Kulturtheorie

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Kulturtheoretisch von Belang ist, dass jene FunktionenFunktion von Kultur, die gemeinhin als primär gelten – symbolische Partizipation an der Welt, Bearbeitung von NaturNatur (→ Kap. 1) – auf merkwürdige Weise in die zweite Reihe rücken. Das liegt an FreudsFreud, Sigmund spezifischem Fokus: Die Welt des Menschen, die Kultur, wird aus dem Blickwinkel des libidinösen Ich betrachtet. Wendet man das erzähltheoretische Werkzeug, wie es Gerard Genette und Mieke BalBal, Mieke entwickelt haben (→ Kap. 13), auf FreudsFreud, Sigmund Schrift an, so wählt der Autor, der mit der Stimme eines kulturwissenschaftlichen Erzählers spricht, eine überaus originelle FokalisierungFokalisierung: Erzählt wird die GeschichteGeschichte nämlich aus der Perspektive des libidinösen Ich, dessen Irrfahrten die Abhandlung wiedergibt. Deren unsicherer, ungeschützter Hafen ist die Kultur.

Aus dieser Perspektive entstehen KunstKunst, Kunstwerk und Dichtung nicht aus dem Wunsch, der Welt einen gültigen Sinn zu verleihen, sondern aus dem Drang eines Lustprinzips, das sich unter widrigen Umständen seinen Weg bahnt. Ganz Ähnliches gilt für die TechnikTechnik, -technik, das Engagement für die ZivilisationZivilisation. Auch hier tritt das Argument, dass es sich um eine kollektive Veränderung natürlicher Gegebenheiten und – damit verbunden – der Verbesserung menschlicher LebensbedingungenLeben, Lebens-, -leben handelt (so die geläufige Selbstinterpretation der Technik in der modernen westlichen Kultur), hinter die Vorstellung zurück, Technik entstehe dadurch, dass das Lustprinzip sich angesichts des Elends dieser Welt gegen Frustration und Enttäuschung abhärtet. Kultur- und geistesgeschichtlich betrachtet sind auch in diesem Skeptizismus heroisch-männliche Elemente, wie sie wohl für FreudsFreud, Sigmund Epoche charakteristisch waren, unübersehbar: der GlaubeGlaube an Technik und Wissenschaft, die vormoderneModerne, modern, -moderne Vorstellung von Kunst und Literatur als schönen Entschädigungen für das Grau des AlltagsAlltag, Alltagskultur, Alltags-.

Beinahe heldisch kapituliert und resigniert der FreudFreud, Sigmund’sche Mensch vor der Unhintergehbarkeit einer widrigen Realität. Die List dieser Kapitulation – FreudsFreud, Sigmund List der Vernunft29 – besteht darin, dass der moderneModerne, modern, -moderne Kulturmensch produktiv resigniert und die Kapitulation zu seinem Nutzen wendet. Kultur ist hier nicht so sehr ein schöner Luxus, sondern die Frucht des dramatischen, todgefährlichen Unternehmens, auf der Welt zu sein. Es zeugt von heroischer Nüchternheit, sich dem Realitätsprinzip zu stellen und den Zwiespalt von Lustprinzip (LacanLacan, Jacques wird später mit Rückgriff auf HegelHegel, Georg W.F. vom BegehrenBegehren sprechen) und feindlicher Umwelt anzuerkennen. Dieser Zwiespalt wird in und durch Kultur real und symbolisch bearbeitet und geregelt. Dabei fungieren die engeren Bereiche von ‚Kultur‘ als neurotische Reaktionsbildungen, die den tiefen Abgrund, der sich zwischen dem BegehrenBegehren und dem Begehrten auftut, abmildern.

