Kulturtheorie

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Die Reise führt ihn nach Deutschland, in die Niederlande und nach Frankreich. Der Aufenthalt im Land der AufklärungAufklärung, aufklärungs- war – nach der Abkehr von KantKant, Immanuel – das zweite einschneidende Erlebnis seines intellektuellenIntellektueller, intellektuell LebensLeben, Lebens-, -leben. In seinen Briefen beschreibt er die geistige Atmosphäre in der Welt der philosophes als kalt und hochmütig. Er hat Frankreich neugierig, wenn auch nicht im Überschwang betreten, er wird es als deklarierter Gegner der Aufklärung verlassen, der doch nicht von ihrem DiskursDiskurs los kommt. In Straßburg macht er die Bekanntschaft mit dem damals gänzlich unbekannten, fünf Jahre jüngeren GoetheGoethe, Johann W., die, im Nachhinein überhöht, für seinen weiteren LebenswegLeben, Lebens-, -leben entscheidend sein sollte. Nach einem kurzen Intermezzo im Fürstentum Oldenburg wird er nicht zuletzt auf Betreiben GoethesGoethe, Johann W. 1776 Generalsuperintendent in Weimar. Diese Position als höchster Repräsentant der protestantischen Kirche in einem Kleinstaat macht es ihm möglich, den eigenen intellektuellen Neigungen nachzugehen und sein Werk zu komplettieren. HerderHerder, Johann G. hat sich im Laufe seiner Karriere als Literaturkritiker, als Übersetzer und Liedersammler hervorgetan. Zu seinen wichtigsten Werken zählen die Abhandlung über den Ursprung der SpracheSprache (1770), die Streitschrift Auch eine Philosophie der GeschichteGeschichte zur BildungBildung der Menschheit (1774) sowie die Ideen zur Philosophie der GeschichteGeschichte der Menschheit (1784–1791).

Die Streitschrift von 1774, die schon im Titel den Kontrast zum Narrativ der AufklärungAufklärung, aufklärungs- hervorhebt, darf man als Summa seiner intellektuellenIntellektueller, intellektuell Erfahrungen mit dem philosophischen Frankreich lesen, auch wenn in ihr nur selten deren Vertreter genannt werden oder zu Wort kommen. Der ausrufende emotionale Tonfall der Schrift, die ihre Herkunft aus dem pietistischen Milieu schwerlich verleugnen kann, präsentiert sich rhetorisch als Gegenmodell zur kühlen IronieIronie der französischen Spätaufklärung. HerderHerder, Johann G. war ein vielfach begabter Mensch, aber er besaß keinen Sinn für Humor und IronieIronie. Auch darin ist er unglücklicherweise stilbildend für eine spezifisch deutsche Kulturtheorie geworden. Aus den Worten der Schrift sprechen Aufruhr, Anklage und Empörung. Eine Orgie von Ausrufezeichen in einem Text, der den Gestus der mündlichen Auseinandersetzung nachahmt. Als ersten Punkt in seinem Duell mit den arroganten philosophes nimmt er sich deren GeschichtsbildGeschichtsbild vor, das das MittelalterMittelalter in Bausch und Bogen als finster verwirft. HerderHerder, Johann G., der mit GoetheGoethe, Johann W. im Straßburger Münster die Gotik neu entdeckt hat, verdammt die Verdammnis dieses Mittelalters, das eine so imposante Kultur hervorgebracht hat. Dieses MittelalterMittelalter ist ein Zerrbild, eine Erfindung der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, um sich selbst ins rechte Licht zu rücken:

Wie töricht, wenn du diese Unwissenheit und Bewund[e]rung, diese Einbildung und Ehrfurcht, diesen Enthusiasmus und Kindessinn mit den schwärzesten Teufelsgestalten deines Jahrhunderts, Betrügerei und Dummheit, Aberglaub[en] und SklavereiSklaverei brandmarken, dir ein Heer von Priesterteufeln und Tyrannengespenstern erdichten will[st], die nur in deiner Seele existieren! Wie tausendmal mehr töricht, wenn du einem Kind deinen philosophischen Deismus, deine ästhetische Tugend und Ehre, deine allgemeine Völkerliebe voll toleranter Unterjochung, Aussaugung und AufklärungAufklärung, aufklärungs- nach hohem Geschmack deiner ZeitZeit großmütig gönnen wolltest!19

