zu Frau Renner von der Kripo. Ich werde dort erwartet.“

„Und wen darf ich dort bitte melden?“

„Sagen Sie ihr bitte, MaLu wäre hier.“

Senftleben legte seinen ‚Aha, verstehe-Blick‘ auf, griff nach dem Hörer und wählte. „Du, Sarah, hier ist Besuch für Dich. Eine Frau … Ja, genau die. … Okay, ich lasse sie durch in den Flur.“ Der Summer ertönte. Und Harry bedeutete der Besucherin mit großer Geste, dass sie schon mal durch die Sicherheitstür dürfe. „Warten Sie dort bitte. Sie werden gleich abgeholt.“

„Danke Ihnen.“ Mehr brachte die Frau nicht heraus, als sie, kaum merklich zitternd, die Tür aufdrückte. Und sie spürte auch nicht die Blicke des Polizeikommissars, die ihr in den Innenflur folgten. Heute Abend fehlte ihr die Sensorik dafür.

Sein Gespür jedoch funktionierte. Und es sagte ihm, dass diese Besucherin unter ihrer schönen Maske höchst unsicher und traurig war.

Sarah war ebenfalls sehr angetan von der äußeren Erscheinung Marie-Luises. Aber als sie ihr am Fuß der Treppe gegenüberstand und sich mit Handgeben vorstellte, wurde ihr schnell klar, wie es innerlich um die Frau bestellt war. Eine feuchte, kalte Hand, die nur lasch zugriff, vermittelten ihr den Eindruck von Nervosität und Angst.

Und der Eindruck verstärkte sich, als sie ihr im Kommissariat einen Stuhl anbot. Mit zitternden Knien hatte die Frau Platz genommen aber dabei betont, „ich äääh, ich äääh, ich will eigentlich gar nicht lange sitzen. Ich …, ich möchte bitte sofort wissen, was mit Daniel geschehen ist und wo er sich aufhält. S…sofort!“

„Erst, wenn Sie mir Ihren richtigen Namen nennen und mir sagen, aus welchem Grund Sie so sehr am Verbleib von Herrn Böttcher interessiert sind. Wenn ich Sie vorhin richtig verstanden habe, sind Sie ja keine Angehörige.“

 

„Das ist schon richtig. Eine Angehörige bin ich nicht. Aber Sie haben mir doch am Telefon gesagt, dass Sie mir alles erklären würden, sobald ich herkomme.“

„Stimmt. Aber zunächst müssen wir mal Ihre Identität klären. Sie werden sicher verstehen, dass wir Informationen über Dritte schon aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht einfach so an jede x-beliebige Person herausgeben können.“

Die Augen der Schönen wanderten hin und her. Es fiel ihr offensichtlich schwer, während des Gesprächs Blickkontakt mit ihrer Gesprächspartnerin zu halten. Auch das inzwischen von Petra Fischer hereingereichte Glas Wasser vermochte ihre Nervosität nicht zu mindern. „Ich bin aber keine X-Beliebige, das können Sie mir glauben.“

Wieder ging die Tür auf. Nur diesmal betrat Rüdiger Mertz grüßend das Büro und drückte Sarah mit höchst interessiertem Blick auf den Gast ein Stück Papier in die Hand. „Hier, schau mal. Interessant. Oder?!“

„Oh ja. Sehr sogar“, schnaufte die Kommissarin, während sich Rüdiger mit überschlagenen Beinen auf die Schreibtischkante setzte und sie erwartungsvoll anschaute. Kaum merklich nickte sie ihm zu.

„Guten Abend, mein Name ist Rüdiger Mertz.“

„Guten Abend“, nickte Marie-Luise.

„Frau Marie-Luise Dörnbach, Sie wollen sich uns offensichtlich noch immer nicht mit Namen vorstellen. Gibt es dafür einen Grund?“

Die Nennung ihres Namens hatte sie getroffen wie ein Blitz. Hektisch griff sie nach dem Wasserglas und nahm zwei, drei Schlucke. ‚Woher kennen die meinen Namen? Ich bin doch der Polizei bisher niemals aufgefallen.‘ Aber antworten mochte sie nicht. Starren Blickes umklammerte sie das fast leere Glas und harrte der Dinge, die da noch kommen sollten.