Aber so versöhnlich endet FreudsFreud, Sigmund Kulturtheorie mitnichten. FreudFreud, Sigmund hat seine Schrift mit einem Umweg begonnen. Nachdem er eine erste Bestimmung der Kultur als eines existenziellen Hilfsprogramms vorgestellt hat, forciert er zunächst nicht seine theoretischen Bemühungen um einen stringenten Begriff von Kultur, sondern wählt abermals einen Umweg. Anstatt direkt auf sein Ziel, die Entfaltung einer psychoanalytischen Theorie von Kultur, zuzusteuern, wendet er sich der Frage zu, warum es in der modernenModerne, modern, -moderne Welt eine anhaltende Feindschaft gegen die Kultur gibt: Unbehagen an der Kultur in der Kultur. FreudFreud, Sigmund diskutiert das Thema der Kultur nunmehr nicht primär aus eigener Perspektive, sondern aus der Fremdperspektive, aus dem Blickwinkel der Kritiker. Dabei wird schnell deutlich, dass es sich nicht um ‚Kultur‘ schlechthin handelt, sondern um die okzidentale Kultur. Diese Kritik hat – kulturgeschichtlich besehen – einen unverkennbar deutschen Einschlag. Dieser kulturkritische DiskursDiskurs reicht von einer intensiven Rousseau-Rezeption, über HerderHerder, Johann G. und die RomantikRomantik bis in die Gegenwart FreudsFreud, Sigmund: LebensreformbewegungLeben, Lebens-, -leben, Oswald SpenglersSpengler, Oswald und Ludwig KlagesKlages¸ Ludwig‘ Abgesänge auf die westlich-abendländischeAbendland, abendländisch Kultur. Diese Kulturkritik erlangt schon vor dem Ersten Weltkrieg eine gewisse kulturelle HegemonieHegemonie oder – um mit FoucaultFoucault, Michel zu sprechen – Diskursmacht, sie wird tonangebend und setzt – links wie rechts – revolutionäre meta-politische Suchbewegungen in Gang, in denen sich Konzepte von kultureller und gesellschaftspolitischer Revolution überkreuzen. Mit Diskursmacht (→ Kap. 8; Hegemonie → Kap. 12) ist nun nicht gemeint, dass eine ganze Epoche mit dieser radikalen Kulturkritik einverstanden ist, sondern vielmehr der Umstand benannt, dass sie so sprachmächtig und auch – im doppelten Sinn des Wortes – sprachgewaltig ist, dass man sich mit ihr auseinandersetzen muss. Selbstredend gibt es in diesem Zusammenhang im psychoanalytischen Lager solche radikalen Bestrebungen, Wilhelm ReichReich, Wilhelm und die Sexpol-Bewegung der 1920er Jahre sind die bekanntesten Beispiele für diesen anti-ödipalen Effekt.

So besehen, liegt es nahe, sich mit dieser Kulturkritik eingehend auseinanderzusetzen. Symptomatisch ist jedoch wiederum die Art und Weise, wie FreudFreud, Sigmund das tut. Er widerlegt diese Kritik nicht etwa theoretisch, sondern fasst ihre Pointe im Sinne einer Diagnose zusammen:

Die Behauptung […] lautet, einen großen Teil der Schuld an unserem Elend trage unsere sogenannte Kultur; wir wären viel glücklicher, wenn wir sie aufgeben und in primitive Verhältnisse zurückfinden würden. Ich heiße sie erstaunlich, weil – wie immer man den Begriff Kultur bestimmen mag – es doch feststeht, dass alles, womit wir uns gegen die Bedrohungen aus den Quellen des Leidens zu schützen versuchen, eben der nämlichen Kultur zugehört.30

FreudFreud, Sigmund operiert auch weiterhin nicht als theoretischer Opponent, sondern als Kulturhistoriker, der diese erstaunliche Feindschaft gegenüber der Kultur historisch verortet:

 Die asketische Revolte: „Sieg des Christentums über die heidnischen Religionen“.

 Die kulturalistisch-anarchistische Revolte: die Idee des edlen Wilden im Gefolge der Kulturbegegnung mit der Neuen Welt.

 Die psychoanalytische Revolte in der ModerneModerne, modern, -moderne: „Man fand, dass der Mensch neurotisch wird […].“31

Die erste Revolte, die sich gegen das Realitätsprinzip und gegen den Kompromiss wendet, wie ihn Kultur generell darstellt, hat unzweifelhaft asketischen Charakter. Die zweite Revolte lässt undurchschaute (illusionäre) Wunsch- und Gegenwelten entstehen, während die dritte sich im IndividuumIndividuum selbst vollzieht, als ein Protest der Libido gegen die Hilfskonstruktionen der Kultur, ein Protest, der individuellindividuell wie kollektiv neurotische Störungen hervorruft.

Auch wenn FreudFreud, Sigmund diese Revolte nicht teilt – das gilt insbesondere für die ersten beiden Versionen –, nimmt er dieses Unbehagen ernst. Er greift es als einen Befund auf, der durch kein Gegenargument aus der Welt geschaffen werden kann. Insbesondere das zeitgenössische Unbehagen an der Kultur sieht er im Zusammenhang mit einer nachvollziehbaren und verständlichen Enttäuschung darüber, dass die moralische und gesellschaftlicheGesellschaft, gesellschaftlich Entwicklung mit dem technischen FortschrittFortschritt nicht Schritt hält.