Es geht in diesem Text um nichts Geringeres als die Zerstörung des Selbstbildes der AufklärungAufklärung, aufklärungs-, HerdersHerder, Johann G. Schrift hält ihr sozusagen ihr wahres BildBild entgegen, und das ist alles andere als schmeichelhaft. Was HerderHerder, Johann G. an der Aufklärung so reizt, ist ihr Hochmut. Die Toleranz, auf die sich die Aufklärer so viel einbilden, ist für HerderHerder, Johann G. nichts anderes als Ausübung von MachtMacht und HerrschaftHerrschaft. Damit erinnert HerderHerder, Johann G. nicht ganz zu Unrecht an die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Toleranz“: Duldung, Erlaubnis von oben. Das Wort, das er verwendet, heißt: Gönnen. Der UniversalismusUniversalismus, so lässt sich zwischen den Zeilen lesen, bedeutet eine Missachtung anderer, zeitlich früherer oder räumlich entfernter Kulturen im Namen der sich selbst zugeschriebenen, perspektivischen intellektuellenIntellektueller, intellektuell Überlegenheit. Der Universalismus der westlichen ZivilisationZivilisation, so lautet der überraschend aktuelle Befund, trägt die Tendenz in sich, andere Kulturen zu missachten, sie nicht zu respektieren und sie zu unterdrücken. In diesem Sinn hat das Narrativ (→ Kap. 13) der Aufklärung im Zeitalter des KolonialismusKolonialismus, kolonialisiert aber auch noch im PostkolonialismusPostkolonialismus, postkolonial seine Wirksamkeit entfaltet, von der Bürde des weißen Mannes bis zur amerikanischen Mission in der Welt, wie sie etwa ein FukuyamaFukuyama, Francis20 predigt.

Zornig ist der junge Philosoph – was hier vor sich geht, ist ein klassischer Generationsbruch – aber auch auf die AufklärungAufklärung, aufklärungs-, weil sie blind ist, weil sie die Konkretheit und VielfaltVielfalt dieser Welt übergeht. Sie hat keinen Blick für die Fülle der sichtbaren Phänomene in RaumRaum und ZeitZeit. Gegen die Abstraktion seiner theoretischen Gegner setzt HerderHerder, Johann G. auf ein sinnliches Denken:

[…] ein Gewirre von Szenen, Völkern, Zeitläufen – lies erst und lerne sehen! Übrigens weiß ich’s wie du, dass jedes allgemeine BildBild, jeder allgemeine Begriff nur Abstraktion sei – der Schöpfer allein ist’s, der die ganze Einheit, einer, aller NationenNation, Nationalismus, national in ihrer Mannigfaltigkeit denkt, ohne dass ihm dadurch die Einheit schwinde.21

In der frühen Streitschrift wird bereits der Grundriss von HerdersHerder, Johann G. späterer Denkarchitektur sichtbar. So impliziert die Kritik am BildBild der finsteren Vergangenheit seitens der AufklärungAufklärung, aufklärungs- einen dezidierten historischen und kulturellen RelativismusRelativismus, relativ. Die ZeitZeit kann ebenso wenig wie der RaumRaum als ein Gradmesser für den ‚FortschrittFortschritt‘ angesehen werden. Eine gewisse Unentschiedenheit ist indes beim frühen HerderHerder, Johann G. nicht zu übersehen. Es ist nicht ganz klar, ob HerderHerder, Johann G. die Bewertung etwa des Mittelalters durch die Aufklärung konkret ablehnt oder ob er derartige Beurteilungen im Hinblick auf Kulturen generell für problematisch hält. Offenkundig beides. Daraus folgt ein zweiter Kritikpunkt: Die Aufklärung privilegiert sich historisch, sie nimmt sich zu wichtig, sie ist das OpferOpfer einer perspektivischen (Selbst-)Täuschung. Sie konstituiert sich als zeitliche Zentralperspektive, von der aus der Ablauf der GeschichteGeschichte aus konstruiert wird. In HerdersHerder, Johann G. Abrechnung mit dem UniversalismusUniversalismus spielt schon ein Motiv herein, dass heute, gerade im Bereich der Cultural StudiesCultural Studies von großer Bedeutung ist: der Vorwurf des Ethnozentrismus, der Verabsolutierung der eigenen kulturellen Werte, die zum Maßstab der Bewertung aller Kulturen erhoben werden (→ Kap. 12). Mit dem universalen Narrativ (→ Kap. 13) vom Fortschritt der Menschheit hat der Westen zum ersten Mal einen scheinbar objektivenobjektiv, Objektiv- Maßstab gefunden, an dem sich die Rückschrittlichkeit und Fortschrittlichkeit aller Kulturen ‚exakt‘ bemessen lässt. Demgegenüber beharrt HerderHerder, Johann G. darauf, dass jede Kultur ihre eigenen Maßstäbe in sich trage und nur aus diesen heraus verstanden und gewürdigt werden könne. Wiederholt kritisiert der Autor, dass seine Epoche andere, räumlich oder zeitlich entfernte Kulturen an ihren eigenen, aufklärerischen Idealen messe.

