Mords-Stünzel

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„Mit dieser Kathrin?“ Kleinbram senior, ein abgeklärter, längst pensionierter Amtmann, zeigte auf die Schlagzeile links neben dem Bild des Freundes. ‚Stünzelfest mit grausamer Bilanz – zwei junge Menschen ermordet’ stand da zweizeilig fett. Und in der Unterzeile: ‚Warum mussten Kathrin K. (24) und ein Begleiter sterben?’

Sein alter Herr schaute Bastian mit traurigen Augen an. „Du kanntest die junge Frau also auch?“ Bei der Gesuchten hatte die Polizei auf ein Foto verzichtet. Ihre Personalien waren ja bekannt.

„Natürlich. Wir sind zusammen zur Schule gegangen!“, brüllte Bastian vor Entsetzen und raufte sich die Haare. „Lieber Himmel, was ist denn da passiert? Die waren doch noch quicklebendig, als wir gingen. Das ist ja grausam. So was gibt’s doch gar nicht.“

„Ja. Das ist wirklich furchtbar. So junge Menschen. … Und überhaupt. Mord auf dem Stünzel.“ Bastians Papa machte eine kurze Pause. „So was hat es ja noch nie gegeben. Unfassbar“, sagte er halblaut.

„Du musst sofort zur Polizei“, machte der Vater seinem Sohn nach einer Weile klar, während der versuchte, den Artikel zu lesen und eventuell etwas Licht in sein schlagartig vorhandenes ‚inneres Dunkel’ zu bringen. „Denn die suchen noch zwei andere. Hab’s nur überflogen, was da unten in dem Kasten steht. Aber wenn Du mit den Ermordeten zusammen warst, dann meinen die Dich mit ‚Bastian’. Und wer ist dann ‚Vivien S.’?“

Bastian brauchte einen Moment, um diese auf ihn einstürzenden Grausamkeiten in seinem Kopf zu ordnen und darauf zu reagieren. Am liebsten hätte er laut losgeheult. Aber er konnte nicht. Er war zu entsetzt, um das Ganze überhaupt gedanklich zu verarbeiten. Was sollte er denn jetzt machen? Zwei seiner Freunde waren tot. Ermordet. Schlimmer geht ja gar nicht mehr. Wer war denn dieses Schwein, das die Beiden umgebracht hatte? Und warum, verflucht noch mal?

Der junge Laaspher ließ sein Frühstück Frühstück sein, nahm sein Mobiltelefon und suchte im Internet die Nummer der Polizei in Bad Berleburg.

„Vivien ist meine neue Freundin, Papa“, sagte er mehr beiläufig.

„Polizei Bad Berleburg“, kam’s aus dem Smartphone. Bastian schluckte und blieb erst einmal stumm.

„Hallo, hier ist die Polizei in Bad Berleburg. Kann ich Ihnen helfen?“

‚Der ist gut. Kann ich Ihnen helfen? Ich kann Euch helfen. Und ich will Euch helfen. Aber was passiert mit mir?’ Ihm war klar, dass er in dem Moment, in dem er sich als einer der Gesuchten outet, für die Polizei automatisch auch zum Verdächtigen wird. ‚Ihr werdet mich erst mal ausziehen bis auf die Unterwäsche und durchleuchten bis zum Gehtnichtmehr.’ Ist mir aber egal. „Hier ist die Polizei. Melden Sie sich doch bitte.“

„Ja, hier ist Bastian Kleinbram aus Bad Laasphe. Ich bin der Bastian, den sie …“ Sein Mund wurde immer trockener. „… den Sie im Zusammenhang mit den Morden auf dem Stünzel suchen.“

„Oh, kleinen Moment bitte, bleiben Sie bitte am Apparat. Ich verbinde Sie mit der Kriminalpolizei.“

Es dauerte keine fünf Sekunden, bis das Pausengedudel in der Leitung abrupt endete und sich eine weitere Männerstimme meldete.

„Kriminalpolizei Bad Berleburg, Klaiser am Apparat. Guten Tag Herr … Kleinbram. Ist das richtig?“

„Ja, das ist richtig. Bastian Kleinbram aus Bad Laasphe.“

„Herr Kleinbram, mir fällt ein Stein vom Herzen, dass Sie sich melden. Sind Sie gesund und unverletzt?“

„Ja, natürlich. Ich bin gesund aber unglaublich traurig über das, was ich gerade in der Zeitung gelesen habe. Über das, was mit meinen Freunden passiert ist.“

„Sie haben recht, das ist ganz furchtbar“, stellte Klaus Klaiser fest. „Darüber müssen wir auch dringend mit Ihnen reden. Aber zunächst noch eine Frage.“