FreudsFreud, Sigmund Begriff von Kultur, der NaturNatur und Kultur, Primitivität und Sublimierung kontrastiert, ist traditionell und eurozentrischEurozentrismus, eurozentrisch; er konstituiert sich durch binäre Oppositionen. Er ist umfassend und schließt den Bereich der GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich mit ein. FreudFreud, Sigmund bezieht sich nicht auf den mit BildungBildung aufgeladenen Kulturbegriff, wie ihn IdealismusIdealismus (philosophisch), KlassikKlassik und RomantikRomantik in Deutschland mit jeweils unterschiedlicher Färbung programmatisch aufgefasst haben. Die fast absolute Positivität eines solchen Begriffs von Kultur rührt daher, dass diese als der Ermöglichungsgrund der freien Persönlichkeit gesehen wird. Demgegenüber bezieht sich FreudsFreud, Sigmund nüchterne Auffassung von Kultur, die diese als kollektive Selbsteinschränkung begreift, sehr viel mehr auf den Zivilisationsbegriff angelsächsischer Provenienz, wie die folgende Definition von Kultur sinnfällig macht:

‚Kultur‘ bezeichnet „die ganze Summe der Leistungen und Einrichtungen […], in denen sich unser LebenLeben, Lebens-, -leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz des Menschen gegen die NaturNatur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander.“32

FreudFreud, Sigmund operiert also, wie beinahe alle älteren Konzepte von Kultur, mit einem umfassenden Begriff: Kultur = ZivilisationZivilisation + GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich + KunstKunst, Kunstwerk. Neu und folgenreich ist der Einschluss der inneren psychischen Konditionierung des Menschen durch Kultur. Noch BourdieusBourdieu, Pierre Kulturtheorie (→ Kap. 9) verdankt dieser Einsicht in den Zwangs- und Disziplinierungscharakter von Kultur unendlich viel.

Dass sich FreudsFreud, Sigmund Verständnis von Kultur nicht auf den emphatisch-idealistischen Begriff von Kultur stützt, sondern auf englische und französische Vorbilder, zeigen auch die literarischen Referenzen: Jonathan SwiftsSwift, Jonathan Gullivers Reisen (1726) und François RabelaisRabelais, François‘ Gargantua und Pantagruel (1558). Die Protagonisten dieser Romane sind Repräsentanten einer ungehemmten Libido. Kein Zufall, dass FreudFreud, Sigmund sich auf jene Episode aus Gullivers Reisen bezieht, wo Gulliver als Riese mit seinem ungebremsten Urinstrahl die Feuersbrunst im Palast seiner winzigen Gastgeber löscht. Zwar rettet Gulliver durch seine Tat den Palast, aber sein Tun bleibt anstößig. Was an diesem Triumph der Libido Anstoß nimmt, ist die ZivilisationZivilisation.33

 

Wenn Kultur also nicht so sehr den Freiraum von persönlicher Freiheit, sondern sehr viel eher den RaumRaum ihrer Beschränkung darstellt, dann werden die wiederum kulturellen und psychologischen Motive dieser Feindschaft zumindest nachvollziehbar. FreudFreud, Sigmund benennt insgesamt drei Ursachen:

 Kultur bedeutet Verzicht auf Glücksmaximierung (wie sie durch literarische Figuren wie Pantagruel und Gulliver sinnfällig wird).

 Kultur bedeutet Beschneidung der individuellenindividuell Freiheit.

 Kultur bedeutet HerrschaftHerrschaft und Beherrschung.

Wir kommen damit zur zweiten Zwischenbilanz unserer Neulektüre (reécriture) von FreudsFreud, Sigmund durch und durch ambivalenter Schrift. Schien es auf den ersten Blick so, dass die KonstruktionenKonstrukt, Konstruktion der Kultur tragfähig sind, so macht der Verweis auf das Unbehagen in der Kultur in Gestalt periodisch wiederkehrender Kulturkritik deren Fragilität sichtbar. Es handelt sich im Falle kultureller Erscheinungen um Provisorien, eben um Hilfskonstruktionen. Diese sind zwar unabdingbar zur Überbrückung des tragischen Grundkonflikts, der aller Kulturbildung zugrunde liegt, aber sie bürden dem Menschen zu viele Verzichtsleistungen auf, die ihm unzumutbar erscheinen. Die PsychoanalysePsychoanalyse etabliert sich als Kulturtheorie, indem sie dieses Unbehagen nicht widerlegt sondern analysiert, und dabei auch ihre neurotischen Symptome ins Blickfeld rückt. In dieser Version wird die andere Seite unserer ZivilisationZivilisation sichtbar, die Gegenstand einer Kulturkritik ist, die ohne utopischen Ausweg auskommt (vgl. die Analysen in den frühen Arbeiten Michel FoucaultsFoucault, Michel → Kap. 8).

