Mords-Stünzel

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Sven bekam rote Ohren.

„Is’ ja auch ’n Sahneschnittchen, unsere Oberkommissarin. Kann man nicht anders sagen“, legte Pattrick nach.

„Weiß ich alles. Aber komm jetzt, hör auf. Ich hab’ grad’ echt andere Probleme. Meine Sahneschnitte, um im Bild zu bleiben, ist nämlich tot. Und mit ihr ein Freund oder Bekannter, oder irgend so was.“

‚Wo hat er plötzlich diese Abgeklärtheit her? Noch vor fünf Minuten wären ihm die Tränen gelaufen, bei solch einer Schilderung’, sinnierte Pattrick Born.

„Wir werden den oder die Mörder finden. Das verspreche ich Dir, Sven. Und sie werden ihre Strafe bekommen.“

Vorne im Kripo-Büro klingelte das Telefon. Pattrick spurtete rüber und nahm ab. Es war der Kollege Jost Gmeiner aus Laasphe. „Ist die Kollegin Lauber über Dich zu erreichen? Auf ihrem Handy meldet sie sich jedenfalls nicht.“

„Nein. Leider nicht. Sie ist immer noch auf’m Stünzel. Dort haben sie mittlerweile einen weiteren Toten gefunden.“

„Wie denn? Auch Mord?“

„Sieht ganz so aus. Und wahrscheinlich auch einer aus der Clique um Kathrin Kögel, dem ersten Opfer.“

„Ach Du heilige Scheiße! Das darf doch alles nicht wahr sein! Was ist denn hier plötzlich los? Haben die Briten Jack the Ripper wieder auferstehen lassen und vorab schon mal als Brexit-Beilage auf’s Festland exportiert?“

„Kann ich Dir nicht sagen. Das Entsetzen ist ganz auf unserer Seite. Aber sag’ mal, habt Ihr denn irgendwelche Infos zu dieser Vivien?“

„Das ist ja der Grund, warum ich anrufe“, antwortete der Kollege Gmeiner. „Wir haben die Wohnung zwar gefunden und auch mit ihren Eltern gesprochen. Aber die Frau ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen.“

„Und was ist mit ihren Bekannten?“

„Die sind den Eltern nicht bekannt. Sie wüssten auch nicht, wer darüber Auskunft geben könnte. Denn sie kennen das private Umfeld ihrer Tochter nicht, haben mit ihr selbst auch kaum noch Kontakt. Sie lebt einfach nur noch im Elternhaus, oben in einer Dachgeschosswohnung. Weil’s nix kostet.“

„Oh, armes Deutschland“, stöhnte Pattrick. „Die soziale Verarmung schreitet immer weiter fort. Und die Generationenkonflikte in den Familien tragen ihr Übriges dazu bei.“

„Da sagste was. Ich hätte die Wände hochsteigen können bei den Kommentaren der Eltern. Zwei ziemlich alte Leutchen, total verbittert und ohne irgendeine Form von Verständnis dafür, dass junge Leute ihr Leben ein wenig anders gestalten wollen. Anders jedenfalls, als sie selbst das aus ihrer Jugend in den Kriegsjahren gewohnt waren.

‚Wird sich schon irgendwo rumtreiben, die Vivien’, sagte die Mutter, ‚die kennt ja keine Pflichten. Außer in ihrem Studium. Wir zählen da nichts mehr. Unser ganzes Leben haben wir uns krummgelegt. Damit’s unseren Kindern mal gut geht. Und wie danken sie uns das? Die beiden Großen sind schon längst ausgezogen und lassen nichts mehr von sich hören. Nichts, gar nichts. Und Vivien macht daheim was sie will. Nur nichts für uns. Und mit uns schon mal gar nicht. Höchstens mal zum Einkaufen fahren oder mal zum Arzt.’

Das war schon sehr eigentümlich dort. Die haben nicht einmal wissen wollen, warum sich die Polizei für ihre Tochter interessiert. Da haben wir auf jede weitere Frage verzichtet und sind ganz schnell wieder verschwunden.“

„Wäre ich auch“, pflichtete Born dem Laaspher Kollegen bei. „Ich würde Euch aber bitten, da heute Abend noch mal vorzusprechen. Wir müssen die Tochter finden. Unter allen Umständen. Wir müssen nur ein Lebenszeichen von ihr haben und von ihr wissen, was sich in der vergangenen Nacht abgespielt hat.“

„Alles klar“, wollte sich Gmeiner schon verabschieden. „Ich sehe zu, dass die Leute vom Spätdienst heute da noch mal vorbeifahren und klingeln. Mehr können wir ja wohl nicht machen. Oder?!“