„Ja, um was geht es?“

„Wissen Sie etwas über den Verbleib und den Gesundheitszustand von Frau Vivien Schreiber?“

„Natürlich. Sie ist gesund und dürfte jetzt in der Bahn nach Siegen sitzen. Auf dem Weg zur Uni.“

„Oh, das ist toll. Wunderbar. Woher wissen Sie das so genau?“

„Weil ich sie noch vor etwa einer Dreiviertelstunde gesehen und in Richtung Bahnhof hier in Laasphe verabschiedet habe. Wir haben das Wochenende zusammen verbracht.“

„Mensch!“, rief Klaus in den Hörer seines Diensttelefons, „das ist neben all dem Schlimmen hier endlich mal eine Supernachricht heute Morgen. Dass Sie beide leben und unversehrt sind. Toll! Wir haben uns hier schon die größten Sorgen gemacht.

Sagen Sie, Herr Kleinbram, ich würde Sie gerne persönlich sprechen. Haben Sie heute Vormittag Zeit?“

„Ja, hab’ ich. Hab’ erst übermorgen wieder Vorlesungen.“

„Darf ich fragen, was und wo Sie studieren?“

„Natürlich. Ich studiere Medizin im achten Semester. An der Uni Marburg. Und bin im Moment nur hier, um mich ein wenig um meinen alten Vater zu kümmern. Und wegen Stünzel.“

„Okay“, entschied Klaiser. „Passen Sie auf, ich bin etwa in einer halben Stunde bei Ihnen. Wenn Ihnen das passt.“

„Passt. Wollen wir uns hier in meinem Elternhaus treffen? Da kann ich wenigstens noch zu Ende frühstücken. Wenn ich überhaupt was runterkriege. Und ich mach’ Ihnen einen frischen Kaffee. Wär’ das was für Sie? Oder soll ich zur Polizeiwache kommen?“

Klaus überlegte kurz. Die Wohnung wäre natürlich besser. Schon allein, um sich dort ein wenig umsehen zu können. Und mit dem Vater hätte er womöglich auch noch einen brauchbaren Zeugen.

„Nee, dann komme ich zu Ihnen nach Hause. Aber machen Sie sich wegen mir keine Umstände. Kaffee ist zwar immer gut, aber nicht nötig. Wo wohnen Sie denn genau?“

„Turnerstraße 26. Das ist nicht weit weg vom Bahnhof. Wenn Sie von Berleburg her kommen, die letzte Straße vor dem Kreisel links rauf.“

„Danke Ihnen herzlich, Herr Kleinbram. Die Nummer, die ich hier gerade im Display sehe, ist das Ihre Handynummer?“

‚Oh shit, habe ich wieder vergessen, den Apparat auf anonymen Anruf zu stellen’, dachte Bastian. ‚Aber was soll’s. Ich hab’ nichts zu verbergen.’

„Ja, das ist meine.“

„Prima. Können Sie mir vielleicht auch die Nummer von Frau Schreiber geben?“

Bastian stutzte. Klar, natürlich. Der Polizist wollte möglichst auch mit ihr Kontakt aufnehmen, um zu überprüfen, ob sie tatsächlich okay ist, vielleicht sogar einen Vernehmungstermin mit ihr ausmachen.“

„Seien Sie mir bitte nicht böse, Herr äääh …“

„Klaiser.“

„Ach ja, Entschuldigung, Herr Klaiser. Aber bevor ich Ihnen die Nummer von Vivien gebe, möchte ich mir erst deren Erlaubnis dafür einholen.“

Für einen Moment war es still in der Leitung. ‚Meinte der das jetzt im Ernst’?, überlegte Klaus. Rein faktisch durfte der Student das natürlich. Datenschutz ist ein verdammt hohes Gut. Aber Menschenleben ein noch höheres. Sie waren schließlich auf Mördersuche. Wer wusste, was dieser Killer da draußen als nächstes plante und wer dann dran glauben musste. Nein, hier musste Hilfe eingefordert werden.

„Das ist schon etwas sehr ungewöhnlich“, antwortete der Hauptkommissar schließlich, sehr um Fassung bemüht. „Wir stecken hier voll in den Ermittlungen zu zwei ausgesprochen brutalen Morden – an zwei Menschen aus Ihrem Freundeskreis. Und Sie behindern uns dabei, weil Sie die Telefonnummer Ihrer Bekannten nicht rauslassen wollen. Da staune ich doch sehr, um ehrlich zu sein. Was soll denn das bedeuten? Glauben Sie, wir verhökern die Daten unserer Zeugen und der übrigen ‚Kundschaft’ meistbietend auf der Straße?“

Bastian begann zu hüsteln. Seine Kehle war schlagartig so trocken geworden, dass er meinte Straßenstaub gefrühstückt zu haben.