Daraus ergibt sich nahtlos ein dritter kritischer Einwand. Der im universalistischen Pathos verschwiegene Ethnozentrismus der AufklärungAufklärung, aufklärungs- ist gar nicht so tolerant, wie es den Anschein hat, wobei wie oben erläutert der Begriff der Toleranz, der Duldung, einen herrschaftlichen Gestus mit sich bringt. Das aufgeklärte Europa ist intolerant, weil es seine eigenen Werte verabsolutiert. Aus dieser Kritik erwächst viertens ein Gegenmodell, das das Verhältnis von Einheit und VielfaltVielfalt in neuer Form denkt. Gegen den abstrakten UniversalismusUniversalismus formuliert der junge Philosoph aus Mohrungen sein Lob der Vielfalt. Er tut dies programmatisch gegen eine Haupttendenz in der Aufklärung. In der Tat stellt die Kultur aus kosmopolitischer Sicht, so wie sie sich als ein Ensemble von Partikularitäten präsentiert, ein Ärgernis dar, einen überflüssigen Zaun, der eine weltweite friedliche KommunikationKommunikation verhindert. Eingestanden oder nicht, zielt der Universalismus darauf ab, Verhältnisse herzustellen, die ihm günstig sind. Die Partikularität der Kulturen stellt wenigstens auf den ersten Blick ein Hindernis für einen universalistischen Kosmopolitismus dar.

Um also das Lob der VielfaltVielfalt anzustimmen, bedarf es eines Argumentes, dass dieser Vielfalt der Einheit der Menschen keinen Abbruch tut und zugleich die kollektive SelbstbildungSelbstbildung der Menschheit befördert. An dieser Stelle vollzieht HerderHerder, Johann G. eine schroffe anthropologische und eine theoretische Wende, eine anthropologische insofern, als er von der menschlichen Unvollkommenheit und damit auch von der Unvollkommenheit der verschiedenen Kulturen ausgeht. Die Vollkommenheit, die HerderHerder, Johann G. nun, durchaus im Einklang mit der AufklärungAufklärung, aufklärungs- zumindest anstrebt, ist niemals in einer Kultur anzutreffen. Daraus ergibt sich als theoretische Begründung der Bedeutung von Vielfalt, dass Vollkommenheit, wenn überhaupt, nur in der Vielfalt der Kulturen dieser Welt zu erreichen ist. Das wäre die theoretische Wende. Das heißt also: Auch wenn man die Werte und Ziele der Aufklärung, nicht aber ihre Mittel und ihr SelbstbildSelbstbild teilt, dann muss man statt eines abstrakten UniversalismusUniversalismus, der unterschiedslos von der Menschheit spricht, einen KulturalismusKulturalismus, -kulturalismus der Vielfalt propagieren, der einzig und allein das Ziel der menschlichen BildungBildung und Vervollkommnung anvisiert. In diesem Sinn präsentiert sich HerdersHerder, Johann G. Position als eine Alternative, die nicht hinter die Aufklärung zurückfallen, sondern über sie hinaus gehen möchte. Dies bringt das umständliche, aber zugleich selbstbewusste ‚Auch‘ im Titel der Schrift zum Ausdruck: Auch der HerderHerder, Johann G.’sche Text redet einer universalen Philosophie der GeschichteGeschichte zur Bildung der Menschheit das Wort.