„Mir fällt im Moment nichts ein, nee. Ach so, doch. Lass’ bitte eben noch die Adresse und den Nachnamen von Vivien da.“

„Klar. Haste was zu schreiben? … Also, Vivien Schreiber, Hubertusweg 14.“

„Und irgendwelche Erreichbarkeiten gibt’s wohl nicht. Handy oder so?“

„Wussten die Eltern nicht. Sie hätten sich die Nummer irgendwo aufgeschrieben, aber schon neulich nicht mehr gefunden, als sie sie dringend gebraucht hätten. Die ‚Schickse’ sei wieder mal unterwegs gewesen und nicht auffindbar.“

„Das ist ja’n Hammer. Sach ma’, ha’m die se noch alle? Mensch! Wenn ich das Mädel wär’, dann würde ich mir überlegen, ob ich dort überhaupt noch leben wollte“, erwiderte Born, der noch einen Moment grübelte und dann sagte: „Bitte, tut mir einen Gefallen und fahrt von Euch aus noch mal die Wege ab, die normalerweise gelaufen werden, wenn man vom Stünzel runter nach Laasphe will. Da kommt man doch in der Regel oben beim Schloss raus. Oder?“

„In der Regel schon. Anders wäre eher blöd, weil man immer in den Seitentälern runterkäme. An der Bracht oder so. Das macht bei dieser Dunkelheit keinen großen Spaß.“

„Umso wichtiger ist die Nachsuche nach den zwei jungen Menschen, die noch fehlen. Ich schick’ Dir mal ’n Handyfoto per WhatsApp mit drei Leuten. Der Junge, von Dir aus gesehen links auf dem Bild, der ist auch tot. Die anderen beiden, diese Vivien und einen Bastian, die suchen wir.“

„Okay, schick’ mal rüber, werden uns drum kümmern.“ Dann gab er Pattrick seine Mobilfunknummer für die WhatsApp und meinte: „Damit sind wir dann mit der gesamten kleinen Mannschaft hier auch auf Stünzel-Mord gepolt.“

„Haja, soweit das neben der Erledigung der üblichen Aufgaben geht. Wundert mich eh, dass Ihr nicht über den zweiten Mord informiert worden seid. Die müssen da oben auf dem Festplatz richtig Druck haben, scheint mir.“

„Wer hat Druck?“, kam es vom Flur her. Klaus Klaiser stand in der offenen Bürotür. Etwas verhalten lächelnd und braun gebrannt.

„Mensch, Chef, schön dass Du da bist!“, rief ihm Pattrick Born zu. „Hab’ gerade einen Kollegen aus der Laaspher Wache dran – wegen Personensuche.“ Dann wandte er sich wieder seinem Gesprächspartner zu und verabschiedete den. „Wie gesagt, lasst bitte von Euch hören, sobald Ihr was habt. Geht auch per Handy, WhatsApp oder was Ihr wollt. Okay?! Ciao.“

Dann drehte er sich wieder zu Klaus um. „Wir haben alle Druck. Kannste Dir ja wahrscheinlich vorstellen. Aber Corinna auf’m Stünzel erst recht. Zwei Leichen, zweimal Mord. Das ist heftig.“

In kurzen Zügen ließ sich Kriminalhauptkommissar Klaiser in die Lage einweisen. Er war ja nur in einem Kurztelefonat mehr oder weniger alarmiert worden. Ungefähr eine Stunde, nachdem er mit seiner Frau Ute aus Fuerteventura zurückgekehrt war.

Waren das tolle zehn Tage in El Cotillo. Die beiden hatten sich ein Studio gemietet. Direkt am Strand.

Und Ute weihte Klaus in ein bis dahin gehütetes, süßes Geheimnis ein. Sie war in der sechsten Woche schwanger. Endlich! Beide hatten sie sich das so sehr gewünscht. Das Glück kannte für die beiden keine Grenzen in diesen Tagen. „Doch in dieser Ausnahmesituation“, hatte selbst Ute gemeint, „musst Du den Kollegen helfen. Trotz des letzten halben Urlaubstags. Immerhin musst Du ja auch Corinna unterstützen.“ Und das war schließlich Utes beste Freundin.

„Gut“, sagte er zu Pattrick, „ich werde gleich mal dort rauffahren. Und Du machst bitte eine Fahndungsmeldung für die Presse fertig. Wir müssen die Namen der jungen Leute erfahren. Sieh bitte zu, dass Du dafür noch ein Foto von dem Toten bekommst. Ein annehmbares.“

„Okay, kein Problem. Sven Lukas hat welche gemacht. Vielleicht schaust Du mal eben nach ihm. Dem geht es nicht so besonders. Und er macht sich insgeheim irgendwelche irrationalen Vorwürfe. Der hätte das Drama doch nie und nimmer verhindern können.“

„Mach’ ich“, versprach Klaus. „Der arme Kerl kann einem ja leid tun.“

Dann ging er rüber zum „Freak-Labor“. Dessen Inhaber war gerade dabei, die letzte Urkunde beiseite zu legen, deren Rahmen den Angriff durch den ‚Wutball‘ nicht überlebt hatte. Verstohlen schob Sven mit dem rechten Fuß noch ein paar Scherben unter einen Aktenschrank, als er Klaus durch die offene Tür kommen sah.