„Nein, verzeihen Sie“, brachte er noch raus. Dann brauchte er einen Schluck Kaffee. „… So war das natürlich nicht gemeint. Aber ich bin in aller Regel sehr vorsichtig, was die Weitergabe von derlei Informationen an Dritte anbelangt. Zudem wollte ich vermeiden, dass Vivien durch Ihren Anruf erschreckt wird. Ich wollte ihr eigentlich selbst die Nachricht vom Tod unserer Freunde überbringen. Genauer gesagt: schonend beibringen.“

„Das kann ich natürlich verstehen“, sagte Klaiser und dachte, ‚darf ich aber unter keinen Umständen zulassen.’ Zumindest solange nicht, bis klar war, ob Kleinbrams Infos zu Vivien stimmten. Es wäre fatal gewesen, wenn doch alles ganz anders war und die Beiden jetzt auch noch Gelegenheit bekämen, ihre Aussagen abzusprechen. „Aber glauben Sie mir“, redete er weiter, „wir kennen uns gut aus, was das anbelangt. Erschrecken könnten wir Ihre Bekannte allenfalls dadurch, dass wir uns mit ‚Polizei’ am Telefon melden. Also bitte, seien Sie so nett. Dann kann nämlich einer von den Kollegen schon mal weiter recherchieren und eventuell einen Gesprächstermin ausmachen, während ich zu Ihnen runter nach Laasphe komme.“ Bastian tat ihm schließlich den Gefallen und rückte Viviens Nummer raus.

„Zum Schluss noch eine Frage, die ich um ein Haar vergessen hätte. Können Sie mir den Nachnamen des männlichen Mordopfers nennen, bitte? Und vielleicht auch seine Wohnadresse?

„Natürlich“. Etwas stockend nannte Bastian den Namen „Holger Blecher“ und die Adresse „Kanarienweg 6“.

„Corinna“, Klaus Klaiser war in ihr Büro gegangen und hatte die Kollegin an ihrem PC angetroffen. Sie schrieb an ihrem Protokoll über die gestrigen Ereignisse. „Hast Du Dich entschieden, welchen der beiden Fälle Du jetzt abgibst?“

„Nein, hatte noch keine Zeit“, kam von ihr, mehr patzig als freundlich zurück. Sie hatte rote Ränder um die Augen. Trauer und Zorn waren also noch immer nicht verraucht.

„Die Wahl kannst Du Dir jetzt auch sparen. Ich werde mich auf Kathrin Kögel konzentrieren, übernehme also den zuerst bekannt gewordenen Mordfall. Der Fall ‚Holger’, Holger Blecher heißt er übrigens, Kanarienweg 6, Laasphe, bleibt bei Dir. Wenn Du willst.“

 

Corinna riss mal wieder Mund und Augen auf, brachte aber keinen Ton heraus. War da gerade etwas an ihr vorbeigerauscht und sie hatte es nicht mitbekommen? Woher wusste Klaus plötzlich Namen und Adresse des zweiten Mordopfers?

Klaus ahnte natürlich, dass sie sich exakt diese Frage stellte und sagte: „Bastian Kleinbram hat sich gemeldet. Er und Vivien Schreiber seien wohlauf. Ich werde jetzt zur ersten Vernehmung nach Laasphe fahren. Zumindest mit dem Mann. Die Frau rufst Du bitte jetzt sofort an. Und zwar unverzüglich. Sie weiß noch nichts von den Morden, sagte mir Kleinbram. Also gehe bitte pfleglich mit ihr um und vereinbare schnell ein Gespräch mit ihr – in Laasphe oder hier.“

Schnell legte Klaiser ihr die Telefonnummer und die einzelnen Namen und Adressen auf den Tisch.

„So, jetzt bitte sofort anrufen. Sie ist auf dem Weg zur Uni Siegen und vermutlich noch im Zug. Und bitte beteilige die Kollegen an den Recherchen. Ich bin dann in Laasphe. Ciao. Ich melde mich.“

Die Oberkommissarin kam sich vor, als sei sie von einem vorbeifahrenden Bus gestreift worden. ‚So ist der also, wenn er richtig pampig ist. Mein lieber Scholli.’ Sie wusste nicht so recht, ob sie jetzt auch noch stinkig sein oder besser endlich mal den Rand halten sollte. Besser das Letztere. Denn eines war ihr klar: Klaus hatte in allen Belangen den längeren Arm. Und er war überdies im Recht. Das hatte sie in ihrem vor Wut und verletzter Eitelkeit zugeschwollenen Hirn einfach nicht gerafft. Und sie bereute zutiefst. Also jetzt besser klein beigeben.

Sie nahm den Telefonhörer auf und wählte Viviens Nummer. „Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar“, quäkte eine Computerstimme aus dem Telefon.

