Kulturtheorie

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Kapitel 1 Überlegungen zum Kulturbegriff:
T.S. EliotsEliot, Thomas S. Spuren in den angelsächsischen Kulturwissenschaften

Die kulturelle Wende (cultural turn) in den Human- und Geisteswissenschaften hat neue Perspektiven und Forschungsfelder eröffnet, zugleich aber eine nachhaltige Verunsicherung erzeugt, die ganz offenkundig mit der begrifflichen Unschärfe von Termini wie Kulturwissenschaften und Cultural StudiesCultural Studies zusammenhängt. Inhalt, Bandbreite und Methodik dieser neuen Wissenschaftsfelder sind unbestimmt, um nicht zu sagen ausufernd. Das schlägt sich auch in den verschiedenen disziplinären Bezeichnungen nieder: Kulturwissenschaften, KulturanalyseKulturanalyse, Kulturanthropologie, Kulturtheorie, Kulturphilosophie, Kulturgeschichte. Diese Bezeichnungen sind keine Homonyme, sie haben Familienähnlichkeiten im Sinne WittgensteinsWittgenstein, Ludwig, aber es gibt keinen Oberbegriff, der all diese neuen binnen-, trans- und außerdisziplinären Fokussierungen angemessen zu einem Ganzen zusammenzufassen vermöchte.1

Besonders verschwommen und deshalb auch fortgesetzt ObjektObjekt zünftig-traditioneller Kritik ist der Terminus Kulturwissenschaft, der bekanntlich im Singular wie im Plural gebräuchlich ist. Insbesondere im Singular legt er die Idee einer neuen avancierten Disziplin oder gar Leitdisziplin nahe, während er im Plural zudem noch zwei weitere Bedeutungen umfasst. Zum einen die Idee einer Umwandlung bzw. bloßen Umbenennung aller bisherigen human- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen, zum andern aber die Idee eines transdisziplinären Netzwerkes, das – wie im Fall der angelsächsischen Cultural StudiesCultural Studiesdie Human- und gegebenenfalls auch die Sozialwissenschaften im Hinblick auf das Makrophänomen Kultur integriert.2

Der im Deutschen wenig gebräuchliche Terminus Kulturstudien nimmt sich demgegenüber viel bescheidener und punktueller aus und bezieht sich – in Analogie zu den angelsächsischen Cultural StudiesCultural Studiesauf neue Themenfelder wie PopularkulturPopularkultur, Neue MedienMedien, Medien-, -medien, medien-, GeschlechtGeschlecht (Gender), Geschlecht-, (Gender) und InterkulturalitätInterkulturalität, interkulturell.3 Aber es ist gerade mit Blick auf den angelsächsischen RaumRaum unverkennbar, dass sich die Cultural Studies zu einer einflussreichen Alternativ-Disziplin im akademischen Milieu entwickelt haben, die in einem schwer zu definierenden Grenzgebiet zwischen Sozial- und Humanwissenschaften anzusiedeln ist (→ Kap. 12).4

Den Begriff KulturanalyseKulturanalyse hat die niederländische Literatur- und Kunstwissenschaftlerin Mieke BalBal, Mieke nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit den Kulturstudien angelsächsischer Provenienz und den deutschen Kulturwissenschaften geprägt. BalBal, Mieke teilt den kritischen politischen Impetus der Cultural StudiesCultural Studies, auch ihre implizite Einsicht, dass die Analyse von kulturellen Phänomenen immer einen konstitutiven Bestandteil des Analysierten darstellt. Sie moniert indes deren einseitige Parteinahme für die ‚moderneModerne, modern, -moderne‘ PopularkulturPopularkultur sowie ihre mangelnde methodische Stringenz. Weder hätten die Cultural Studies eine verbindliche Methodologie entwickelt, noch hätten sie eine ausreichende Theorie der Inter- bzw. Transdisziplinarität entfaltet. Dadurch gerieten sie in Gefahr, den Anspruch wissenschaftlicher IntersubjektivitätIntersubjektivität und Rationalität dem kulturellen und politischen Engagement (etwa für ethnischeEthnie, ethnisch oder sexuelleSexuelle, das, sexuell Minderheiten, Frauen, Popular- und Sonderkulturen) unterzuordnen (→ Kap. 12, 15).5