Der von FreudFreud, Sigmund nicht beschriebene, aber angedeutete Kulturations- bzw. Zivilisationsprozess hat einen doppelten Aspekt:

 einen technischen (Werkzeuge, Wohnstätten, Zähmung des Feuers),

 einen auf den Menschen bezogenen (Vervollkommnung der menschlichen Organe).

Der Mensch wird zum sich selbst bezähmenden Prothesengott. Die Kulturkritik lässt sich auch so formulieren, „dass der heutige Mensch sich in seiner Gottähnlichkeit nicht glücklich fühlt.“34

Kultur bedeutet auf den Ebenen I (Kultur als Insgesamt) und II (Kultur als LebensformLeben, Lebens-, -leben):

 Herstellung von OrdnungOrdnung, ordnungs- (Regelmäßigkeit),

 Herstellung von Reinlichkeit (Hygiene),

 Herstellung von Schönheit.

Damit gehen das Entstehen der Künste, die Organisation des Politischen und die Konditionierung der Menschen (etwa in Familie und SchuleSchule) einher:

 Pflege von künstlerischen und intellektuellenIntellektueller, intellektuell Leistungen (Kultur III),

 Regelung von sozialen Beziehungen (Schaffung von Gemeinschaft),

 Einschränkung von Freiheit und Individualismus,

 Bearbeitung des Menschen.

Den nachhaltigen Eingriffen in das InnenlebenLeben, Lebens-, -leben der Menschen steht ein Zugewinn an Sicherheit gegenüber, der sekundäre Möglichkeiten eröffnet. Kultur bedeutet ein System von Selbst- und Fremdregulation, von (Selbst-)Beherrschung und HerrschaftHerrschaft. Wenn FreudsFreud, Sigmund Theorie der Kultur als ambivalent bezeichnet wurde, dann wegen ihres unbestechlichen Sinns für eine Unentschiedenheit, die weniger der Person des Autors und seinem Temperament geschuldet ist, sondern vielmehr im untersuchten Phänomen selbst ihren tieferen Grund hat. Es geht nicht um die Abwägung der positiven und der negativen Seiten, sondern darum, dass beide untrennbar miteinander verbunden sind. Von FreudsFreud, Sigmund Schrift aus lässt sich Norbert EliasElias, Norbert‘ an Max WeberWeber, Max geschulte positive ErzählungErzählung(en) der neuzeitlichen ZivilisationZivilisation ebenso nachvollziehen wie Michel FoucaultsFoucault, Michel durch und durch polemische Interpretation (→ Kap. 8).

In seiner Kulturtheorie unterscheidet FreudFreud, Sigmund Formen der Niederhaltung des individuellenindividuell Begehrens:

 Umformung, Kanalisierung, Transformation (z.B. der frühkindlichen Analerotik in soziale Tugenden wie Sparsamkeit, OrdnungssinnOrdnung, ordnungs- und Reinlichkeit),

 Verschiebung (Triebsublimierung durch Wissenschaft, KunstKunst, Kunstwerk und IdeologienIdeologie),

 Triebverzicht, direkte Repression (Unterdrückung und Verdrängung).

Diese Formen der Konditionierung des IndividuumsIndividuum sind unabdingbar für die Produktion der für Kultur konstitutiven Momente: die Umformung für die Herstellung von Hygiene und OrdnungOrdnung, ordnungs-, die Verschiebung und Sublimierung für die Erzeugung des Schönen, die Unterdrückung für die Durchsetzung von Ordnung.