„Mist.“ Nochmal versuchen. Wenn sie in diesen zerklüfteten in Fels gehauenen Trassenstücken der Wittgensteiner Bimmelbahn unterwegs war, konnte sich so etwas in Sekundenbruchteilen ändern. Doch der nächste Versuch ging genauso in die Hose wie die drei folgenden. „Klasse.“ Corinna war alles andere als begeistert. Aber sie blieb eisern und ließ über Wahlwiederholung alle fünf Sekunden einen neuen Anruf in Richtung Vivien Schreiber raus.

Als Pattrick Born zu ihr ins Zimmer kam, machte sie ihn schnell mit der ‚neuen Lage’ vertraut und ließ ihn Telefonnummern und Adressen abschreiben. Er möge doch bitte die Kollegen unterwegs und die in der Laaspher Wache briefen, um Vorort- und Nachbarschaftsbefragungen zu koordinieren. Und vor allem, um die Angehörigen von Holger Blecher ausfindig zu machen. Todesnachrichten überbringen ist eine furchtbare Sache. Womöglich aber hatten die Leute bereits in die Zeitung geschaut. Das wäre dann noch grausamer.

14 Uhr ‚Kurze Lage’. Das ist die Bezeichnung für ‚eine schnell abgehaltene Lagebesprechung’, die mit allen an den Fällen Beteiligten stattfindet. Auch mit denen, die zu dieser Zeit in anderen Dienststellen oder unterwegs sind. Die werden per ‚Digitalschalte’ am Gespräch beteiligt.

„Lass’ das bitte alle wissen. Und, ach ja, das sollte ich Euch auch sagen: Wir führen ab sofort die Fälle parallel, aber dicht beieinander. Klaus ist für Fall eins, Kathrin Kögel, zuständig und ich für Fall zwei, also den erschlagenen Holger Blecher.“

‚Ach’, dachte sich da der Kollege, ‚hat sie was auf die Hörnchen bekommen, die g’scheite Geiß? Ein Begriff, den sein Onkel Philipp aus dem Schwarzwald für herrische und besserwisserische Frauen verwendete.

„Was ist eigentlich mit den Autopsieberichten?“, fragte er deshalb. Um nicht breit grinsen zu müssen. „Gibt’s da immer noch nichts aus Siegen?“

„Doooooch, die waren doch heute Nacht schon beide da. Das Ergebnis kennst Du doch aus der Morgenrunde“, erzählte Corinna, während sie wieder und wieder die Nummer von Vivien Schreiber anwählen ließ und den Hörer zwischen Ohr und rechte Schulter geklemmt hatte. Erfolglos. „Kathrin Kögel erwürgt und Holger Blecher durch einen Schlag auf den Kopf mit einer mehr als halbvollen Schnapsflasche getötet. Die Flasche war ja gestern noch am frühen Abend auf der Rückseite des Heckenkarrees gefunden worden. Voller Blut und Haare.“

„Ja, ja, das hab’ ich ja auch mitbekommen. Mich interessiert allerdings vielmehr, was die Leute so getrunken und gegessen haben. Vielleicht kann man so ihren Festplatz-Bewegungsradius etwas klarer einschränken. Ich hab’ mir schon einen Stand- und Budenplan vom Stünzel besorgt, um sehen zu können, wo welche Speisen angeboten wurden.“

Corinna war beeindruckt. Der Mann war richtig gut. Aber das zu zeigen und dafür womöglich sogar zu loben, das war nicht ihre Stärke. Man könnte ja ein Steinchen aus dem Krönchen verlieren. Weil einem mal was Geniales nicht selbst eingefallen ist. Auch da musste sie noch gehörig dazulernen.

„Die Berichte sind alle als Datensatz verfügbar. Ich werde sie gleich allen zur Verfügung stellen.“

„Prima“, verabschiedete sich Born und zog vor sich hin murmelnd von dannen. „Mach hinne Alte, wir müssen mal langsam ’n bisschen Land sehen in der Geschichte.“

Vivien Schreiber saß beseelt im Zug nach Erndtebrück, als bei Leimstruth ihr Handy klingelte. Sie kannte die Nummer nicht, sah nur, dass der Anruf aus Bad Berleburg kam und drückte ihn weg. Immer wieder. Wer sollte das schon sein?

Keine Lust auf Telefonate von anderen. Der Einzige, mit dem sie jetzt reden würde, war Bastian.

Sie hatten ein traumhaft schönes Wochenende gehabt. Erst diese Wanderung hinauf zum Stünzel in einer großen Gruppe ehemaliger Klassenkameraden. Das hatte einen Riesenspaß gemacht. Allein das Wiedersehen nach längerer Zeit. Viele von ihnen lebten längst woanders, hatten Bad Laasphe aus den unterschiedlichsten Gründen den Rücken gekehrt. Und daher waren der Marsch zum Stünzel und die Gespräche auf dem Weg dorthin einfach nur klasse.