„Lass’ gut sein. Ich weiß, was passiert ist. Ich kann mir vorstellen, wie Dir zumute ist. Ich hätte auch alles kurz und klein gehauen.“ Klaus reichte dem Kriminalhauptmeister die Hand, die sich irgendwie untypisch schlaff und labberig anfühlte. „Grüß Dich, mein Lieber“, schob er nach. „Mein Beileid.“

„Danke Klaus.“ Sven Lukas hätte laut losheulen können, als ihm der Kripo-Chef in die Augen schaute. „So eine Scheiße, Mann. So eine verfluchte Scheiße. Und ich konnte nichts dagegen machen. Weißt Du, das ist sogar noch viel scheißer als Du denkst.“

Klaiser drehte sich ein wenig ab. Denn er musste trotz der tieftraurigen Situation unweigerlich grinsen. ‚… noch scheißer …’ hatte er auch noch nicht gehört.

„Wieso?“, fragte er, jetzt mit ernstem Gesichtsausdruck, zurück.

„Weil ich noch nicht mal helfen kann beim Benennen der Freunde.“ Und dann flocht er ein: „Sofern die überhaupt noch leben …“ und stierte vor sich hin. „Aber ich kenne deren Nachnamen nicht. Nicht einen. Nur die Vornamen. Und ich habe zwei Bilder von ihnen. Mehr nicht.“

„Ja, aber das ist doch ’ne ganze Menge. Deutlich mehr, als die meisten Fahnder zu Beginn einer Fallermittlung in der Hand haben. Und es wird doch auch schon nach denen gesucht“, versuchte Klaus den Kollegen zu beruhigen. „Pattrick Born hat die Fotos an die Laaspher Kollegen weitergegeben. Die kümmern sich jetzt auch und werden verstärkt die Augen aufmachen.“

„Verstärkt die Augen aufmachen. Haha“, lachte der ‚Freak‘ ein wenig irre. „Ich weiß nicht, ob das reicht. Immerhin sind zwei aus dieser Vierergruppe mittlerweile tot. Und wo die beiden anderen sind, davon hat keiner auch nur einen blassen Schimmer. Zum Kotzen ist das!“

 

„Jetzt komm’ mal wieder ’n bisschen runter, Sven. Alle versuchen ja ihr Möglichstes. Mehr geht im Moment nicht. Und wir müssen ganz nebenbei auch noch den oder die Täter suchen.“

Als Klaus Klaiser auf dem Stünzelplatz ankam, war, wie es so schön heißt, der Markt bereits verlaufen. Weitestgehend jedenfalls. Der Leichnam des jungen Mannes mit Vornamen Holger lag bereits im, allerdings noch offenen, Zinksarg. Eingepackt in einen weißen Leichensack, dessen Reißverschluss aber ebenfalls noch offen war. Ein SpuSi-Mann machte noch Fotos in Frontalaufnahme. Kein schöner Anblick. Der Schädel wirkte oberhalb der Stirn etwas verschoben. Die Augen waren noch halb geöffnet. Dazu seltsame Blutschlieren, die quer über die linke Wange des Toten liefen.

Corinna führte ein Gespräch mit Gert Steiner, dem Chef der Spurensicherung. Der war, ähnlich wie Klaus, trotz Dienstfrei von daheim bei Siegen hier hinaufgekommen, als er gehört hatte, dass es zwei Leichenfunde gab.

Jürgen Winter informierte sich derweil per Smartphone beim zuständigen Wetterdienst. „Kommissar Jürgen Winter, Polizei Bad Berleburg. Verzeihen Sie eine Frage. Können Sie mir sagen, wann in der vergangenen Nacht der Starkregen über dem Wittgensteiner Land eingesetzt hat?“ Was zu beantworten offenbar kein großes Problem für die Damen und Herren Meteorologen war. Sie wollten nur wissen, wo genau über Wittgenstein. Sie besaßen ja Computeraufzeichnungen der Wetterabläufe und der Wettermodelle. „Über Bad Berleburg-Stünzel. Ich weiß nicht, ob Sie das auf der Karte haben.“

„Stünzel, wie schreibt man das?“ Jürgen buchstabierte. „Aaah, kleinen Moment.“ Die Antwort brauchte wirklich nur einen Moment. „Ziemlich genau um 21.43 Uhr hat dort der Starkregen eingesetzt. Quasi von null auf hundert. Davor hatten wir keine messbaren Niederschläge in diesem Gebiet.“

Jürgen bedankte sich, unterbrach das Gespräch und kam nun auf Klaus Klaiser zu, dem er herzlich die Hand schüttelte. „Dieser Mann hier muss definitiv vor 21.43 Uhr heute Nacht gestorben sein“, teilte er dem Kripo-Chef mit.