Spätestens an dieser Stelle wird die doppelte Position der PsychoanalysePsychoanalyse deutlich: Sie fungiert im Text als eine exemplarisch vorgeführte Kulturtheorie, aber sie ist zugleich auch ein SymptomSymptom, symptomatisch des Unbehagens an einer Form von Unterdrückung, die die Menschen neurotisch macht. Insofern ist die PsychoanalysePsychoanalyse als Kulturtheorie ein Bestandteil jener, die sie durch ihre radikale Diagnose selbst verändert. Der Sprecher des folgenden Satzes unterscheidet sich deshalb durchaus von dem vorsichtig-skeptisch abwägenden, dem wir über weite Teile des Textes begegnet sind. Über die Kultur seiner ZeitZeit, die HomosexualitätHomosexualität, homosexuell, vorehelichen und außergenitalen GeschlechtsverkehrGeschlecht (Gender), Geschlecht-, ächtet bzw. strafrechtlich verfolgt, urteilt der Text unmissverständlich:

Dabei benimmt sich die Kultur gegen die SexualitätSexualität wie ein Volksstamm oder eine Schicht der Bevölkerung, die eine andere ihrer Ausbeutung unterworfen hat. Die Angst vor dem Aufstand der Unterdrückten treibt zu strengen Vorsichtsmaßregeln.35

Kultur ist im Hinblick auf die SexualitätSexualität des Menschen herrschaftsförmig: Der Zusammenhang, den FreudFreud, Sigmund herstellt, ist höchst aufschlussreich, vergleicht FreudFreud, Sigmund doch hier die Unterdrückung der Sexualität einerseits mit der Klassenherrschaft und andererseits mit der kolonialen Unterdrückung. Das ist mit Blick auf die Entstehungszeit der Schrift nicht weiter verwunderlich. FreudFreud, Sigmund ist Zeuge heftigster Klassenauseinandersetzungen und Massenaufmärsche. Zugleich aber ist die Welt anno 1929/30 noch vollständig von der englischen und französischen Kolonialherrschaft bestimmt.

Aber dieser Vergleich hat eine weitere Konnotation, die FreudFreud, Sigmund womöglich entgangen sein dürfte. Im interkulturellenInterkulturalität, interkulturell Konflikt und in der kollektiven Phantasie anderer ‚primitiver‘ Kulturen, die man zu ihrem eigenen Vorteil unterdrückt, spielt SexualitätSexualität eine enorme Rolle: Die eigene Kultur wird als zivilisiert empfunden, weil sie Sexualität dadurch zu beherrschen trachtet, dass sich das einzelne Mitglied der Kultur selbst beherrscht. Diese Selbstbeherrschung gilt als Ausweis von Zivilisiertheit, die gegenüber den anderen kolonialisiertenKolonialismus, kolonialisiert Kulturen hervorgehoben wird und die einen normativennormativ Abstand setzt. Diejenigen, die sich und ihre Sexualität nicht beherrschen können, sind nach dieser Selbstinterpretation der ‚höheren‘ Kultur mit Fug und Recht beherrschte Subjekte, eben weil sie sich selbst nicht beherrschen können. Im traditionellen Narrativ von ZivilisationZivilisation und FortschrittFortschritt (→ Kap. 13) spielt der Stolz auf die offiziell demonstrierte (de facto freilich nie durchgehaltene und durchhaltbare) Sexualbeherrschung eine prominente Rolle.

Die andere Kultur wird vornehmlich, abschätzig oder lüstern, als eine solche – positiv wie negativ – imaginiert, die die SexualitätSexualität nicht unter Kontrolle hält und die weniger rational und zivilisiert ist. Während der Mann der primitiven Kultur als sexuellSexuelle, das, sexuell übermächtig imaginiert wird, gilt die fremde wilde Frau als Ausbund der Sinnlichkeit, was sie von der sexuellen Keuschheit der ‚eigenen‘ Frauen abhebt. Solche DiskriminierungenDiskriminierung im doppelten Sinn des Wortes beziehen sich nicht nur auf die außereuropäischen, sondern auch auf die innereuropäischen Kulturen z.B. im slawischen RaumRaum.36 FreudsFreud, Sigmund Haltung gegenüber der Kultur und der Kulturkritik ist ambivalent. Während er die Kultur, eben jenes Unbehagen in der Kultur neutral und distanziert beschrieb, konstatiert er nunmehr – im Gestus des Therapeuten: „Das SexuallebenLeben, Lebens-, -leben der Kulturmenschen […] ist schwer geschädigt[.]“37 FreudFreud, Sigmund benennt die charakteristischen Gebote des Sexuallebens in seiner Epoche:

 Verbot des Inzests,

 geregelte Partnerwahl, Verbot und Einschränkung der Promiskuität,

 Verpönung der kindlichen SexualitätSexualität,

 Tabuisierung der HomosexualitätHomosexualität, homosexuell,

 Verpönung der außergenitalen Befriedigung,

 Monogamie,

 Fokussierung der SexualitätSexualität auf die Reproduktion.