Man tut gut daran, eine solche Kritik ernst zu nehmen, gerade um die reflexiven – politischen, wissenschaftlichen und intellektuellenIntellektueller, intellektuell – Möglichkeiten zu bewahren und das kulturelle Paradigma gegen eine fortgesetzte traditionelle Kritik argumentativ zu verteidigen und vor einem kulturalistischen Zugriff zu bewahren. Wenn hier dem Begriff Kulturtheorie gegenüber dem der KulturanalyseKulturanalyse der Vorzug gegeben wird, so im Hinblick auf die Einsicht, dass kulturwissenschaftliche Ansätze nur – in der Forschung wie in der Lehre – durch eine Theorie legitimiert werden können, in welcher der Begriff der Kultur, einer der schwierigsten, verwirrendsten und vielfältigsten Termini überhaupt, angemessen geklärt und expliziert wird.6

Eine solche Kulturtheorie wird vorab darauf verweisen, dass die neue Unübersichtlichkeit im Gefolge der kulturellen Wende ganz offenkundig mit der schillernden Bedeutungsvielfalt des Begriffs Kultur zu tun hat. Die HeterogenitätHeterogenität, heterogen, die kulturellen Phänomenen eigen ist, scheint ihren Niederschlag in eben diesen vielfältigen Betätigungsfeldern zu haben, die oben zitiert worden sind. Der Begriff Kultur ist nach innen wie nach außen multipel. Kultur setzt die VielfaltVielfalt von Kulturen kategorisch stets voraus. Vermutlich konstituieren, wie das Beispiel der angelsächsischen Kulturstudien und der deutschen Kulturwissenschaften zeigt, verschiedene (akademische) Kulturen auch unterschiedliche Typen von Wissenschaften, die sich mit dem Großphänomen Kultur befassen.

Kultur lässt sich von ihrer inhaltlichen wie von ihrer formalen Seite her bestimmen, inhaltlich als ein Insgesamt von PraktikenPraktiken, TechnikenTechnik, -technik, Überlieferungen und Artefakten, formal als ein Ensemble von Formgebungen und Medialisierungen. Die medialen Revolutionen des frühen und des späten 20. Jahrhunderts haben unser Augenmerk auf die medialen Aspekte kulturellen Geschehens und Tuns gelegt, auf die Tatsache, dass der Mensch immer schon in einer symbolischsymbolisch (allgemein) vermittelten Welt lebt: Zeichen, LautLaut(form), Schrift, PiktogrammPiktogramm, ‚BildBild‘ sind solche Formen der Wirklichkeitsgestaltung, die unser Sein in der Welt erschließen und unser Tun in ihr leiten und bestimmen. Was die heutige Kulturtheorie von ihren Vorläufern unterscheidet, ist vor allem dieser veränderte semiotische Blickwinkel: Die linguistischen, medialen und ikonographischen Fokalisierungen, all diese inflationär gewordenen Wenden (turns) sind Detailaspekte eben jener kulturellen Wende. In ihrem Kern beinhaltet jene die anthropologische Aussage, dass der Mensch, wie es Ernst CassirerCassirer, Ernst in seinem Spätwerk dargelegt hat, ein auf symbolische VermittlungVermittlung, symbolische angewiesenes Lebewesen darstellt.7

Im Sinne einer ersten heuristisch tastenden Denkbewegung lassen sich zunächst einmal drei unterschiedliche Begriffe von Kultur beschreiben, die auf ganz unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind. Sie gehen nicht ineinander auf und sie verhalten sich auch nicht wie jene Spiele, die Ludwig WittgensteinWittgenstein, Ludwig als Beispiel für sein Konzept der FamilienähnlichkeitFamilienähnlichkeit vorgestellt hat: Denn hier geht es um die Frage, ob die Mengen aller Spiele überhaupt eine Gemeinsamkeit besitzen oder ob sie nicht vielmehr zu einem Begriff zusammengefasst werden, weil sie ein Verwandtschaftssystem beinhalten, ohne das jedes Spiel einen abstrakten Wesenszug mit allen anderen gemeinsam hätte.

Obschon es also sehr bemerkenswerte Verbindungen zwischen Spiel und Kultur gibt,8 verhalten sich die DingeDinge in Bezug auf den Begriff Kultur doch etwas anders. Während das Spiel die Summe aller möglichen Spiele und Spieltypen umfasst – vom Maskenspiel bis zum Schach, vom Fußball bis zum Patiencenlegen – variiert der Begriff Kultur in seiner Reichweite beträchtlich: Kultur kann holistisch und allumfassend, Kultur kann aber auch partikulär und exklusiv verstanden werden.