Und dann, nachdem sie sich auf dem Rummelplatz getrennt hatten und nur noch die ‚Vierergruppe’ übrig geblieben war, hatte sie sich intensiv um Bastian gekümmert. Der war ihr früher im Städtischen Gymnasium schon positiv aufgefallen. Aber sie war damals einfach zu schüchtern gewesen. Und hätten ihre stinkkonservativen Eltern von ihrem Schwarm gewusst, sie hätten ihn ihr schon aus dem Hirn herausgeprügelt haben.

Doch ihre Eltern, deren Drohungen und Wehklagen sie permanent im Hinterkopf hatte, konnten ihr mittlerweile gestohlen.

Sie, die vom (Eltern-)Hause aus Verklemmte, die immer zurückgesteckt hatte, wenn eine Freundin den Jungen begehrte, den sie eigentlich auserkoren hatte, war gestern voll auf Angriff gefahren. Und das hatte sich gelohnt. Sie war so glücklich.

Ihre Chance gewittert hatte sie, als Kathrin ein wenig intensiver mit diesem jungen Polizisten rumgemacht hatte. Weil es bei denen so richtig gefunkt hatte und sie wie jungverliebte Pennäler herumalberten und knutschten, musste Vivien nun wirklich keine ernsthafte Konkurrenz mehr fürchten. Sie baggerte Bastian an. Und der wehrte sich nicht. Im Gegenteil.

Nur Holger, der Vierte in ihrem Bunde, ging irgendwie leer aus. Aber das schien ihn nicht im Geringsten zu stören. Denn er hatte eine Menge Bekannte. Immer wieder mal kam eine oder einer am Tisch im Zelt vorbei und quatschte mit ihm, lud ihn zum Bier ein oder ließ sich einladen. Der künftige Juniorchef eines großen Gartenbaubetriebs in Wallau war ein uriger und unheimlich gemütlicher Kerl. Einer, den man gerne als Kumpel hatte.

Wieder klingelte ihr Mobiltelefon. Wieder dieselbe Nummer mit 02751-Vorwahl. Das wurde langsam öde. Wer in Bad Berleburg kannte denn ihre Nummer? Sie wurde langsam stutzig. Denn die Beharrlichkeit dieses Anrufers war wirklich nicht zu toppen. Gerade eben überfuhr der Zug die Eder zwischen Womelsdorf und Erndtebrück, als Vivien die Nerverei satthatte und dranging.

„Hallo“, meldete sie sich.

„Auch hallo“, kam es von der anderen Seite. Sind Sie Frau Vivien Schreiber?“

„Wer sind denn Sie?“

„Mein Name ist Lauber. Ich bin von der Kriminalpolizei in Bad Berleburg.“

Stille herrschte in der Verbindung. Vivien war erschrocken. Kripo? Was wollten die denn?

„Sind Sie noch dran … Frau Schreiber?“

Nach einer weiteren langen Weile brachte Vivien ein verhaltenes „Ja, worum geht es denn?“ heraus. „Hören Sie, ich bin in einem Zug und muss in einer Minute umsteigen. Ich hab’ ziemlich Druck, weil ich nur acht Minuten zum anderen Zug und für die Platzsuche habe. Ich muss mich nämlich noch auf eine Klausur vorbereiten. Dafür brauche ich einen Sitzplatz in dieser ständig rappelvollen Bahn.“

„Ja, tut mir leid, Sie ausgerechnet in dieser Situation zu behelligen. Aber wir müssen unbedingt mit Ihnen reden.“

Noch immer das Smartphone am Ohr, stieg die junge Studentin aus und lief den Bahnsteig entlang, als ihr Blick in eine Zeitung fiel, die dort gerade von einem Mann gelesen wurde. Sie sah Holgers Bild, las die Schlagzeile und erstarrte.

„Oh nein, das ist doch nicht möglich!“, schrie sie unweigerlich auf. Menschen rissen erschrocken ihre Köpfe zu ihr herum. Und aus dem Telefon rief Corinna Lauber weiter nach ihrem Namen. „Frau Schreiber? … Was ist passiert? … Frau Schreiber!“

Wie im Nebel nahm Vivien wahr, wie sie von einem Ehepaar zu einer Bank geleitet wurde. Man bot ihr einen Schluck Kaffee an. Sie bedankte sich artig und holte ihre Trinkflasche aus der Schultertasche hervor. Wasser würde ihr genügen.