FreudFreud, Sigmund erwähnt hingegen nicht – und das ist einigermaßen erstaunlich und vom FeminismusFeminismus der 1970er Jahre zu Recht kritisiert worden – die Unterdrückung der Frau und ihre Verbannung aus der ‚Kultur‘. Das hat womöglich damit zu tun, dass in FreudsFreud, Sigmund Kulturtheorie nicht nur der avancierte psychoanalytische Diagnostiker, sondern auch der Zeitgenosse mit seinen typischen MentalitätenMentalität(en) und Habitualisierungen zu Wort kommt.

Das zeigt sich nicht zuletzt an seinem BildBild der Familie, die das private Spiegelbild der Kultur darstellt. FreudFreud, Sigmund begreift sie – wie die Kultur selbst – als ein Kompromissprodukt, eine Hilfskonstruktion aus Eros und ananke.

Auf der Ebene der Familie reproduziert und wiederholt sich der krasse Gegensatz, den FreudFreud, Sigmund schon zuvor ganz generell festgemacht hat, jener zwischen dem libidinösen Ich und einer ihm feindlichen Realität, die sich nicht ohne Strafe ignorieren lässt. Im innerfamiliären Drama konkretisiert sich gleichsam der Konflikt zwischen IndividuumIndividuum und GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich.

Die Herstellung gemeinschaftlicher Beziehungen zwischen den Menschen impliziert – so die Argumentation FreudsFreud, Sigmund – eine Schwächung der sexuellenSexuelle, das, sexuell Bande zwischen zwei Individuen. Die beiden Ansprüche stehen strukturellStruktur, strukturiert, strukturell im Gegensatz zueinander: hier die ausschließliche Beziehung zweier Menschen, die sich womöglich gegen die Außenwelt abschirmen, dort die Kultur als „Arbeitsgemeinschaft“, die stets eines Dritten bedarf. FreudFreud, Sigmund konstatiert,

dass die sexuelleSexuelle, das, sexuell Liebe ein Verhältnis zwischen zwei Personen ist, bei dem ein Dritter nur überflüssig und störend sein kann, während die Kultur auf Beziehungen unter einer größeren Menschenanzahl ruht.38

FreudFreud, Sigmund, der die dramatische Akzentuierung liebt, geht davon aus, dass die „Kulturgesellschaft“ daher beständig vom Verfall bedroht ist und zwar wegen der MachtMacht des Lustprinzips. Intimität und Liebe erfordern Exklusivität und das heißt auch Konzentration von ZeitZeit und Energie auf sich selbst. Ludwig TieckTieck, Ludwig hat in seiner späten postromantischen Novelle Des LebensLeben, Lebens-, -leben Überfluß (1839) die moderneModerne, modern, -moderne Form der romantischen selbstgenügsamen Liebe mit romantischer IronieIronie kommentiert. Die ErzählungErzählung(en) führt zwei Liebende vor, die buchstäblich nur von ihrer Liebe zehren, sich vollständig abschotten von ihrer Umwelt und am Ende das eigene Stiegenhaus, den einzigen Zugang zur Außenwelt, zu Brennmaterial machen, um nicht in der Kälte des Winters zugrunde zu gehen.39

Die unromantische Familie – so lautet die stoische Schlussfolgerung – stellt einen vernünftigen, wenn auch fragilen Kompromiss dar, insofern nämlich, als sie sowohl der Liebe als auch der Notwendigkeit frönt. Diese KonstruktionKonstrukt, Konstruktion ist nur um den Preis einer traditionellen Rollenaufteilung der Geschlechter möglich. In ihr repräsentiert der Mann den Kulturbringer, der der ananke folgt und zeitweilig der Privatheit der Liebe entrinnt, die Frau ebenjene private Sphäre der Familie und Liebe. FreudFreud, Sigmund entgeht freilich nicht die Brüchigkeit, die aus diesen Rollenzuweisungen erwächst:

 

Da der Mensch nicht über unbegrenzte Quantitäten psychischer Energie verfügt, muß er seine Aufgabe durch zweckmäßige Verteilung der Libido erledigen. Was er für kulturelle Zwecke verbraucht, entzieht er großenteils den Frauen und dem SexuallebenLeben, Lebens-, -leben: das beständige Zusammensein mit Männern, seine Abhängigkeit von den Beziehungen zu ihnen entfremden ihn sogar seinen Aufgaben als Ehemann und Vater. So sieht sich die Frau durch die Ansprüche der Kultur in den Hintergrund gedrängt und tritt zu ihr in ein feindliches Verhältnis.40