„Frau Dörnbach, kann es sein, dass Sie die Ehefrau von Herrn Klaus Dörnbach sind und in Erndtebrück, Danziger Straße 48 wohnen?“

„Was soll das?“, brach es plötzlich aus ihr heraus. „Das spielt doch hier alles keine Rolle. Und überhaupt, woher wissen Sie das eigentlich alles?“

„Frau Dörnbach, unterschätzen Sie uns bitte nicht. Einen Namen und eine Adresse über eine Telefonnummer herauszubekommen, das ist nun wirklich eine unserer leichtesten Übungen. Und da sie als Inhaberin der Nummer exakt dort wohnhaft gemeldet sind, wo auch der Herr Dörnbach wohnt, der heute Mittag einen Toten gefunden hat und mit einem Hitzschlag in die Klinik eingeliefert wurde, sind wir natürlich hellhörig geworden.“

Marie-Luise starrte Mertz mit großen Augen an. „Aha, hellhörig!“, bellte sie plötzlich. „Und was habe ich mit dem Toten zu tun, den mein Mann gefunden hat?“

Rüdiger schaute fragend zu Sarah herüber. Doch die hob die Schultern und zeigte ihre nach oben gedrehten Handflächen. Es war also an ihm, mit der furchtbaren Information herauszurücken.

„Weil es sich bei dem Toten um den von Ihnen vermissten Daniel Böttcher handelt.“

Vor Marie-Luises Augen begann das Licht zu flackern. Und in ihren Ohren machte sich ein hochfrequentes Pfeifen bemerkbar. Die Gnadenlosigkeit dieser Nachricht ließ sie plötzlich nicht mehr Herrin über ihre Sinne und ihren Körper sein. Ihr Oberkörper taumelte. Dann klappte sie zusammen.

Klaus Klaiser hing am Telefon, seit er zu Hause eingetroffen war. Im Moment hatte er gerade Rüdiger Mertz an der Strippe und holte sich eine Art Tagesrapport. Ein Ritual, das er immer dann pflegte, wenn er für eine Weile nicht auf der Dienststelle und daheim alleine war.

Ute hatte einen Zettel auf dem Küchentisch hinterlassen. ‚Sind drüben bei Kellers. Geburtstag von Johanna. Luisa wird über Nacht bei ihrer Freundin bleiben.‘ Und da die Kellers gute Freunde und sehr gesellig waren, könnte es auch für sie etwas später werden.

„Wie war’s denn bei der Witwe unseres Mordopfers?“, begann er seine Abfrage.

„Oh, nicht sehr schön. Frau Böttcher scheint psychisch labil zu sein.“

„Wie kommst Du darauf?“

„Haja, wir mussten halt den Arzt rufen, weil sie uns total zusammengeklappt war.“

„Aber ich bitte Dich. Das passiert doch ständig, dass Menschen einen Zusammenbruch erleiden oder einen Knacks bekommen, wenn sie plötzlich vom Tod ihres Partners erfahren.“

„Och Chef, das musst Du mir doch nun wirklich nicht erzählen. Aber diese Frau Böttcher nimmt Psychopharmaka. Wir haben ein Rezept in ihrem Wohnzimmer entdeckt und deswegen den Hausarzt zurate gezogen.“

„Aha. Und wie hat der reagiert?“

„Der hat unsere Vermutung indirekt bestätigt. Mehr mochte er nicht sagen. Schweigepflicht. Du kennst das ja. Wir werden uns ein oder zwei Tage gedulden müssen, bis wir uns mit der Dame intensiver unterhalten können.