Dann besann sie sich wieder des Telefons und fragte nun ihrerseits: „Polizei, sind Sie noch da?“

„Ja, bin ich. Was ist denn passiert, um alles in der Welt?“

Vivien brauchte einen Moment, um die passenden Worte zu finden. „Ich habe gerade einen toten Bekannten in der Zeitung gesehen. Holger Blecher. Das ist doch alles nicht wahr. Oder?“

„Doch“, sagte Corinna. „Doch, leider. Zwei furchtbare Verbrechen.“

„Oh mein Gott“, stöhnte die Studentin. „Ich fasse es nicht. Vorgestern Abend bin ich noch mit Holger und anderen Bekannten zusammen gewesen. Ich glaube, mir wird schlecht.“

Schnell nahm sie noch einen großen Schluck Wasser aus der Trinkflasche. „Kennt man denn das zweite Opfer? Weiß man, wer das ist?“

„Frau Schreiber, ich muss Sie bitten, jetzt nicht weiter zur Uni zu fahren.“

„Das stehe ich auch nicht durch, glaub’ ich“, antwortete Vivien. Ich fahre wohl am besten gleich wieder zurück nach Bad Laasphe und gehe zu meinem Freund. Den Bastian muss ich jetzt aber erst mal anrufen.“ Dann drückte sie das Gespräch weg und wählte sofort die Nummer ihres neuen Freundes. Die sie in ihrem Handy-Telefonbuch auf Position 1 gesetzt hatte.

Corinna hätte ausrasten können. „So ein verfluchter Mist.“ Geistesgegenwärtig wählte sie umgehend Bastian Kleinbrams Handynummer, um sie für andere Anrufe zu blockieren. Aber die war schon besetzt. Die Gegenprobe auf Viviens Handy bewies ihre Vermutung, dass die beiden bereits miteinander telefonierten. Und die Gefahr bestand, dass dort womöglich eine Absprache stattfinden würde, die die Wahrheitsfindung erheblich beeinträchtigen könnte.

Aber da irrte Kriminaloberkommissarin Lauber. Denn zum einen tröstete Bastian seine Freundin auf hingebungsvolle Art und Weise am Telefon. Zum anderen hätten die beiden, wenn nötig, ihre Absprachen längst treffen können. Denn sie waren seit ihrem Besuch auf dem Stünzel zusammen. Bis Vivien das Haus in der Turnerstraße 26 verließ und zum Bahnhof lief. Durchgehend.

Lediglich am späten Sonntagmittag, als sie ihre Eltern beim Mittagsschlaf wusste, hatte sie kurz zu Hause vorbei geschaut. Klammheimlich war sie zu ihrem Zimmer hochgestiegen und hatte ein paar Klamotten geholt. Fünf Minuten später fuhr draußen ein steinuralter Golf wieder vom Gehsteig runter und bog kurz darauf in den Puderbacher Weg ein. Bastian hatte Vivien das Laufen ersparen und eine eventuell nötige Flucht vor den Eltern erleichtern wollen.

Um 10 Uhr saß die Pädagogik-Studentin bereits wieder im Zug zurück nach Bad Laasphe. Sie zitterte wie im Fieberrausch am ganzen Leib. Als sei sie schlagartig von einem Malariaanfall heimgesucht worden. Das Wissen um den gewaltsamen Tod von Holger machte sie fast wahnsinnig. Und noch ahnte sie nicht, dass auch das zweite Stünzel-Opfer aus ihrem Bekanntenkreis stammte. Bastian hatte sie in aller ihm möglichen Ruhe gebeten, wieder zurückzukommen. Er wollte ihr diese furchtbare Nachricht so schonend wie irgend möglich beibringen.

Zur selben Zeit im Frühstücksraum des Hotels ‚Edermühle’ in Erndtebrück. Längst hatte das Gros der Hotelgäste das Frühstück beendet. Bis auf drei Personen. Die waren noch nicht so weit. Und es war auch noch kein Ende abzusehen. Seit über einer Stunde nervte dieses bayerische Ehepaar mit erwachsenem Sohn bereits das Servicepersonal. Mit immer neuen Bitten und Aufträgen. Es war die Loden- und Trachtenhändlerfamilie Raitmaier aus Lenggries. Wobei der Junior eher Mitläufer denn Mitakteur war, bei den strapaziösen Eskapaden der Eltern.

 

„Da Kaffee daugt nix.“ „Vom Schinken hob i a scho amoi an bessan gessen.“ „Knusprige Sömmejn gibt’s wohl bei die Preißen net. Oda?“ „A geh, bringan’s mia a Hoibe Biea. Aba zackig!“ „Wos iis’n? Kennat’s net do drib’n obrama. Mia braichat’n no a weng.” Das ständige Hin und Her, das Gemotze des Raitmaier senior und das Gezeter seiner Frau. Einfach kaum auszuhalten.