Wenn sich heute in den westlichen Kulturen Frauen zunehmend weigern, einseitig diese private Rolle zu übernehmen, so bedeutet dieser kulturelle Wandel keineswegs, dass die von FreudFreud, Sigmund beschriebene Kluft zwischen Liebe, Eros und IndividuumIndividuum auf der einen, GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich, Kultur und Ökonomie auf der anderen Seite, dadurch automatisch sistiert ist. Im Gegenteil. Kulturell besehen, lassen sich die unübersehbaren Verfallserscheinungen der Familie nicht nur als eine Folge von FeminismusFeminismus und individualistischem Selbstbestimmungsanspruch, sondern auch als ein Charakteristikum einer vom Ökonomischen bestimmten Kultur begreifen, in der die Familie tendenziell dysfunktional wird, weil sie zuviel Energie abzieht, die der ökonomische Bereich herrisch einfordert, vom Karrieremann ebenso wie von der Karrierefrau. Das Pendant zur ananke der kapitalistischenKapital, Kapitalismus, kapitalistisch Kultur ist, wenigstens auf den ersten Blick, das frei verfügbare, nicht familiär gebundene Lebewesen.

Die Kultur ist aber nicht nur vom Übermaß unseres maßlosen Glücksverlangens und der Sehnsucht nach Zweisamkeit bedroht, in der die Libido einen einigermaßen ungestörten Auftritt hat, vielmehr sieht sie sich – so das düstere Finale von FreudsFreud, Sigmund kulturkritischer Schrift – einer weiteren, womöglich noch dramatischeren Gefährdung gegenüber. Bekanntlich hat FreudFreud, Sigmund im Gefolge des Ersten Weltkriegs sein monistisches System durch ein dualistisches System ersetzt, in dem die Libido, das Glücksverlangen, nunmehr einen dramatischen Gegenspieler erhielt: den Aggressions- und Todestrieb. Diese Modifikation der eigenen Auffassungen, wie sie FreudFreud, Sigmund in Jenseits des Lustprinzips vorgenommen hat, muss auch Folgen für eine psychoanalytische Theorie der Kultur haben.

Kultur bedeutet auch eine Besänftigung und Funktionalisierung des neben dem Lustprinzip wichtigsten menschlichen Triebs, der Neigung des Menschen zur Aggression. Die Kultur muss also nicht nur die SexualitätSexualität mit all ihren anarchischen, anti-gesellschaftlichenGesellschaft, gesellschaftlich Impulsen, sondern auch die Aggression in Schach halten. Expressis verbis kritisiert FreudFreud, Sigmund den KommunismusKommunismus, weil dieser die Neigung des Menschen zur Aggression negiere. Demgegenüber beharrt die Schrift auf die Unhintergehbarkeit des menschlichen Aggressionstriebs, dessen Anwesenheit in der Kultur für den genauen Beobachter nicht zu übersehen ist. Um die Aggression von der eigenen Kultur abzulenken, stellt es einen weit verbreiteten Mechanismus dar, die innere Aggression nach außen zu richten.

Es gibt Beispiele in Hülle und Fülle, wie Kulturen interne Aggression nach außen verlagern. Historisch bekannt ist das Phänomen des Sündenbocks, das im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts virulent geworden ist: der Sündenbockmechanismus, wie er durch Judenpogrome, im zaristischen Russland und später – in ungleich katastrophalerer Dimension – im nationalsozialistischen Deutschland anzutreffen ist. Als zweites, vergleichsweise harmloses Beispiel nennt FreudFreud, Sigmund den Narzissmus der kleinen Unterschiede, in dem die ethnischeEthnie, ethnisch DifferenzDifferenz gegenüber dem Nachbarn künstlich vergrößert wird. Heute spricht man in diesem Zusammenhang von der Produktion von FremdheitFremdheit und Differenz. Dass dieser Narzissmus nicht zwangsläufig harmlos sein muss (wie in der Differenzproduktion zwischen Deutschen, Österreichern und Schweizern oder auch innerhalb der Deutschen) zeigt das Beispiel der Balkankriege der 1990er Jahre, in denen die ausbrechende Aggression eines jeden gegen jeden mit der Produktion von Differenzen einherging, die zuvor nicht in ihrer Schwere historisch zum Tragen kamen: Differenzen der SpracheSprache wie Differenzen im Religiösen, die in einer vornehmlich laizistischen GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich wie der jugoslawischen lebenspraktisch (Kultur II) ausgeräumt erschienen waren.