 

Der fünfte Punkt betrifft HerdersHerder, Johann G. Kritik am abstrakten Geschichtsentwurf der AufklärungAufklärung, aufklärungs-. Dieser sieht von der spezifischen kulturellen Befindlichkeit des Menschen und vom Eigensinn der Kulturen einigermaßen programmatisch ab. Die Aufklärung ist schlecht abstrakt. An dieser Stelle wird sichtbar, wie sich Kulturtheorie durch philosophische Kritik konstituiert. Denn um der Konkretheit der Kultur gewahr zu werden, bedarf es einer bestimmten Art von Theorie, einer Theorie der Kultur, die zugleich Kulturanthropologie ist. HerderHerder, Johann G. bestimmt Kultur als eine sinnliche und organische Einheit, ja als ein metaphysisches Mega-SubjektSubjekt, das wie schon bei VicoVico, Giambattista der Kreisbewegung folgt: Wachstum, Blüte, Abnahme. Diese Kultur wird wie bei SpenglerSpengler, Oswald, ToynbeeToynbee, Arnold J. oder HuntingtonHuntington, Samuel als Gesamtkomplex (Kultur I) holistisch (miss)verstanden.

In seiner Version einer BildungsgeschichteBildungsgeschichte des Menschen spielt – und das wäre die sechste und letzte Kernthese – die Unvollkommenheit des Menschen eine prominente Rolle. Die Unmündigkeit des Menschen, war nicht, wie KantKant, Immanuel in seiner AufklärungsschriftAufklärung, aufklärungs- schneidig formulierte, selbstverschuldet, sondern unverschuldet. In seinem großen Werk Ideen zur GeschichteGeschichte der Menschheit wird HerderHerder, Johann G. den Gedanken formulieren, dass es – paradox gesprochen – keine freie Entscheidung des Menschen war, frei zu sein. In Auseinandersetzung mit der Aufklärung entwirft HerderHerder, Johann G. eine Kulturanthropologie, die den Menschen nicht als ursprünglich frei und vernünftig begreift, sondern als ein Wesen, das zur Freiheit gezwungen, in die Freiheit entlassen wird.

Aus heutiger Sicht lässt sich HerderHerder, Johann G. als Theoretiker dadurch anschaulicher machen, dass man ihn mit einem Ökologen vergleicht, der den Schwund der Artenvielfalt in der NaturNatur beklagt und theoretische wie praktische Schritte setzt, die Mannigfaltigkeit der Erde zu erhalten. HerderHerder, Johann G. ist ein Ökologe der Kulturen, der die VielfaltVielfalt nicht als Hindernis, sondern als Voraussetzung für ein friedliches Miteinander sieht. Oder anders ausgedrückt: Vielfalt gilt ihm als ethischer, ästhetischer und kultureller Wert. Weltkultur bedeutet demnach Vielfalt in der Einheit, Einheit in Vielfalt (heute ein Leitspruch der Europäischen Union). Offenkundig legitimiert sich die hohe Wertigkeit der Vielfalt dadurch, dass sie Vervollkommnung ermöglicht. Aber schwierig bleibt immerhin der ethische Grenzkonflikt: Was, wenn der Wert der Vielfalt in Konflikt gerät mit anderen Werten, die wir zumeist mit den Menschenrechten in Verbindung bringen? HerdersHerder, Johann G. Kulturökologie hat praktische Folgen gezeitigt, auch bedenkliche. Der Denker auf dem philosophischen Nebengleis wurde zum Promotor der Erhaltung des Kulturguts der bedrohten, damals staatenlosen Völker etwa in Osteuropa. HerderHerder, Johann G. geht es aber nicht so sehr darum, diese zum politischen SubjektSubjekt zu erheben, sondern vielmehr um die Rettung untergehender Volkskulturen, deren Produkte liebevoll gesammelt werden, um sie dem Vergessen zu entreißen. Im ZentrumZentrum steht die Sammlung ihrer Liedkultur und die Bewahrung ihrer SpracheSprache. Mit dieser Geste nimmt HerderHerder, Johann G. vorweg, was Heerscharen von Volkskundlern, Sprach- und Märchenforschern im 19. Jahrhundert tun werden. Ihre emsige philologische Sammeltätigkeit geht Hand in Hand mit jenem kulturellen Projekt, das wir mit Benedict AndersonAnderson, Benedict als Erfindung der NationNation, Nationalismus, national bezeichnen können.22 NietzscheNietzsche, Friedrich hat diese antiquarischen Historiker in seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen mit bösem Spott übergossen, aber er hat vergessen, welch eminent un-antiquarische und durchaus unselige Wirkungen diese Kultur- und Volksökologen gehabt haben.23 HerderHerder, Johann G. und auch schon VicoVico, Giambattista sind von der inneren Einheitlichkeit (Homogenität) von Kulturen ausgegangen. Vielfalt von Kulturen gibt es immer nur auf einer globalenGlobalisierung, global Ebene; die einzelnen nationalen Kulturen, historische und geographische Versionen von Kultur I, werden mehr oder weniger als kompakt angesehen. Der Begriff Volksseele wurde eigentlich erst nach HerderHerder, Johann G. geprägt, aber er bildet das unausgesprochene ZentrumZentrum von HerdersHerder, Johann G. Kulturkonzept. In dieser Metaphysik verschmilzt der Begriff Kultur und Volk zur meta-politischen Kategorie des Kulturvolkes. Jedes von ihnen ist unverwechselbar und klar abgegrenzt vom jeweils anderen. Nur so kann die einzelne Kultur einen Beitrag zur gesamten menschlichen Kultur leisten.