„Wie kommst Du zu dieser Erkenntnis? Vor 21.43 Uhr.“

„Weil da der Regen eingesetzt hat. Und die Stelle unter der vom Regen nassen Leiche ist definitiv pulvertrocken. Schau hier.“ Er wies auf den hellen und trockenen Flecken, in dem zu Beweiszwecken auch ein dünner Grassoden abgestochen worden war. Eindeutig keine Feuchtigkeit im Boden. Auf einem Testflecken 20 Zentimeter neben der Liegefläche war der Boden dagegen dunkel und feucht.

„Ausgezeichnete Arbeit, Jürgen, danke“, sagte Klaus und klopfte ihm auf die Schulter. Mir wäre das gar nicht aufgefallen. Ich habe die Unterschiede im Gras erst gesehen, nachdem Du mich darauf aufmerksam gemacht hast. Dann ging er rüber zur Kollegin, die noch immer mit dem ‚Leichenfledderer‘ im Gespräch war. Die Oberkommissarin grüßte kurz durch Winken und versenkte sich wieder in die Unterhaltung mit dem Doktor.

„Grüße Sie, Herr Klaiser. Dachte, Sie wären im Urlaub. Aber schön, Sie zu sehen. Also passen Sie auf“, legte der plötzlich los, ohne auf Corinna Rücksicht zu nehmen. Und die nahm das sichtbar übel, konnte aber nicht einschreiten. Chef ist Chef.

„Todesursache ist eindeutig ein mit großer Wucht geführter Schlag auf das Schädeldach des Mannes, das massive Frakturen aufweist. Ich schätze, er war auf der Stelle tot.

Tatwerkzeug muss ein ziemlich dickes Rohr gewesen sein oder etwas ähnlich Rundes. Könnte sich auch um eine volle Wein- oder Schnapsflasche handeln. Könnte auch ein dicker Ast sein. Nur finden wir und die SpuSi nichts dergleichen im weiteren Umfeld.

Todeszeitpunkt müsste so zwischen neun Uhr abends und Mitternacht gewesen sein. Dazu müssen wir noch ein paar Messungen machen. Der Körper liegt nun schon deutlich länger als 14, 15 Stunden hier.“ Damit beendete er sein Kurzreferat. Klaus informierte im kleinen Kreis darüber, dass Holger eindeutig vor 21.43 Uhr gestorben sein musste. Und wieder war es Corinna anzusehen, dass ihr das nicht sonderlich gefiel. Klaus registrierte das. Sagte aber nichts.

Montag, 13. Juni

Im Kommissariat in Berleburg war die Morgenrunde beendet. Alle waren gebrieft, jeder kannte seine Aufgaben. Zwei Teams waren bereits unterwegs, um zu ermitteln und nach den verschollenen jungen Leuten aus Laasphe zu suchen. Denn es war weder jemand auf und an den Wegen zwischen Festplatz und dem Laaspher Schloss aufgegabelt worden, noch hatte sich Vivien Schreiber zu Hause eingefunden. Die Sache wurde zunehmend kompliziert.

Klaus ging rüber zu Corinna, die fieberhaft damit beschäftigt war, die Protokolle über die Befragungen der Händler vom gestrigen Vormittag zu durchforsten und die Namensliste dazu.

„Hast Du einen Moment?“, fragte er sie, nachdem er sachte an den Türrahmen geklopft hatte. Er wusste um ihren ‚Ausnahmezustand’ gestern, war sicher, dass sie irgendwann selbst davon erzählen würde und wollte ihr den ersten Schritt überlassen. Aber zuvor musste sie ihm zuhören.

„Klar, komm rein. Hier, setz Dich.“ Hastig räumte sie einige Aktendeckel von dem Besucherstuhl, den sie seitlich neben ihrem Schreibtischsessel stehen hatte und als Ablage benutzte. Ihr Schreibtischsessel war der wichtigste Komfort, den sie sich in ihrer „Höhle“ leistete. Besucher mussten sich da mit deutlich härteren Sitzgelegenheiten zufriedengeben. „Die haben ja auch meistens was auf dem Kerbholz“, argumentierte sie immer, „da können die auch gerne mal ungepolstert sitzen. Müssen sie ja dann oft auch, wenn wir sie hier erfolgreich verarztet haben.“

Die Kollegin wirkte ein wenig angespannt. ‚Kein Wunder, dachte sich Klaus, ‚nach dem Tag gestern kann man kaum anderes erwarten. Zwei Morde ohne erkennbaren Grund und erst recht ohne Täter. Und zwei spurlos verschwundene junge Menschen. Einer davon ohne bekannte Personalien. Schön ist anders.’