Wie FreudFreud, Sigmund scharfsinnig beobachtet, ist die Aggression, die tendenziell selbstzerstörerische und autodestruktive Wirkungen nach sich zieht, im kulturellen Gesamtgefüge imstande, zwischen den Menschen soziale Bande herzustellen. Mittels der umgelenkten Aggression wird es möglich, dass Menschen freiwillig Triebverzicht üben und ihre Libido auf Gemeinschaft und GesellschaftGesellschaft, gesellschaftlich hin orientieren und größere Gruppen libidinös miteinander dadurch zu verbinden, dass ein anderer – ein Einzelner, eine Gruppe – vorhanden ist, an dem sich die Gewalt entladen kann. Gruppen werden nicht nur libidinös zusammengehalten, sondern durch eine gemeinsame Aggression gegen den Fremden (vgl. die Figur des Sündenbocks. (→ Kap. 11)

Die Kultur schwächt die Aggression, indem sie sich ihrer bedient. Aber die Mittel, die sie zu diesem Zweck benutzt, sind pragmatisch und – mehr noch – moralisch betrachtet, fragwürdig und unsicher. Der Preis der AmbivalenzAmbivalenz in der FreudFreud, Sigmund’schen Kulturtheorie ist eine gewisse Ratlosigkeit, die im Fall des Aggressionstriebs noch offensichtlicher zutage tritt als bei der SexualitätSexualität. Offenkundig hat die Moral zwar eine FunktionFunktion in diesem kulturellen Geschehen, aber sie ist ein dynamischer Faktor der FreudFreud, Sigmund’schen Kulturtheorie selbst, wie FreudsFreud, Sigmund Behandlung des Gewissens, dessen Existenz er letztendlich und höchst spekulativ aus der Ermordung des Urvaters durch die Urhorde ableitet, anschaulich macht:

Die Kultur bewältigt also die gefährliche Aggressionslust des IndividuumsIndividuum, indem sie es schwächt, entwaffnet und durch eine Instanz in seinem Inneren, wie durch eine Besatzung in der eroberten Stadt, überwachen lässt.41

Diese Instanz ist das vom gestrengen Über-Ich ins IndividuumIndividuum eingepflanzte SchuldbewusstseinSchuldbewusstsein. Wie schon bei der SexualitätSexualität dominieren hier die MetaphernMetapher von Krieg und Unterdrückung. Wie FreudFreud, Sigmund deutlich macht, gelingt es der Kultur niemals vollständig, diese Kontrolle über Lustprinzip und Aggressionslust auszuüben. Zugleich aber wird der immense Preis sichtbar, den die kulturelle Bearbeitung kostet. Das Unbehagen in der Kultur ist so ein unvermeidlicher Aspekt in der Kultur selbst, ihr nichts Äußerliches.

Die Gedankenfigur, die FreudFreud, Sigmund in diesem Text entwickelt, hat durch die globalenGlobalisierung, global Ereignisse der Corona-Pandemie 2020/2021 eine überraschende Aktualität erfahren. Denn die Konflikte, denen sich gerade demokratischeDemokratie, demokratisch Kulturen gegenübersehen, hängen damit zusammen, dass sie, wie von den Bürgerinnen und Bürgern auch erwartet, Sicherheit und Schutz durch entsprechende Maßnahmen herzustellen versuchen, die wiederum die Freiheit der Menschen eklatant, wenn auch im Rahmen bestehender Gesetzgebung einschränken. Dieser Tausch, Sicherheit gegen Einschränkung, wird nicht von allen akzeptiert. Jene, die dagegen protestieren, haben dieses Unbehagen zwar nicht erfunden, machen es aber durch ihre Verweigerung des ‚Deals‘, die in diesem Fall auch eine der ReflexionReflexion ist, manifest. Interessant ist, wie dieses Unbehagen, das etwa zu Anfang von ‚linken‘ Philosophen wie Giorgio Agamben formuliert wurde, in den meisten Ländern ganz weit nach Rechts gewandert ist, wie die sogenannten Anti-Corona-Demonstrationen sinnfällig gemacht haben. Insofern wirft die Corona-Krise ein scharfes Licht auf unsere modernenModerne, modern, -moderne Kulturen und zugleich auf die Hellsichtigkeit von FreudsFreud, Sigmund ambivalenter Analyse.