Hätte Nadine vom Service sich nicht ständig die vermaledeite Formel ‚bei uns ist der Gast König’ vorgebetet, hätte der alte Bayer von ihr schon längst eine runtergehauen bekommen. Dieser überdrehte Fiesling im Trachtenlook griff, wann immer sie in seiner Nähe auftauchte, nach ihrem Hinterteil, streichelte ihre Oberschenkel beim Kaffee nachschenken und stierte völlig ungeniert in ihren Ausschnitt. Auf „lassen Sie das bitte“ reagierte er ums Verrecken nicht. Allenfalls mit den Worten: „Mei, is dös a saubere Dirn. Jetz’ schaug Dir des o.“

Seine Frau schienen derlei Schieflagen in den Manieren ihres Mannes nur am Rande zu interessieren. Sie saß da mit einem ganzen Stapel von Rechnungen, Quittungen und Tagesabrechnungen und versuchte zwischen Geschirr und Brötchenkorb so eine Art ‚fliegende Buchhaltung’. Sie hatten ein richtig gutes Geschäft gemacht am vergangenen Samstag. Stünzel hatte sich wieder einmal echt gelohnt für das Familienunternehmen.

Nach den Frühlingsfesten im deutschen Süden war das Wittgensteiner Volksfest traditionell der Einstieg ins „Reisen im Norden“, wie sie das nannten. Was nichts anderes war als der Wechsel von einem Markt zum nächsten – nördlich des Weißwurstäquators. Manchmal nur für ein oder zwei Tage, manchmal für eine ganze Woche. Je nachdem, wie lange so ein Marktfest dauerte und was es einbrachte.

Und weil sich eben der Stünzel wirklich gerechnet hatte, gab es gestern Abend kein Halten mehr. Der alte Raitmaier hatte sich in der Hotelgaststube dermaßen besoffen, dass er, von Frau und Hotelier gestützt, ins Zimmer geschleppt und dort kniend vor der Toilette geparkt werden musste. Und auch ‚Bene’, der Junior, hatte richtig was gerissen in der 0,5 Liter-Klasse. Pils bis zum Abwinken.

Eigentlich absolut atypisch für ihn. Zumal er seinen Absturz nahezu ohne jede Gesellschaft herbeigeführt hatte. In der Ecke des Bartresens. Aber die Mutter nahm diese Entwicklung mit Wohlwollen zur Kenntnis.

„Endlich, endlich, wead’s oana, ois wiea die onderen a.“ Sie hatte sich schon Sorgen gemacht, ihr Sohn könne gänzlich aus der Art schlagen.

Heute allerdings musste mal ‚gefastet’ werden. Denn Raitmaiers hatten vor, morgen in aller Herrgottsfrühe noch den Wochenmarkt in Dortmund-Eving zu besuchen und dann nach Erkelenz auf den Lambertusmarkt zu wechseln. Dort waren sie als wahre Exoten, unglaublich beliebt mit ihren Dirndln, Krachledernen, mit Trachtenhemden und mit bayerischer Lodenmode. Vier Tage lang würden sie sich die Seele aus dem Leib verkaufen. Um dann wieder unterwegs Ware aufzunehmen und weiter in Richtung Küste zu fahren.

„Sagen Sie“, kam plötzlich Hotelier Schorge ins Frühstückszimmer gestürmt, „Sie waren doch auch auf dem Stünzelfest.“

„Jo, warum? Wos is’n?“ Alois hatte als erster reagiert und registriert, dass der Mann eine zusammengefaltete Zeitung in der Hand hielt. Die nahm er ihm prompt aus der Hand, als Schorge von „Doppelmord auf dem Festplatz“ berichtete.

„Oha, ooooha! Jo, jo, des gibt’s ja garnet“, kommentierte er das, was er da las. „Do herob’n hom’s no a zwoaten um’bracht. Des is jo greijslich, is des jo. Mei Liawa. Warum hom mia dovon nix mitkriagt?“

„Des geht uns nix o“, meinte seine Frau, die ungestört weiter Papiere sortierte und rechnete.

„Jo, jo, do hot sie scho Recht. Wann die Preiß’n moanan, ’s miassat’n si geg’nseijtig umbringa, no loss’ ma eana den Spaß“, ergänzte Raitmaier senior die Aussage seiner Ludwiga. „G’rauft wead oiweijl un ibaroij“, fügte er an und nahm einen letzten Schluck aus dem Bierseidel. Sehr zum Entsetzen seines Sohnes.