Aber auch mit seiner Mutter und der Schwester war kein normales Gespräch zu führen. Trauer ohne Ende. Daniel war der dritte Sohn und Bruder, den die beiden in den letzten Jahren verloren haben.“

„Aua“, Klaus holte tief Luft und ließ sie langsam wieder raus, „das ist grausam. Ich weiß gar nicht, wie eine Mutter überhaupt noch weiterleben kann, wenn eines ihrer Kinder stirbt. Und hier sind es gleich drei. Mein Gott.“

„Du wirst verstehen, dass wir dort keine weiteren Gespräche geführt haben.“

„Allerdings. Aber Ihr habt wenigstens schon mal den Wagen des Toten gesichert!?“

„Gesichert ja, aber noch keine Auswertung von den KTUlern. Die brauchen noch ‘ne Weile.“

Rüdiger Mertz hatte es sich daheim auf der Terrasse gemütlich gemacht und die Beine hochgelegt – auf Mareikes Schoß. Nachdem sein Vater verstorben war, konnten die beiden ein wesentlich entspannteres Leben führen. Die Pflege des alten Herrn hatte vor allem Rüdigers Frau sehr angestrengt und beide zeitlich eingeengt.

„Nur eines hätte selbst das berühmte Lieschen Müller erkannt, wenn es sich den Karren mal genauer angeschaut hätte. Auf einer Wolldecke im Kofferraum gab es jede Menge Flecken eindeutiger Herkunft.“

„Du sprichst wieder mal in Rätseln, mein Lieber. Was meinst Du mit ‚Flecken eindeutiger Herkunft‘?“

„Na, schon mal was von Hobbyflecken gehört?“

„Du meinst Spermaflecken?“

„Rrrichtiiich! Der Wagen scheint so was wie ‘ne rollende Juckelmulde gewesen zu sein. Ein fahrbarer Puff, falls Dir der andere Begriff auch nicht geläufig sein sollte.“

Klaiser blies die Backen auf. Manchmal fiel es ihm einfach schwer, sich in der Terminologie verschiedener Kollegen zurechtzufinden.

„Und das waren Flecken, die so offensichtlich waren, dass man sie beim Blick in den Wagen sofort erkennen musste?“

„Nö, Chef. Die Decke war schön zusammengefaltet, wurde aber bei der ersten Grobsichtung von den SpuSi-Leuten aus dem Wagen genommen. Und da rieselte es förmlich vertrocknete Nachkommen“, übertrieb er. „Morgen werden wir dazu mehr erfahren. Vor allem von Kollegin Renner, die sich vorhin ausführlich mit der Frau des Totengräbers auseinandergesetzt hat.“

Klaiser überlegte einen Moment. „Mit der Frau von diesem Dörnbach? Interessant. Warum das?“

„Du wirst es nicht glauben. Die lag wohl des Öfteren auf besagter Wolldecke in dem Mercedes.“

„Nein!“

„Doch!“

„Du willst mir aber jetzt nicht ernsthaft erzählen, dass Frau Dörnbach die Gespielin des getöteten Daniel Böttcher war?“

„Genau das wollte ich Dir erzählen. Und Du wirst erstaunt sein, wer die Quelle für diese Info war. Was meinst Du?“

„Woher soll ich das wissen? Wer denn?“

„Sie selbst. Frau Dörnbach ist nämlich bei Sarah vorstellig geworden und hat sich nach Böttcher erkundigt, mit dem sie eigentlich heute um 19 Uhr ein weiteres Schäferstündchen gehabt hätte. Aber der konnte den Termin aus nachvollziehbarem Grund nicht wahrnehmen. No fucking today, cause the lover ‘s away.“

„Ja, ja, Du und Deine Sprüche, Mensch. Die Geschichte ist viel zu ernst. Erzähl mir lieber mal, wieso diese Frau wegen eines geplatzten Liebesabenteuers bei der Polizei auftaucht.“

Der nachfolgende Bericht ließ kein Detail aus. Samt der sich aufdrängenden Schlussfolgerung, dass die Aussage des Herrn Dörnbach, er habe den Mann zwar gefunden, mit seinem Mord aber nichts zu tun, womöglich so nicht stimmte.

Olete lõpetanud tasuta lõigu lugemise. Kas soovite edasi lugeda?