Er setzte sich, während sie noch ein Protokoll zu Ende las. Dann wandte sie sich ihm zu.

„Und, womit kann ich Dir helfen?“

Eigentlich hatte Klaus gedacht, Corinna werde von sich aus ein Splitting der Fälle vorschlagen und einen an ihn oder an den Kollegen Born abgeben. So richtig freiwillig. Um sich selbst von Arbeit zu entlasten und so etwas wie Synergie zu erzeugen. Aber sie hatte weder bei der Morgenrunde einen Versuch dazu gestartet, noch machte sie jetzt den Eindruck, als wolle sie sich in dieser Hinsicht äußern.

„Kommst Du mit allem zurecht, Corinna? Hast Du alles, was Du brauchst?“

„Klar. Davon hatten wir’s doch vorhin schon in der Runde. Mir fehlt es an nichts. Warum fragst Du?“

„Weil ich sicher sein muss, dass es Dir dabei gut geht und dass alles seinen geregelten Gang geht.“

„Ja, ja, mach’ Dir mal keine Gedanken. Läuft alles prima. Bloß ein paar mehr Leute könnten wir draußen gebrauchen. Für Befragungen und so.“

Doch so locker sich das anhörte, so sehr merkte man auch, dass Corinna zunehmend nervös reagierte. Die Fragen schienen sie zu stören. ‚Störe meine Kreise nicht’, soll Archimedes zu einem Soldaten gesagt haben, als er mitten in einem Kriegsgetümmel dabei war, Beweis in einer Rechenformel zu führen. Das kostete den wohl genialsten Mathematiker der Antike letztlich das Leben.

„Hör zu“, begann Klaus ganz sachte. „Ich möchte, dass die beiden Fälle dicht beieinander von zwei Kollegen parallel unter Austausch der Erkenntnisse geführt werden. Bitte lass’ noch jemanden mit ins Boot, ja?!“

Die Kollegin richtete sich in ihrem Bürosessel auf und drehte sich ruckartig zu Klaus um. Eine sehr wohl bekannte Röte veränderte ihr hübsches Gesicht, als die pure Bitterkeit aus ihr herausschoss.

„So, so. War ja klar, dass Du mich für unfähig hältst, diesen, beziehungsweise diese beiden Fälle zu lösen. Willst Du Dir da jetzt was unter den Nagel reißen? Oder was?“

„Wie kommst Du darauf, dass ich Dich für unfähig halte?“

„Weil es sonst bleiben würde wie es ist. Ich sehe kein Problem darin, die Geschichte stringent bis zum Ende durchzuziehen. Und wenn ich Hilfe brauche, dann melde ich mich schon!“, bellte sie Klaiser an und drehte sich wieder ihrer Arbeit auf dem Schreibtisch zu. „Und überhaupt hättest Du das doch getrost vorhin machen können, als noch alle Kollegen zusammen waren.“

„Das habe ich aus gutem Grund nicht getan, liebe Corinna. Weil ich geahnt habe, wie Du reagierst. Damit wollte ich Dich vor den Kollegen schützen. Und weil ich weiß, wie Du, verzeih mir bitte, gestern ausgetickt bist.“

Wütend schoss die Frau wieder herum und funkelte ihren Chef mit Riesenaugen und weit aufgerissenem Mund an: „Aaaach jaaaa, der Winter, dieses Schandmaul! Konnte der wieder das Wasser nicht halten? Das war doch nur eine Frage der Zeit, bis ich das hier auf die Schnitte geschmiert kriege.“

„So, meine Liebe!“, wurde Klaus jetzt ebenfalls laut und sprang auf. „Jetzt reicht’s! Erstens, die Info stammt nicht von Jürgen Winter. Obwohl der sogar verpflichtet gewesen wäre, davon Meldung zu machen. Zweitens, ich verbitte mir ein für alle Mal diesen Ton mir und allen Kollegen gegenüber. Bei allem Wohlwollen, das wirklich alle Dir entgegen bringen: Du schießt öfter mal brutal weit über das Ziel hinaus.