Kienhewersch Winfried hatte die ganze Nacht nicht richtig schlafen können. Immer wieder war das Gesicht der toten jungen Frau in seinen Träumen aufgetaucht. Und immer wieder schreckte er hoch, musste er sich in seinem Bett aufsetzen und einen Schluck Wasser trinken aus der Flasche, die er auf seinem Nachtschränkchen deponiert hatte. Irgendwann am frühen Morgen, als ein weiterer Versuch einzuschlafen sich ohnehin kaum mehr gelohnt hätte, war er schließlich aufgestanden und hatte die Zeitung reingeholt.

Zeitung lesen bei einer Tasse frischen Kaffees. Dieses wunderbare Ritual hatte er beibehalten. Über den Tod seiner geliebten Frau hinaus. Es war eine schöne Erinnerung an sie. Wenn sie vor seinem geistigen Auge auftauchte, lächelte sie stets, während sie das kochende Wasser in den alten Porzellanfilter mit Pulver aus frisch gemahlenen Kaffeebohnen goss und damit ein herrliches Aroma in der großen Wohnküche entfaltete. Immer just in dem Moment, in dem er mit der Zeitung vom Briefkasten her in die Küche kam.

Dann schnitt er für jeden eine Scheibe Brot ab und schmierte richtig dick Butter drauf. Dazu eine Tasse Kaffee und einen kurzen Blick in die Gazette. Mehr als diesen kleinen Genuss gönnten sie sich nicht vor der Stallarbeit. Geduscht und richtig gefrühstückt wurde erst hinterher.

Eine erfreuliche Lektüre war der ‚Westfalenkurier‘ zwar schon lange nicht mehr. Wie alle Zeitungen in diesen Wochen und Monaten. Winnie hatte die ewigen Stories von Flüchtlingsobergrenzen, Brexit und Europa-Gegnern gründlich satt. Häufig überschlug er die ersten News- und Politik-Seiten, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Nachrichten über despotische Regierungschefs und über Kriege in Nahost und in Afrika waren am frühen Morgen nämlich zu sehr dazu geeignet, seine Laune auf den Nullpunkt zu fahren.

Heute aber drehte es dem Witwer förmlich den Magen um, als er die Lokalseite 1 der Zeitung aufschlug. Das Suchbild mit dem Gesicht von Holger Blecher war das erste, was ihn verstörte. Und dann schockte ihn der dazugehörige Artikel bis auf die Knochen. „Noch ein Mord? Mein Gott“, rief er, „gnädiger, gerechter Gott, wie kannst Du so was zulassen? Zwei Tote!“ Er wurde einfach nicht fertig mit dieser Nachricht.

Helmut und Ulla von ‚Mannes’ gegenüber hatten ihm die Information über das zweite Mordopfer gestern wohlweislich vorenthalten. Weil sie fürchteten, er würde durchdrehen, als er, total fertig von seinen Erlebnissen mit der toten Kathrin Kögel, am Abend dann doch noch zu ihnen hinübergekommen war.

Er brauchte Gesellschaft. Denn er machte sich Vorwürfe und wollte wissen, ob er sich zu Recht so kasteite. Diese dämliche Kripo-Frau hatte ihn einfach total konfus und fertig gemacht. „Sie hätten doch nur mal in den Hänger schauen müssen“, hatte sie gesagt. Totaler Schwachsinn! Das wusste er. Aber so ganz sicher war er sich eben nicht mehr.

„Ich hätte auch nicht nachgeschaut, wenn Dich das tröstet“, hatte Ulla schließlich geholfen, mit seinen Selbstzweifeln aufzuräumen und ihm ein kräftiges Abendbrot gemacht. Wissend, dass sich der Nachbar in einem beklagenswerten psychischen Zustand befand. ‚Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen’, hatte ihre Muter immer gesagt. ‚Wie recht sie hatte, die Liebe’, dachte Ulla, als sie sah, dass Winfried sich innerlich langsam wieder aufrichtete.

Helmut war am Nachmittag zuvor fast in Schockstarre verfallen, als ihn sein Nachfolger im Vorstandsamt mit der Nachricht vom zweiten Opfer konfrontierte. Der hatte ihn völlig konsterniert angerufen. „Fertig mit der Welt und drauf und dran, den ganzen Bettel gleich wieder hinzuschmeißen“, wie er sagte. „Das muss man sich mal reintun. Da übernimmt man einen Verein, der 183 Jahre eine Kreistierschau veranstaltet, die von Jahr zu Jahr größer und spektakulärer wird. Und die schließlich zu einem Riesenvolksfest mutiert. Und in all den Jahren passiert nix. Außer dass das Fest immer bekannter wird. Aber ausgerechnet in meinem ersten Vorstandsjahr gibt es dort zwei Morde. Verfluchte Hacke, wer soll das denn aushalten? Was passiert denn jetzt? Was muss ich denn jetzt machen?“

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