Um den Begriff Kultur9 handhabbar zu machen, reichen also klassische Definitionsversuche, wie sie immer wieder – von der Ethnologie bis zur SemiotikSemiotik – unternommen wurden, ebenso wenig aus wie WittgensteinsWittgenstein, Ludwig logisch pfiffiges Konzept der FamilienähnlichkeitFamilienähnlichkeit. Eine Möglichkeit, diesem Dilemma zu begegnen, besteht darin, aus der Not eine Tugend zu machen und Kulturtheorie zu einer „fröhlichen Wissenschaft“ ohne Methodenzwang zu machen. Anything goes.10 Wen diese Beliebigkeit, die in der Tat interessante empirische Kulturstudien möglich macht, nicht befriedigt, der wird zu einem anderen Verfahren greifen müssen: Er oder sie wird die verschiedenen Bedeutungen von ‚Kultur‘ sondierend erschließen und die verschiedenen Bedeutungen von Kultur sorgfältig unterscheiden, aber auch in ihrem Zusammenhang sehen. Für die konkrete KulturanalyseKulturanalyse kommt es darauf an, dass man weiß, mit welchem Begriff von Kultur man im Augenblick operiert. Mit dem späten WittgensteinWittgenstein, Ludwig und der ordinary language-Bewegung gesprochen, fragen wir danach, wie Menschen – im AlltagAlltag, Alltagskultur, Alltags- wie in der Wissenschaft – den Begriff Kultur verwenden.11

Ganz klein kann Kultur jenen Sektor bezeichnen, den man soziologisch als ein soziales FeldFeld (soziales) oder kulturwissenschaftlich vielleicht als einen symbolischen RaumRaum (symbolischer) wird bezeichnen können. Er umfasst ein Segment, einen mehr oder minder ausdifferenziertenAusdifferenzierung, ausdifferenziert Sektor einer bestimmten GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich, die Welt der Künste mit ihren Veranstaltungen und den ihm entsprechenden Sektor in den MedienMedien, Medien-, -medien, medien- (FeuilletonFeuilleton, Kultursendungen). Dieser Sektor hat seine ganz spezifischen Gesetze und Spielregeln und grenzt sich von anderen Bereichen ab (→ Kap. 5, 9).12 Dieses gesellschaftliche Partialsystem lässt sich erweitern, wenn man den Bereich der PopularkulturPopularkultur und des kommerziellen FilmsFilm als massenkulturellesMasse, Massenkultur, Massenmedien, Massen-, gegen die ‚HochkulturHochkultur‘ gerichtetes subkulturelles System innerhalb dieser ‚KunstKunst, Kunstwerk-Kultur‘ begreift. Zu dieser Kultur gehören die mittlerweile divergierenden literarischen, musikalischen, filmischen und künstlerischen Kulturen. Dabei geht es sowohl um die Produkte (Bücher, CDs, ArtefakteArtefakte) als auch um die Prozesse (InszenierungInszenierung, inszeniert, Produktion, Distribution) von Kultur. Sie ist dadurch charakterisiert, dass sie räumlich, zeitlich und modal festgelegt ist. Deren FunktionFunktion im Hinblick auf IdentitätIdentität und InnovationInnovation, innovativ ist eigens zu bestimmen. Es ist an dieser Stelle unübersehbar, dass die modernenModerne, modern, -moderne Kulturstudien diesen gegenüber anderen Feldern exklusiven Bereich beträchtlich ausgeweitet haben.

 