Hier kommt ein gewisser Systemzwang zum Tragen. Denn es ist gerade der metaphysische Aspekt von HerdersHerder, Johann G. Kulturtheorie, der es ihm möglich macht, seinen Kulturrelativismus mit der großen ErzählungErzählung(en) von FortschrittFortschritt, BildungBildung und Humanität zu versöhnen. Die einzelnen Kulturen, die wie Subjekte agieren, sind in sich unteilbar und von einer unerhörten Beharrlichkeit. HerderHerder, Johann G. ist ein Vertreter von AufklärungAufklärung, aufklärungs- und HumanismusHumanismus, insofern er seine Kulturtheorie mit dem Humanismus der Aufklärung letztendlich versöhnt.

Dass dies nicht immer leicht vonstatten geht, zeigt der Kulturvergleich zwischen den Einwohnern Feuerlands und der Kultur, die einen Newton oder einen Fenelon hervorgebracht hat. Es gibt nur eine Menschheit, aber diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie in einer Vielheit von Kulturen lebt:

[…] so ist der Mensch im Irrtum und in der Wahrheit, im Fallen und Wiederauferstehen Mensch, zwar ein schwaches Kind, aber doch ein Freigeborner: wenn noch nicht vernünftig, wenn noch nicht zur Humanität gebildet, so doch zu ihr bildbar. Der Menschenfresser in Neuseeland und Fenelon, der verworfene Pescherei (ein Indianer aus Feuerland, Anm. d.Verf.) und Newton sind Geschöpfe Einer und derselben Gattung.24

Wie erklärt sich HerderHerder, Johann G. nun diese Multikulturalität im globalenGlobalisierung, global Maßstab? Eine Rechtfertigung dieser VielfaltVielfalt haben wir bereits gehört, ihr Beitrag zur Perfektion des Menschen: friedlicher Wettkampf der Völker um das gleiche humane Ziel. Aber dies lässt sich nur von einem übergeordneten, universalen Standpunkt außerhalb der einzelnen Kultur sagen. Dieses Ziel ist nicht Teil einzelkultureller Selbstbegründung. Immerhin lassen sich – praktisch und handfest – Gründe angeben, warum Kulturen in dieser Welt in verschiedenen Versionen und Variationen entstanden sind. HerderHerder, Johann G. führt insgesamt drei Gründe an:

 Ethnische VielfaltVielfalt ergibt sich aus der DifferenzDifferenz der Klimata und LebensbedingungenLeben, Lebens-, -leben.

 Ethnische VielfaltVielfalt ergibt sich aus dem unterschiedlichen Grad der menschlichen Entwicklung.

 Ethnische VielfaltVielfalt ist das Resultat der Unvollkommenheit des Menschen.

Retrospektiv ließe sich sagen, dass die vormodernenModerne, modern, -moderne Kulturen nicht über die medialen, administrativen und polizeilich-militärischen Möglichkeiten verfügten, um immer größere Räume sprachlich und kulturell zu vereinigen. Heute ist die Schaffung einer monokulturellen Menschheitskultur, Hoffnung für die einen, Horror für die anderen, technisch besehen machbar. Sehr wahrscheinlich ist sie, ungeachtet gewisser Nivellierungstendenzen, nicht. Nicht nur ist, wie schon mehrfach erwähnt, mit kulturellen Gegenbewegungen zu rechnen, die wir ja bereits heute übrigens nicht nur in der islamischen Welt am Werk sehen. Zum anderen hat ‚Kultur‘ in all ihren Bedeutungsvarianten eine so furchtbare wie fruchtbare FunktionFunktion: Durch und nur durch Kultur, d.h. durch die Ausbildung je eigener Symbole, kann DifferenzDifferenz gesetzt werden, jene Form von Differenz, die den Bestand von IdentitätIdentität und Identitäten garantiert, von Jugendkulturen bis zu den Manifestationen von ganzen Bevölkerungsgruppen und von Angehörigen bestimmter NationenNation, Nationalismus, national.