Und drittens wird es wegen dieses Vorfalls hier eine Abmahnung geben. Das war jetzt nämlich der dritte traurige Akt, den Du Dir erlaubt hast. Anscheißen des Chefs aus absolut nichtigem Grund geht gar nicht!“

„Wie bitte? Wo soll ich denn schon mal so daneben gelegen haben, dass Du derart reagierst?“, fragte sie mit schnippischer Stimme nach.

„Ach“, begehrte er jetzt auf, „das weißt Du nicht mehr? Erinnere Dich doch mal an Deine Anschuldigungen vom letzten Sommer. Als Ute in Münster war und Du mir einfach ein Techtelmechtel mit ’ner Anderen angedichtet und ein Riesentheater veranstaltet hast. Und tags drauf hast Du trotz gegenteiliger tränenreicher Beteuerungen gleich wieder durchgeladen und einen anderen Kollegen angeschossen. Ich lasse mir das nicht mehr von Dir gefallen.“

Oberkommissarin Lauber schluckte und schien für einen Moment nicht so richtig orientiert zu sein. Dann holte sie tief Luft und stierte Klaus ungläubig an.

‚Das war so richtig eine vor den Latz geknallt’, würde sein alter Polizeichef und väterlicher Freund Heinz Strobenkötter jetzt sagen. Und das ‚Ding vor den Latz’ brauchte sie dringend. Denn sie hatte offenbar alles vergessen, was sie über Teamfähigkeit und Umgang mit Kollegen einmal gelernt hatte. Ungeachtet dessen lief sie zudem Gefahr, einen Menschen massiv zu verprellen, der es immer gut mit ihr meinte.

Aber das hatte sie offenbar gerade begriffen. Denn Corinna wirkte auf einmal wie ein Häufchen Elend. Schwer atmend saß sie dem Mann gegenüber, der für sie so eine Art Galionsfigur war, Freund, Förderer und zudem noch Ehemann ihrer besten Freundin. Einer, der sie mochte und der fest davon überzeugt war, dass sie eine wirklich tolle Kriminalistin war. Nicht zuletzt deshalb hatte er sich für ihre Beförderung im vergangenen Jahr stark gemacht. Doch ihr Dank war offenbar zunehmende Arroganz. So was konnte Klaus leiden wie Bauchschmerzen.

Es war still geworden im Büro. So still, dass man trotz geschlossener Fenster draußen im Herrengarten die Autos vorbeifahren hören konnte.

„Sag mal“, sagte er nach einer Weile mit schon wieder gesenkter Stimme: „Was ist denn los mit Dir, dass Du so furchtbar überdrehst? Das letzte Mal war’s wohl die Angst darum, dass Simon fremdgeht. Und was ist es jetzt?“

Das reichte, um ihre Schleusen zu öffnen. Tränen schossen aus allen verfügbaren Kanälen. Was Klaiser schon längst erwartet hatte, passierte nun. Corinna weinte hemmungslos und laut schniefend. Das konnte sie besonders gut, wenn mal wieder was schiefgegangen war mit ihr.

Vorsichtshalber schaute Klaiser sich noch einmal um, ob auch alle Türen geschlossen waren. Musste ja niemand im Polizeirevier mitbekommen, was hier passierte. Denn es sieht immer doof und entlarvend aus, wenn eine Frau vor ihrem Vorgesetzten sitzt und Rotz und Wasser heult. Nur waren hier die Vorzeichen umgekehrt. Sie saß im Chefsessel und er mittlerweile wieder auf einer Art Katzenhocker. Trotzdem, er wollte nicht, dass hier was missverstanden wird. Von Corinna oder von anderen.

„Was ist los mit Dir, verdammt noch mal? Das ist doch nicht normal, wie Du Dich hier aufführst.“

Ihr Schluchzen konnte ihn nicht erweichen. Diesmal nicht! Er wollte jetzt die Karten auf dem Tisch haben. Denn eine miesere Option als die, eine durchgeknallte Chefermittlerin in zwei Mordfällen zu haben, konnte es gar nicht geben. „Und jetzt hör’ endlich auf zu heulen, verflucht! Du bist diejenige, die hier Scheiße gebaut hat, nicht ich!“

 

Solche Ausbrüche waren sonst nicht seine Art. Denn wenn ihm eines am Herzen lag, dann war das eine saubere und harmonische Menschenführung. Doch Klaus Klaiser war stinksauer.

„Was ist los?“, insistierte er weiter. „Corinna, ich gehe hier nicht raus, bevor ich nicht weiß, warum Du derart ausflippst. Und außerdem kannst Du dann beide Mordfälle getrost in Pergamentpapier packen und in die Tonne kloppen. Dann bist Du nämlich draußen. Nur, damit das mal ganz klar ist.“

„Das kannst Du nicht machen“, gab sie bitter zurück. Plötzlich hatte sie die Stimme wiedergefunden und war offenbar schon wieder dabei, die Krallen auszufahren. Aber die würde ihr Klaus jetzt stutzen.