Ein zweiter Begriff von Kultur ergibt sich, wenn man die verdächtige Neigung des Begriffs Kultur betrachtet, sich in eine Liaison mit anderen Begriffen zu begeben und sich in einem Doppelnamen zu vereinigen: Ich meine solche Begriffe wie politische Kultur, Esskultur, Spielkultur, Weinkultur, Dialogkultur, erotische Kultur. Die Liste ließe sich beinahe beliebig erweitern. Ganz offenkundig handelt es sich hier um einen anderen Begriff von Kultur, den ich als ubiquitärubiquitär bezeichnen würde: Das heißt, es gibt Phänomene in nahezu allen Bereichen der GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich, die man mit dem Phänomen des Kulturellen belegt. Dabei geht es um angelernte Fertigkeiten, Verhaltensweisen, eingeübte Selbstverständlichkeiten, kurz um kulturelle SozialisationSozialisation. Ubiquitär kommt aus dem Lateinischen und meint: überall. Kultur in diesem Sinn wäre nicht mehr nur etwas Exklusives, sondern etwas, das sich überall findet. Eine Parlamentsdebatte, eine Preisverleihung oder ein Staatsbegräbnis haben bestimmte Formen der RepräsentationRepräsentation, sie werden medial vermittelt, sie haben bestimmte RitualeRitual. Aber das macht sie noch lange nicht zu einem KunstwerkKunst, Kunstwerk, dessen symbolische Geltungsymbolisch (allgemein) auf das ihm zugeschriebene Feld begrenzt ist. Mit anderen Worten: Hier bildet die Kultur die formale Seite eines Geschehens, eines Ablaufs, eines Produktes, eines Materials, das selbst nicht Kultur ist, wenigstens nicht im engeren Sinn des Wortes.

Die kulturelle Wende, so lässt sich jetzt schon behaupten, ist dadurch charakterisiert, dass sie zum einen den partikularen Bereich der Kultur im engeren Sinn des Wortes erweitert (etwa um Popularkulturen, FilmFilm, MedienMedien, Medien-, -medien, medien-) und dass sie zum anderen diesem mittleren ubiquitärenubiquitär Bereich von Kultur erhöhtes Augenmerk schenkt.

Die dritte Bedeutung von Kultur erschließt sich, wenn wir uns Redewendungen wie die „Kultur der Griechen“, die „Kultur der Mayas“ oder auch die durch HuntingtonHuntington, Samuel bekannte Formel vom „Kampf der KulturenKampf der Kulturen“ vor Augen halten. Hier wird Kultur – noch immer im Schatten HerdersHerder, Johann G. und VicosVico, Giambattista und damit einer Tradition des 19. Jahrhunderts – als ein umfassendes Ganzes verstanden. Hier ist Kultur der Inbegriff dessen, was Menschen gemacht, hergestellt, erzeugt, erfunden haben, vom Rad bis zur agora, vom Weinbau bis zu Beethovens 9. Symphonie. Als Gegenbegriff bleibt hier nur der Grenzbegriff der NaturNatur als das, was nicht von Menschen gemacht ist.

Kultur leitet sich vom lateinischen Verbum colere pflegen, bearbeiten ab. In diesem Sinn bedeutet Kultur Arbeit an der NaturNatur. Heute wird dieser Gegensatz zuweilen ganz aufgelöst, indem die Natur ebenfalls als KonstruktKonstrukt, Konstruktion des Menschen angesehen wird. Das mag man für spitzfindig halten und bis zu einem gewissen Grad ist es das auch. Aber dass zum Beispiel der menschliche KörperKörper, körperlich nicht bloß ‚Natur‘, sondern auch ‚Kultur‘ darstellt und dass es gar nicht so einfach ist, dessen natürliche und kulturelle Seite voneinander zu scheiden, ist augenfällig.13

Dieser umfassende, holistischeholistisch Begriff von Kultur hat den Nachteil, dass er nur mehr zwei Unterscheidungen kennt: NaturNatur und Kultur. Man kann aber auch Kulturen gegeneinander stellen. Denn Kultur bedeutet immer, dass es mehrere Kulturen gibt, mehrere Sprachen, mehrere Religionen, verschiedene Künste, unterschiedliche Formen von TechnikTechnik, -technik. Kultur ist – auf allen Ebenen – ein Produzent von HeterogenitätHeterogenität, heterogen, VielfaltVielfalt und DifferenzDifferenz. Erst durch diese Differenz wird Kultur als menschlicher Prägefaktor perspektivisch erfassbar. Eine homogeneHomogenität, homogen, statische universale Monokultur, die ohne Vergleich wäre, würde wesentliche Bestimmungen des Kulturellen einbüßen: KontingenzKontingenz, kontingent, ArbitraritätArbitrarität, arbiträr, Produktion von Differenz, Mischung, Vielfalt.