Kulturen sind also verschieden, und weil wir verschieden sein wollen, gibt es singuläre Kulturen. HerderHerder, Johann G. betont die Selbstgenügsamkeit der Kultur und die Autonomie jeder Binnenkultur:

[…] jede NationNation, Nationalismus, national hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!25

Mit dem Glück kommt indes ein neues Kriterium ins Spiel, ein Kriterium, dessen moralische Qualität der strenge Philosoph aus Königsberg in Abrede gestellt hat, das aber im KontextKontext der französischen AufklärungsphilosophieAufklärung, aufklärungs- – man denke etwa an VoltairesVoltaire Candide (→ Kap. 2) – eine zentrale Rolle spielt: die bonheur. An diesen DiskursDiskurs anschließend stellt HerderHerder, Johann G. die riskante These auf, dass die Beschränktheit, die jeder Kultur eigentümlich ist, glücklich macht. HerdersHerder, Johann G. Wertschätzung der kulturellen VielfaltVielfalt ist mit dem Lob partikularer Borniertheit verquickt. Aus olympischer, d.h. unbeteiligter Perspektive – Kulturtheorien wie jene HerdersHerder, Johann G. und später SpenglersSpengler, Oswald bevorzugen diesen narrativen Aussichtspunkt – mag es schon sein, dass der kulturelle Wettbewerb anspornt. Aber aus dem Blickfenster der singulären Kultur ist die glückselig machende Selbstgenügsamkeit mit der Exklusion erkauft, mit der realen („Ausländer raus“), aber auch mit der symbolischen in Gestalt jener diskriminierenden Fremdbilder, die im Deutschen den etwas missverständlichen Namen „Vorurteile“ tragen (so als handle es sich um einen vorschnellen Akt, der sich rational aufklären ließe). HerdersHerder, Johann G. Argumentation mündet in fataler Konsequenz und ganz ironisch in ein Lob der Dummheit ein, wie sie jedem PartikularismusPartikularismus eigen ist:

Das Vorurteil ist gut, zu seiner ZeitZeit: denn es macht glücklich. Es drängt Völker zu ihrem Mittelpunkt zusammen, macht sie fester auf ihrem Stamme, blühender in ihrer Art, brünstiger und also auch glückseliger in ihren Neigungen und Zwecken. Die unwissende, vourteilendste NationNation, Nationalismus, national ist in solchem Betracht oft die erste: das Zeitalter fremder Wunschwanderungen und ausländischer Hoffnungsfahrten ist schon Krankheit, Blähung, ungesunde Fülle, Ahndung des Todes.26

Wenn das Glück einer partikularen Kultur, die ja nicht selten das Unglück einer anderen mit sich bringt, zum Maßstab wird, dann gibt es keinen Maßstab mehr: Das nazistische ‚Glück‘ der Deutschen war das Unglück ihrer Nachbarn und des europäischen Judentums, das ‚Glück‘ der Kolonialherren das Unglück der kolonialisiertenKolonialismus, kolonialisiert Völker. KantKant, Immanuel hatte vermutlich übertrieben, als er das Glück per se als unmoralisch verwarf, er war aber sehr wohl im Recht, als er bestritt, dass das Glück eine moralische Kategorie darstellt.

Es gibt nicht einen Theoretiker HerderHerder, Johann G., es gibt deren mindestens zwei: einen, der seine Kulturtheorie in Einklang mit dem humanistischen DiskursDiskurs seiner ZeitZeit zu bringen trachtet, und einen anderen, der das Loblied auf das Glück von PartikularismusPartikularismus, Ethnozentrismus und Selbstgenügsamkeit singt. Einen HerderHerder, Johann G., der sich für die VielfaltVielfalt der Kulturen stark macht und einen, der diese Vielfalt innerhalb der singulären Kulturen ignoriert. Die DekonstruktionDekonstruktion hat uns beigebracht, unser Hauptaugenmerk nicht auf die Konsistenz und innere Stimmigkeit von Texten zu legen, sondern auf ihre Brüche.