„Doch, das kann ich. Und das muss ich sogar. Um Schaden von den Kollegen und von der Sache abzuwenden. Wir sind hier nämlich verpflichtet, zwei Mordfälle zu klären, mindestens einen Mörder zu fangen, der da draußen irgendwo rumspringt und ganz nebenbei zwei junge Menschen zu finden. Und ganz bestimmt nicht dazu, die Eitelkeiten einer hypernervösen Beamtin zu ertragen. Merk Dir das! Und überleg’ Dir genau, was Du jetzt vorhast. Jeder weitere Schuss von Dir geht nach hinten los. Das verspreche ich Dir.“

So hatte ihn im Revier noch nie jemand gesehen. Wie Rumpelstilzchen rannte Klaus jetzt in Corinnas Büro hin und her und giftete halblaut vor sich hin, immer wieder zu der Kollegin rüberschauend.

„Nun los, Butter bei die Fische! Was ist es wert, dass Du Dir mit Deinen offensichtlich inneren Kämpfen gerade Deine ganze berufliche Karriere versaust?“ Wieder so ein leichter Ellbogencheck in die Seite. Aber noch mehr Brückenbau ging nun wirklich nicht mehr.

„Ich bin schwanger, verdammt noch mal! Kapierst Du? Ich bekomme ein Baby!“, schrie sie heraus. „Und der Vater dieses süßen Dings in mir drin hat sich freiwillig zu einer Friedensmission der Bundeswehr im Ausland gemeldet. Das macht mich so fertig.“

„Ach Du heiliger Strohsack“, lachte Klaiser auf. „Das ist ja Wahnsinn.“ Wieder vollführte er so eine Art Veitstanz. „Das ist ja so was von schräg, dass es kaum auszuhalten ist.“

„Willst Du mich auf den Arm nehmen oder was? Warum lachst Du denn so dämlich? Was ist denn daran so schräg?“

„Das will ich Dir gerne sagen. Wir sind auch schwanger. Ute bekommt auch ein Baby.“

„Das gibt’s doch net“, riss Corinna die Augen auf. „Jetzt erzähl’ hier net so’n Blödsinn.“

„Doch, doch, 6. Woche. Ich hab’s gerade im Urlaub erfahren.“

Augenblicklich war das Gift aus der Luft verschwunden. Die Stimmung schwenkte um. Beide lagen sich plötzlich in den Armen. Aus der ‚Brüllbude’ war so eine Art Jubelzimmer geworden.

Dann flog nach zwei kurzen Anklopfern und null Wartezeit die Tür auf. Im Rahmen stand Bernd Dickel, der Dienststellenleiter der Polizei Bad Berleburg. Corinna und Klaus hatten gar nicht die Zeit dazu, ihre Umarmung zu lösen und ‚unschuldig’ dazustehen.

„’tschuldigung, wollte nur mal gucken, ob Ihr Euch jetzt gegenseitig gemeuchelt habt bei dem ganzen Terror, den Ihr da eben veranstaltet habt. Konnte man ja bis zum Ende des Flures hören. Ich war schon drauf und dran, die Polizei zu holen“, vermeldete er grinsend. Und jetzt klebt Ihr aneinander wie die Kletten. Habt Ihr sie noch alle?“

„Nee“, triumphierte Corinna, „wir haben noch mehr. Bald.“

„Hä?“

„Mehr. Wir haben sie keineswegs nicht mehr alle. Wir haben künftig mehr.“

„Verstehe ich nicht.“

„Na gut“, sagte Klaus, dann darf ich vorstellen: Mama in spe Corinna Lauber und Papa in spe Klaus Klaiser.“

Mit ungläubigem Blick beäugte der Erste Polizeihauptkommissar die beiden, die ihm gegenüber standen.

„Wie jetzt? Ihr zwei bekommt ein Baby?“

„Nicht eins, mein Lieber. Zwei.“ Klaus grinste wie ein Honigkuchenpferd. Glücklich, dass die Kollegin sich selbst mit ihrer Schwangerschaft geoutet hatte.

„Was denn, auch noch Zwillinge? Das ist ja, … Ja was ist das denn?“, stammelte Bernd fast. „Was sagen denn Ute und Simon dazu, dass Ihr zwei jetzt zusammen …?“

Brüllendes Gelächter folgte. „Um Gottes Willen, nein! Nicht wir zwei zusammen. Sondern schön gesittet. Jeder für sich. Ich bekomme ein Kind von Simon und Ute eins von Klaus. Hoffe ich jedenfalls“, schob Corinna noch lachend nach.