Es gibt eine von HerderHerder, Johann G. initiierte, spezifisch deutsche Tradition, die mit diesem umfassenden, holistischenholistisch Begriff von Kultur operiert und die im Sinne einer MorphologieMorphologie kultureller Gebilde Kulturen vergleicht und miteinander kontrastiert. Sie tendiert dazu, diese Makrokulturen als mehr oder weniger homogeneHomogenität, homogen, d.h. in sich kompakte symbolische WeltenWelten, symbolische zu betrachten, während umgekehrt in den Cultural StudiesCultural Studies und den empirischen Kulturwissenschaften unserer Tage die Tendenz vorhanden ist, angesichts von Phänomenen wie GlobalisierungGlobalisierung, global und gesellschaftlicher AusdifferenzierungAusdifferenzierung, ausdifferenziert gerade das HeterogeneHeterogenität, heterogen großer (nationalerNation, Nationalismus, national und supranationaler) Kulturen zu akzentuieren.

Vereinfacht gesprochen, lassen sich also drei Ebenen von Kultur unterscheiden. Sie sind alle sinnvoll und keine hebt die andere auf. Anstatt des unsinnigen, (weil auch) vergeblichen Versuchs, eine Definition von Kultur fest- bzw. vorzuschreiben, kommt es darauf an, sich klar zu machen, welche Ebene von Kultur gemeint ist, wenn von Kultur die Rede ist. Es versteht sich von selbst, dass die Untersuchung kultureller Phänomene sich höchst selten nur auf einer Ebene abspielt. Das folgende Schema versteht sich als ein Hilfsmittel der Analyse. Wir beginnen mit dem umfassendsten Begriff, den wir zuletzt diskutiert haben, während Kultur II den mittleren, ubiquitärenubiquitär und Kultur III den exklusiven Begriff des Phänomens beschreibt:

 Kultur I: Kultur als umfassendes Ganzes (alles ist Kultur außer der NaturNatur).

 Kultur II: Kultur als Insgesamt symbolischer FormenFormen, symbolische und habitueller PraktikenPraktiken (Kultur ist überall, aber nicht alles).

 Kultur III: Kultur als geschlossenes System (Kultur ist ein beschränkter, mehr oder weniger genau definierter Bereich).

An dieser Stelle ist es vielleicht angebracht darauf zu verweisen, dass der Begriff von Kultur I sich in einem erstaunlichen Verhältnis zum Begriff der ZivilisationZivilisation befindet. Denn es ist ganz evident, dass der Begriff der Kultur in diesem weiten, inklusiven Sinn tendenziell mit jenem Begriff der Zivilisation verschmilzt. Denn auch im Begriff der Zivilisation sind all jene Phänomene mitverstanden, die nicht Kultur im engeren Sinn von Kultur II und Kultur III sind: TechnikTechnik, -technik, Industrie, Zivilgesellschaft, Sitten und Gebräuche, Unterwerfung der NaturNatur, der inneren wie der äußeren. In der Tat wird der Begriff Zivilisation im Englischen und Französischen in diesem Sinn verstanden, und zwar zunächst als Inbegriff der modernenModerne, modern, -moderne (westlichen) Kultur. Wenn Sigmund FreudFreud, Sigmund, der nicht zuletzt ein Sohn der AufklärungAufklärung, aufklärungs- war, in seiner berühmten Abhandlung Das Unbehagen in der Kultur diese als Sublimation, aber auch als Einschränkung menschlicher Libido analysierte und beschrieb, dann verwendete er den Begriff der Kultur im Sinne von Zivilisation. Die englischen und französischen Übersetzer haben dem insofern Rechnung getragen, als sie das deutsche Wort „Kultur“ mit civilisation übersetzt haben. Demgegenüber gibt es eine spezifisch deutsche Tradition, in der Zivilisation und Kultur ausdrücklich und beinahe polemisch unterschieden werden (→ Kap. 2).14 Im Gefolge von KlassikKlassik, IdealismusIdealismus (philosophisch) und RomantikRomantik wird Kultur in einem inneren Sinn mit Persönlichkeit und BildungBildung gleichgesetzt, während die Zivilisation ‚nur‘ den äußeren technischen Aspekt meint. Diese Unterscheidung wird natürlich – Produktion der DifferenzDifferenz – gegen die AndereAndere(r), der, die, dasn gewendet: Die Anderen, das sind die Franzosen oder auch die Engländer, haben ‚nur‘ Zivilisation, aber die Deutschen haben zudem ‚Kultur‘. Norbert EliasElias, Norbert hat diesen Unterschied in seinem bahnbrechenden Werk Der Prozess der Zivilisation wie folgt festgehalten:

Der Begriff ‚ZivilisationZivilisation‘ bezieht sich auf sehr verschiedene Fakten: auf den Stand der TechnikTechnik, -technik, auf die Art der Manieren, auf die Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse, auf religiöseReligion, religiös Ideen und Gebräuche. Er kann sich auf die Art des Wohnens oder des ZusammenlebensLeben, Lebens-, -leben von Mann und Frau, auf die Form der gerichtlichen Bestrafung oder der Zubereitung des Essens beziehen, genau besehen gibt es beinahe nichts, was sich nicht in einer ‚zivilisierten‘ und in einer ‚unzivilisierten‘ Form tun ließe […]

Aber ‚ZivilisationZivilisation‘ bedeutet verschiedenen NationenNation, Nationalismus, national des Abendlandes nicht das gleiche. Vor allem zwischen dem englischen und französischen Gebrauch dieses Wortes auf der einen, dem deutschen Gebrauch auf der anderen Seite besteht ein großer Unterschied. Dort faßt der Begriff den Stolz auf die Bedeutung der eigenen Nation auf den FortschrittFortschritt des Abendlandes und der Menschheit in einem Ausdruck zusammen. Hier, im deutschen Sprachgebrauch, bedeutet ‚Zivilisation‘ wohl etwas ganz Nützliches, aber doch nur einen Wert zweiten Ranges, nämlich etwas, das nur die Außenseite des Menschen, nur die Oberfläche des menschlichen Daseins umfasst. Und das Wort, durch das man den Stolz auf die eigene Leistung und das eigene Wesen in erster Linie zum Ausdruck bringt, heißt ‚Kultur‘.15

Eine direkte Bestätigung der Beobachtung EliasElias, Norbert‘ lässt sich in einem der folgenreichsten kulturphilosophischen Werke deutscher Zunge finden, dessen Einfluss sich bei HuntingtonHuntington, Samuel16 ebenso nachweisen lässt wie in der spekulativen Kulturphilosophie eines Peter SloterdijkSloterdijk, Peter.17 Die Rede ist von Oswald SpenglerSpengler, Oswald. In seinem berühmten Werk Der Untergang des Abendlandes spitzt SpenglerSpengler, Oswald, der Schüler GoethesGoethe, Johann W., HerdersHerder, Johann G. (→ Kap. 4) und NietzschesNietzsche, Friedrich, die DifferenzDifferenz von Kultur und ZivilisationZivilisation zu, wenn er Letztere als eine Form kulturellen NiedergangsNiedergang beschreibt:

Der Untergang des Abendlandes […] bedeutet nichts Geringeres als das Problem der ZivilisationZivilisation. […] Die Zivilisation ist das unausweichliche Schicksal einer Kultur. […] Zivilisationen sind die äußersten und künstlichsten Zustände, deren eine höhere Art von Menschen fähig ist.18

SpenglerSpengler, Oswald schöpft den etymologischen Gegensatz voll aus, indem er an die städtische Assoziation des Wortes „ZivilisationZivilisation“ und an die rurale, bäuerliche Konnotation des Wortes „Kultur“ erinnert. So wird der Gegensatz von innerer BildungBildung vs. äußerer TechnikTechnik, -technik durch jenen von Land und Stadt komplementiert.

Der Begriff Kultur ist also nicht so unschuldig, wie er tut. Dass die Kultur, auf die die gebildeten Deutschen so stolz waren, den „ZivilisationsbruchZivilisationsbruch“ der Shoah nicht verhindern konnte, hat diesen unbeschwerten kulturellen Selbststolz einigermaßen gründlich untergraben. Hinzu kommt, dass der Begriff der ZivilisationZivilisation sehr viel stärker auf den prozessualen Aspekt von Kultur verweist als der deutsche Begriff von Kultur I, der sich wesentlich auf die Produkte und Spitzenleistungen konzentriert. Diese Ähnlichkeit zwischen dem traditionellen Begriff der Zivilisation und modernenModerne, modern, -moderne Kulturkonzepten hat diesen freilich nicht akademisch reputationsfähig gemacht, vermutlich deswegen, weil die Zivilisation sich nicht mit Kultur II und Kultur III umstandslos verbinden lässt. Es gibt keine Pop-Zivilisation und auch keine Weinzivilisation.