 

Betrachten wir vor diesem Hintergrund HerdersHerder, Johann G. Kulturanthropologie, in der anthropologische und philosophische Gesichtspunkte miteinander verschmelzen. Letztendlich bildet – argumentativ ganz verschieden von FreudFreud, Sigmund, aber strukturellStruktur, strukturiert, strukturell ganz ähnlich – die Anthropologie bei HerderHerder, Johann G. das Fundament seiner Kulturtheorie. HerdersHerder, Johann G. zentraler Befund lautet: Der Mensch kommt phylogenetisch wie ontogenetisch nicht fertig auf die Welt. GeschichteGeschichte ist daher immer schon eine BildungsgeschichteBildungsgeschichte des Menschen. Freiheit wird aus Not geboren: Denn schon HerderHerder, Johann G. zeichnet den Menschen, auch wenn er den Ausdruck (noch) nicht gebraucht, als ein sinnliches Mängelwesen. Der Mensch macht aus der Not eine Tugend und das Kind, das dieser Not entspringt, ist eben die Freiheit.

Kultur, und hier vor allem die SpracheSprache, deren expressive und emotive FunktionFunktion HerderHerder, Johann G. hervorhebt, wird als MediumMedium der Selbstentfaltung begriffen. Wie die betreffende Kultur, so existiert auch der Mensch nicht abstrakt, sondern immer in seiner Einmaligkeit, nur als Thema mit unendlicher Variationsbreite in einem unverwechselbaren, je eigenen konkreten und historischen KontextKontext. Auch in seiner Kulturanthropologie versucht HerderHerder, Johann G., zwei NarrativeNarrative (→ Kap. 13) miteinander zu versöhnen: das lineare Fortschrittsnarrativ, das hier in der Variante der Erziehungs- und BildungsgeschichteBildungsgeschichte auftaucht (LyotardLyotard, Jean F. zufolge ist dies die deutsche Variante der großen ErzählungErzählung(en) der AufklärungAufklärung, aufklärungs-27), mit dem ‚labyrinthischen‘ Narrativ von VielfaltVielfalt und Relativität. Während also die Menschheitskultur, die es stets nur im Plural gibt und niemals als globaleGlobalisierung, global Monokultur, letztendlich doch dem Vektor des FortschrittsFortschritt folgt, bewegen sich die singulären Kulturen in einer Kreisbewegung. Ihr Untergang schafft RaumRaum für neue Kulturen, die den Fortschritt vorantreiben. Das lineare (besser vektoriale) und das zyklische BildBild von GeschichteGeschichte und Kultur stehen unvermittelt nebeneinander.

Letztendlich triumphiert aber die Idee des Wandels und der BildungBildung über das Lob einer in sich beharrenden Selbstgenügsamkeit. Der Mensch ist ein gewordenes Wesen, das stets im Wandel befindlich ist. HerderHerder, Johann G. plädiert, unter Zuhilfenahme der Etymologie auf eine Vernunft, die das Konkrete vernimmt und die mehr ist als bloße Zweckrationalität, das, was Max HorkheimerHorkheimer, Max viel später als „instrumentelle Vernunft“ bezeichnen wird:

Hieraus erhellet, was menschliche Vernunft sei: ein Name, der in den neuen Schriften so oft als ein angebornes Automat gebraucht wird und als solches nichts als Mißdeutung giebet. Theoretisch und praktisch ist Vernunft nichts als etwas Vernommenes, eine gelernte Proportion und Richtung der Ideen und Kräfte, zu welcher der Mensch nach seiner Organisation und LebensweiseLeben, Lebens-, -leben gebildet worden […] die Vernunft des Menschen ist menschlich.28

Die Vernunft HerdersHerder, Johann G. ist dynamisch und plastisch. HerdersHerder, Johann G. Vorliebe für das Konkrete und für die kulturelle VielfaltVielfalt bedingen einander. Der Vernunft der AufklärungAufklärung, aufklärungs- in ihrer Hauptströmung fehlt dieses kulturelle Sensorium HerderHerder, Johann G. zufolge. Mit der Philosophie der Aufklärung und gegen den faktischen frühkolonialistischen RassismusRassismus, Rasse seiner ZeitZeit geht HerderHerder, Johann G. davon aus, dass es nur eine Menschheit gibt, aber die Menschheit kommt nur in der Vielheit vor. Der Mensch, Produkt und Produzent von Kultur, ist von NaturNatur aus ein physisch schwaches Wesen („zur zartesten Gesundheit“), das seine Schwäche durch Kultur, um einen Ausdruck von Arnold Gehlen zu verwenden, kompensiert. Die hohe Sensitivität des Menschen, die für das Phänomen Kultur eine entscheidende Rolle spielt, ist das Ergebnis seiner langen natürlichen und kulturellen Geburt (der Biologe Adolf PortmannPortmann, Adolf wird den Menschen später als Nesthocker beschreiben29).

Das menschliche Kind kommt schwächer auf die Welt, als keins der Tiere: offenbar weil es zu einer Proportion gebildet ist, die im Mutterleibe nicht ausgebildet werden konnte.30

Der Mensch, und das ist bemerkenswert neu, wird als ein Wesen verstanden, das unfertig auf die Welt kommt. Diese Unvollkommenheit ist die eigentliche Ursache für Kultur: für die SymbolbildungSymbolbildung durch die SpracheSprache. Durch die Kultur schafft sich der Mensch ein zweites Mal: Der Mensch ist ein künstliches Wesen.

Wie schon bei VicoVico, Giambattista ist auch bei HerderHerder, Johann G. ein merkwürdiger Widerspruch vorherrschend: Einerseits gibt es da, vor allem bei HerderHerder, Johann G., eine durchaus irdische Vorstellung vom Menschen, ja fast so etwas wie einen kulturellen MaterialismusMaterialismus, andererseits operiert seine anthropologisch untermauerte Kulturtheorie mit einer Metaphysik, die noch immer mit der göttlichen Vorsehung rechnet: HerdersHerder, Johann G. „List der Vernunft“ ist die VielfaltVielfalt. Die Vielfalt der Kultur.

HerderHerder, Johann G. ist fasziniert von der Volkskultur, gerade von fremden Sprachen und der Polyglossie seiner Heimat. Er sammelt das Fremde in der eigenen Kultur und den Nachbarkulturen. Der Philosoph aus der PeripheriePeripherie ist ein Metaphysiker der Popularkulturen seiner ZeitZeit. Den MythosMythos, Mythologie, mythologisch, der in der Kulturtheorie so eine prominente Rolle spielt, feiert er als Vereinigung von PoesiePoesie und ReligionReligion, religiös. Er, der Liebhaber des Ossian, den er wie viele andere auch für echt hält, sieht in der Volkskultur das Echte, Ursprüngliche, Authentische. Gefeiert wird das Gefühl, das stets dem Konkreten zugewandt ist und das noch nicht in den Sog irrationalistischer Theoreme geraten, sondern mit der Vernunft verbunden ist. All diese Momente haben HerderHerder, Johann G. unter veränderten kulturellen, politischen und geistigen Gegebenheiten zu einer wichtigen intellektuellenIntellektueller, intellektuell Bezugsgröße für die Erfinder der ‚uralten‘ NationenNation, Nationalismus, national in Europa gemacht, die beim Lauschen der alten Weisen das neue Gefühl des Nationalismus, eine Kultur, die programmatisch partikularistisch ist, erprobt und realisiert haben.

Volkskultur ist für HerderHerder, Johann G. aber nicht nur eine ursprüngliche Kultur, sondern eine Kultur gegen die Unterdrückung. HerderHerder, Johann G. darf man sich nicht als einen politischen Reaktionär und preußischen Krautjunker vorstellen, er war selbst eher ein ‚Progressiver‘, kein Nationalist, wenigstens nicht im heutigen Sinn; seine Liebe als Sammler und Kulturökologe galt den sogenannten staatenlosen Kulturen Osteuropas (Polen und dem Baltikum), die von Preußen unterdrückt und dominiert wurden. HerderHerder, Johann G. war ein scharfer Kritiker von KolonialismusKolonialismus, kolonialisiert und SklavereiSklaverei:

Je mehr wir Europäer Mittel und Werkzeuge erfinden, euch andern Weltteile zu unterjochen, zu betrügen und zu plündern – vielleicht ist es einst eben an euch zu triumphieren.31