‚Dieses Miststück’, dachte Klaus. ‚Sie kann’s einfach nicht lassen.’ Aber er machte gute Miene zum gemeinen Spiel.

„Ach soooo, ja dann. Das ist ja mal ganz großes Kino“, lachte Dickel und gratulierte artig. „Aber, warum wart Ihr denn so unheimlich laut vorhin? Vor allem Du, Corinna. Ich weiß ja, dass Kinderkriegen weh tut. Aber doch wohl noch nicht in der achten Schwangerschaftswoche.“

„Siebte“, verbesserte sie ihn und schaute Klaus etwas seltsam an. Würde er Bernd den Grund für ihre Auseinandersetzung nennen? Dann wäre ‚der Kittel geflickt’. Streifegehen für alle Zeiten oder sonst was. Das war ihr klar. Auch, wenn Bernd eventuell Verständnis für besonderes Verhalten in besonderen Situationen hatte. Sie wusste aber jetzt selbst, dass sie sich gewaltig danebenbenommen hatte. Doch Klaus schwieg.

Als Dickel gegangen war, lächelte Corinna ihren Chef breit an. „Das war doch jetzt richtig stark. Oder?“ Aber Klaus hatte schon wieder auf ernst geschaltet.

„Das Wort Sühne scheint in Deinem Vokabular nicht vorzukommen, stimmt’s?!“

„Sühne? Mir ist nicht klar, warum Du das fragst.“

„Naja, weil Du eben schon wieder so weit obenauf warst, dass Du mir gleich wieder einen mitgeben musstest. In Bernds Gegenwart.“

„Hä? Was war denn?“

„‚Ute bekommt ein Baby von Klaus. Hoffe ich jedenfalls’, sagtest Du, wenn ich Dich erinnern darf. Ein wenig zu vertraulich und in Deiner Situation absolut nicht angebracht.“

„Also jetzt überdreh mal bitte nicht. Ich freu’ mich halt auf mein Baby.“

„So sehr, dass Du mir meine Freude auf unser Baby durch einen, wenn auch womöglich gespielten Zweifel an meiner Vaterschaft kaputt machen musst? In Gegenwart des Dienststellenleiters? Einfach so, mal ’n bisschen provozieren. Ja?“

Klaus wusste, dass er jetzt übersteuerte. Aber das war längst überfällig. Corinna musste endlich mal das vorlaute und gelegentlich gehässige Mundwerk gestopft und ihr Chefgehabe abgewöhnt werden.

Sie saß mittlerweile wieder in ihrem Chefsessel und schaute ‚wie eine Kuh, wenn’s blitzt’, würde sein Kumpel Heiner jetzt sagen.

„So. Und jetzt pass’ auf. Du gibst einen der Fälle sofort ab. Welchen, das kannst Du Dir selbst aussuchen. Und über den bei Dir verbliebenen Fall will ich minutiös Bericht über jeden Deiner Vorgänge erstattet haben. Bis ich sage, es reicht. Also überleg’ Dir schnell, welchen der Fälle Du weiterführen willst. Ich bin mal für einen Moment draußen.“

Auf dem Flur hätte er vor der Bürotür beinahe Bernd Dickel über den Haufen gerannt. Der schaute ihn vielsagend an, schüttelte nur den Kopf und verschwand. Er musste all das mitbekommen haben, was drinnen gelaufen war.

Bastian Kleinbram saß in Laasphe mit schneeweißem Gesicht am elterlichen Frühstückstisch. Gerade hatte ihm sein Vater mit einem traurigen Kopfschütteln den ‚Westfalenkurier‘ rüber geschoben und auf Seite „Wittgenstein 1“ gezeigt. Oben rechts ein Bild seines Kumpels Holger Blecher.

„Ist doch ein Freund von Dir“, hatte der Vater noch angemerkt. Aber Bastian hatte den Mann schon erkannt.

„Klar. Das ist Holger Blecher. Was ist denn mit dem?“ In diesem Moment begriff er, dass da irgendetwas nicht stimmte. Und erst jetzt las er den Text der Bildzeile. ‚Ein Suchfoto der Polizei zu den Mordfällen auf dem Stünzel. Wer kennt diesen Mann’? stand darunter. Um Gottes Willen!“, schrie er und sprang auf. „Ermordet? Der Holger? Wie kann denn so was sein?“ Er rannte zum Fenster und starrte hinaus in den Sommermorgen. „Wir sind doch alle zusammen gestern Morgen zum Stünzel rauf gelaufen. Und wir haben dort oben gefeiert. Den ganzen Tag. Mit Kathrin und Vivien zusammen. … Verdammt noch mal“, er drehte sich zum Vater um. „Da war er doch noch quietschfidel.“