 

Immerhin macht dieser Exkurs eines sinnfällig: dass nämlich beide Begriffe, Kultur und ZivilisationZivilisation, einen höchst normativennormativ Charakter haben. Sie teilen die Menschheit – wenigstens aus der Perspektive jener, die für sich eine besonders ‚hohe‘ Kultur respektive Zivilisation reklamieren – in zwei KlassenKlasse von Menschen: in solche, die Kultur haben, die also kultiviert sind, und in solche, die unkultiviert sind bzw. ‚nur‘ Zivilisation haben. Aber auch der Begriff der Zivilisation wirkt ähnlich diskriminierend, wenn er Zivilisierte und Unzivilisierte als zwei Gruppen von Menschen unterscheidet.

Kultur ist also keineswegs arg- und harmlos, sondern – und das wusste auch schon die Kritische TheorieKritische Theorie – im höchsten Maß konstitutiv für die Etablierung von DiskriminierungDiskriminierung und HerrschaftHerrschaft. Oder um bei der etymologischen Bedeutung des Wortes zu bleiben: Diskriminierung heißt zunächst Unterscheidung, aber diese Unterscheidung impliziert im nächsten Schritt, was wir als Diskriminierung bezeichnen. Kulturen auf allen Ebenen ist es inhärent, dass sie Rangordnungen etablieren. Das hängt damit zusammen, dass es sich bei Kultur um keinen rein deskriptiven oder analytischen, sondern um einen im höchsten Grad normativennormativ Begriff handelt. Wertung und Abwertung des/der AnderenAndere(r), der, die, das bedingen einander. Wer weniger kultiviert ist, der kann nur geringe Ansprüche geltend machen. In Gestalt des Rückständigen, Wilden, Barbaren wird er zum ObjektObjekt der Zivilisierung bzw. Kultivierung. Die Formel von der Bürde des weißen Mannes, die der englische Schriftsteller und Indien-Reisende Rudyard Kipling zum geflügelten Wort gemacht hat, gehört ebenso zu dieser selbstverständlich eingenommenen Herrenpose, wie die Äußerung des damaligen Premierministers Tony Blair vor dem 2. Irakkrieg, man dürfe den Irakern nicht die Errungenschaften modernerModerne, modern, -moderne westlicher DemokratieDemokratie, demokratisch vorenthalten.

Nebenbei bemerkt, haben der KolonialismusKolonialismus, kolonialisiert und die Kultur indem schon erwähnten lateinischen Wort colere einen gemeinsamen Bezugspunkt.19 Indem also Kultur Abstände markiert, Differenzen setzt, Unterscheidungen trifft, wird Kultur zu einem Phänomen, das gleichsam als ÜberbauÜberbau nicht nur MachtMacht und HerrschaftHerrschaft legitimiert, sondern in das diese darüber hinaus auch eingeschrieben sind. Sie verbinden sich mit anderen Formen von MachtMacht: ökonomischer, sozialer, politischer.

Eine kritische Aufgabe im Bereich von KulturanalyseKulturanalyse und Kulturwissenschaft muss also darin bestehen, diese verstohlenen Formen der MachtMacht in der Kultur ausfindig und transparent zu machen. Insofern die englischen Cultural StudiesCultural Studies – etwa im Bereich der postkolonialenPostkolonialismus, postkolonial Studien (Postcolonial StudiesPostcolonial Studies) – sich selbstkritisch unter Berücksichtigung des historischen Kontexts mit der kolonialen Vergangenheit auseinandersetzen, in der die narrative MatrixMatrix von FortschrittFortschritt und ZivilisationZivilisation eine zentrale Rolle spielt, ist der umfassende Kulturbegriff (Kultur I) auch in diesem Bereich unverzichtbar und unhintergehbar, wenn auch vornehmlich als kritisch zu hinterfragender, dekonstruierbarer Gegenbegriff; für die eigene Analyse viel entscheidender sind freilich die Weitungen, die der klassische Kulturbegriff in den diversen kulturwissenschaftlichen Ausprägungen erfahren hat. Diese betreffen vor allem die Kultur III, die KunstKunst, Kunstwerk-Kultur und auch jene ubiquitärenubiquitär symbolischen Formensymbolisch (allgemein)Formen, symbolische (Kultur II).

Es ist nicht ganz ohne IronieIronie, dass es ein politisch konservativer Dichter war, der den neo- bzw. postmarxistischen Proponenten der frühen Cultural StudiesCultural Studies und dem Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) die Stichworte geliefert hat: Thomas Stearns EliotEliot, Thomas S. (1882–1965). Als Vertreter des New Criticism stand der einflussreiche Kritiker, Essayist, Dramatiker und Lyriker T.S. EliotEliot, Thomas S. naturgemäß auf der anderen Seite der intellektuellenIntellektueller, intellektuell und akademischen Barrikade. Der Diskursbegründer der modernenModerne, modern, -moderne Kulturtheorie – neben dem Kommunisten Antonio GramsciGramsci, Antonio (→ Kap. 12) – war ein anglikanischer Tory.

EliotEliot, Thomas S. ist außerhalb des anglistischen Milieus nur mehr wenig bekannt, vielleicht am ehesten noch durch sein Drama Mord im Dom (Murder in the Cathedral, 1935), einem Stück, das im Milieu des renouveau catholique der Nachkriegszeit zum Klassiker avancierte. EliotEliot, Thomas S., in CanettisCanetti, Elias nachgelassenen Londoner Erinnerungen als „abgrundschlecht“ verunglimpft,20 war ein doppelter Konvertit: ein Amerikaner, der zu einem konservativenkonservativ Europäer und Engländer mutiert war. Er war eine Schlüsselfigur des literarischen und intellektuellenIntellektueller, intellektuell LebensLeben, Lebens-, -leben seiner Wahlheimat. Das Entstehen seines Buches Notes Towards the Definition of Culture, das so wichtige Theoretiker wie Raymond WilliamsWilliams, Raymond beeinflussen sollte, geht auf drei in deutscher SpracheSprache gehaltene Rundfunkvorträge über die Einheit der europäischen Kultur zurück. Ihr historischer KontextKontext war die Rückbesinnung auf die abendländischAbendland, abendländisch-europäischen Werte nach der Katastrophe des NationalsozialismusNationalsozialismus. Auch im KulturkonservativismusKulturkonservativismus EliotsEliot, Thomas S. schlummert der Gegensatz von Kultur und ZivilisationZivilisation, so etwa wenn EliotEliot, Thomas S., hier in seiner FeindbildlichkeitFeindbild(lichkeit) ganz ähnlich wie SpenglerSpengler, Oswald, im Hinblick auf die moderneModerne, modern, -moderne Motorisierung „von den barbarische[n] Nomaden […] in ihren vollmechanischen Wohnwagen“ spricht.21

EliotEliot, Thomas S. unterscheidet drei Ebenen von ‚Kultur‘:

 die Kultur des Einzelnen

 die Kultur einer Gruppe

 die Kultur einer gesamten GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich

Die Unterscheidung EliotsEliot, Thomas S. ist nicht identisch mit der oben getroffenen. Sie ist eine primär soziologische. Dabei steht die Interdependenz zwischen IndividuumIndividuum, Gruppe und GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich im Mittelpunkt. EliotEliot, Thomas S. geht davon aus, dass die jeweils kleinere Kultur von der größeren abhängig ist, also die Kultur des Einzelnen von der Kultur der Gruppe, diese wiederum von der Kultur der Gesellschaft:

It is part of my thesis that the culture of the individual is dependent upon the culture of a group or class, and that the culture of the group or class is dependent upon the culture of the whole society to which that group or class belongs.22

Immerhin nimmt EliotEliot, Thomas S. an, dass es einen mehr oder minder homogenenHomogenität, homogen kulturellen Rahmen gibt, in den die Kultur der Gruppe und, über sie vermittelt, die Kultur des IndividuumsIndividuum eingebunden sind.

Auf der anderen Seite besitzt die Kultur einer Gruppe eine definitive Bedeutung. Das gleiche gilt für die Kultur des IndividuumsIndividuum („the self-cultivation of the individual“)23, die EliotEliot, Thomas S. positiv gegen die sich damals entwickelnde neue MassenkulturMasse, Massenkultur, Massenmedien, Massen- abhebt. Diese Massenkultur wird als eine Kulturform gesehen, in der die Selbst-Kultivierung des Einzelnen unterbleibt. In dem bis heute wieder und wieder aufgelegten BuchBuch (als Medium) liefert EliotEliot, Thomas S. mehrere Definitionen von Kultur. Die erste ist normativnormativ und zielt auf die FunktionFunktion der Sinngebung: