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|20|6.

Es war ein ganz gewöhnliches Messer, ein Messer wie es tausendmal vorkommt. Es hatte seine Arbeit getan, seine Schneide war von Blut verschmiert. Blut, das noch nicht trocken war, als das Messer neben dem toten Baumstamm auf den Boden fiel. Die Hand, die das Messer fallen gelassen hatte, trug Gummihandschuhe, an denen ein Finger fehlte. Die Person, der das Messer gehört hatte, steckte die Handschuhe in eine Plastiktüte. Sie wollte nicht riskieren, dass sie gefunden wurden.

|20|7.

Die Marders waren zweimal für Kurzurlaube zum Wandern im Deister gewesen, dabei hatten sie jedesmal in der Pension Marianne bei Frau Thann übernachtet. Von Stade in den Deister war es eine Fahrt von zwei Stunden, sie hofften, dadurch den Winternebeln am Ufer der Elbe für eine kurze Zeit zu entkommen, vielleicht sogar einen ersten Frühlingstag am »nördlichsten Berg Deutschlands« zu erleben. Die |21|Autobahnausfahrt nach Barsinghausen hatte sich seit ihrem Besuch verändert. Nicht zu ihrem Besten, fand Marder. Für ihn gehörten Sexshops und Spielhallen in die dunklen Ecken einer Stadt, hier boten sie sich offen und freizügig dar. Zielgruppe waren wohl die Fahrer, die ihre Lastwagen auf dem Autohof abstellten und während ihrer Ruhezeiten einen sinnvollen Zeitvertreib suchten.

Iris saß am Steuer und ignorierte die verwerflichen Etablissements. Das Auto bog in die Landstraße nach Bantorf ein. Die kleinen Ortschaften, durch die sie auf dem Weg nach Barsinghausen fuhren, waren ihrer dörflichen Vergangenheit treu geblieben. Hier schien die Zeit still zu stehen. Lediglich die Schaufenster der Lebensmittelgeschäfte, die es früher gegeben hatte, waren mit alten Zeitungen verklebt. Kurz vor dem Ortsschild von Barsinghausen verlangsamte Iris die Geschwindigkeit und wandte sich an ihren Ehemann.

»Bist du ganz sicher, dass Frau Thann uns heute erwartet? Nicht dass du das Datum durcheinander gebracht hast.«

»Du kannst ganz beruhigt sein. Ich habe erst vor ein paar Tagen das Zimmer bei ihr gebucht und gestern habe ich sie noch einmal angerufen und ihr gesagt, wann wir heute ungefähr ankommen. Und sie hat gesagt, sie freut sich sehr darauf, uns noch einmal zu sehen, bevor sie die Pension zumacht. Wir werden uns in Zukunft eine andere Unterkunft suchen müssen, wenn wir Ferien in den Bergen machen wollen

»Eigentlich schade, dass es die Marianne bald nicht mehr geben wird. Aber ich kann gut verstehen, dass es Frau Thann langsam zu viel wird und sie keine Lust mehr dazu hat. Sie ist ja auch nicht mehr die Jüngste«

Marder nickte zustimmend.

|22|»Mehr als die Pension werde ich Frau Thann vermissen. Sie war wirklich eine ideale Herbergsmutter, wenn man sie so bezeichnen darf.«

»Das glaube ich dir aufs Wort. Du hast ja schon von ihr geschwärmt, als du wegen Matuscheks Tod zum ersten Mal in Barsinghausen warst. Erst dachte ich, ich müsste eifersüchtig sein.«

»Ein bisschen Eifersucht kann nie schaden.«

»Im Prinzip schon, aber bei Frau Thann war das wohl nicht nötig. Außerdem schwärmst du sowieso eher für jüngere Frauen, so wie mich.«

»Ich habe doch immer gesagt, dass es außer dir keine Frauen in meinem Leben gibt – jedenfalls keine, die ich liebe.«

»Das hat auch der Prinz zu Dornröschen gesagt, bevor er Aschenputtel hinterherlief.«

»Der Trick mit dem Schuh war ja auch perfide. Pass auf, da vorne musst du rechts rein. Marianne liegt oben am Hang.«

»Ich fahre erst mal geradeaus.«

Marder war verwirrt.

»Warum denn das? Wenn ich sage rechts, kannst du mir es glauben, ich kenne mich hier aus.«

»Wenn wir schon das letzte Mal bei Frau Thann wohnen, können wir ihr wenigstens ein paar Blumen mitbringen«, verkündete Iris. »An solche Kleinigkeiten muss immer ich denken?«

Marder seufzte. Iris hatte recht, aber sie war in der Familie immer für auswärtige Angelegenheiten zuständig gewesen. Ihm unterstanden vor allem die Ressorts Finanzen und Verteidigung.

Im Stadtgebiet lenkte er seine Frau zu dem kleinen See, wo |23|sein Kollege Matuschek vor einigen Jahren gestorben war. Er wusste, dass es dort einen Parkplatz gab, der selten voll belegt war, da er für die meisten Besucher der Fußgängerzone am falschen Ende der Stadt lag. Drei Autos standen auf dem Platz, wo es Raum für fünfzehn oder mehr gab. Unter den Scheibenwischern von zwei von ihnen klemmte ein Strafbescheid. Neugierig nahm er einen davon in die Hand. Dem Fahrer wurde eine Strafgebühr aufgebrummt, weil er keine Parkscheibe hinter der Windschutzscheibe ausgelegt hatte. Die dementsprechende Anweisung stand kaum lesbar auf einem verschmutzten Schild, das zur Hälfte von einem Busch verdeckt wurde. Ähnliches war Marder in Stade auch passiert, es ärgerte ihn vor allem dann, wenn es keinen Mangel an freien Parkplätzen gab, er also lediglich wegen einer unbarmherzigen Politesse eine Strafe zahlen musste.

»Lächerliche Bürokratie«, schimpfte er. Vorsichtshalber legte er die Parkscheibe in seinem Auto deutlich sichtbar aus. Dabei schummelte er um eine halbe Stunde.

Der Weg zur Fußgängerzone führte zwischen Rathaus und Stadtkirche den Hang hinab und endete auf dem zentralen Platz des Ortes. Marder und seine Frau blieben stehen, um nach einem Blumengeschäft Ausschau zu halten. Er spürte einen heftigen Stoß in den Rücken und wäre gestürzt, wenn er sich nicht geistesgegenwärtig an seiner Frau festgehalten hätte. Ein Inline-Skater hatte beim Überspringen einer flachen Mauer die Kontrolle über seine Skates verloren, war durch die Luft getaumelt, hatte nach einem Halt gesucht und dabei Marder mit einem Arm getroffen. Der junge Mann rollte weiter, ohne sich darum zu kümmern, ob er dem älteren Herrn Schaden zugefügt hatte.

|24|In einem Blumengeschäft kauften sie einen Strauß Tulpen, der trotz seiner langen Anreise aus Holland frisch und munter aussah. Frau Thann würde sich bestimmt darüber freuen.

Marianne befand sich am Hang zwischen der obersten Straße des Ortes und den untersten Bäumen des Waldes, der die Hügel des Deisters bis zum Kammweg bedeckte. Das Gebäude wirkte herrschaftlich, war aber zu klein, um es tatsächlich zu sein. Die für diese Gegend ungewöhnlichen Fensterläden gaben dem Haus einen eigenständigen Charakter. Das Schild am Gartentor, das noch im letzten Jahr mit silbernen Buchstaben auf die Pension Marianne hingewiesen hatte, war bereits abmontiert worden. Frau Thann meinte es also ernst mit der Schließung des Hauses. Aus dem Rasen vor dem Haus sprossen Tulpen, strahlten jedoch nicht in gleicher Pracht wie ihre Geschwister aus Holland. Iris meinte leise, sie hätten lieber andere Blumen nehmen sollen.

Frau Thann freute sich über die Ankunft der Familie Marder. Sie umarmte Iris, traute sich nicht, das Gleiche mit Marder zu tun. Sie schien seit dem letzten Jahr kaum älter geworden zu sein, eher jünger. Marder fragte sich, ob sie sich wohl liften lassen hatte. Er konnte es sich nicht vorstellen, es passte nicht zu dieser naturverbundenen Pensionsmutter, sich von einem Schönheitschirurgen renovieren zu lassen. Wahrscheinlich war es die Vorfreude auf den Rest ihres Lebens, die sie aufblühen und verjüngt wirken ließ – die Zeit, wenn sie nicht länger Gäste in ihrem Haus beherbergen würde und sich die Tage nach ihren eigenen Wünschen einrichten konnte. Dieselbe Vorfreude hatte ihn überkommen, als er kurz davor war, den Dienst bei der Kriminalpolizei zu quittieren, |25|obwohl er immer Spaß und Genugtuung bei seiner Arbeit empfunden hatte.

»Schön, dass Sie gekommen sind. Sie können dasselbe Zimmer haben wie im letzten Jahr. Aber, wenn es Ihnen lieber ist, können Sie sich gern ein anderes aussuchen. In dieser Woche sind Sie meine einzigen Gäste, da kann ich mich Ihnen voll und ganz widmen. Das ist mir mehr als recht, ich lege keinen Wert mehr auf ein volles Haus und die ganze Arbeit, die damit zusammenhängt. Sie wissen ja, dass ich in ein paar Wochen die Pension zumachen werde. Danach werde ich ein Leben als eine einsame alte Frau beginnen.«

Das sagte Frau Thann fröhlich, ohne Bitternis. Marder vermutete, dass sie sich eher auf ein Leben als lustige Witwe vorbereitete als auf das einer einsamen alten Frau. Sie gehört bestimmt zu denen, die erkannt haben, dass man sich dem Heiteren im Leben bewusst zuwenden muss, während das Tragische von allein kommt.

Eine schwarze Katze sprang zwei Stufen hinauf, welche die Terrasse vom Garten trennten. Sie trug weiße Turnschuhe vorne, weiße Stiefel hinten. Über der Nase leuchtete ein ebenso weißes Ausrufungszeichen. Die Katze raste durch die offene Verandatür, drehte zwei unsinnige Runden im Wohnzimmer und kam vor dem Kühlschrank in der Küche zu stehen. Neben dem Kühlschrank stand ein Fressnapf, der zu ihrer erkennbaren Enttäuschung leer war – sie hatte sich offensichtlich in der Fütterungszeit geirrt. Die Katze blickte Marder auffordernd an, Marder schaute betont lässig zurück. Brisbane sah um Jahre jünger aus als bei seinem letzten Besuch. Damals schien er bereits auf dem Weg in den Katzenhimmel zu sein … Nein, Brisbane konnte es nicht sein, |26|dieser Kater war ein Junior, so um die zwei, höchstens drei Jahre alt, notfalls vier. Marder hatte genügend Erfahrung mit Katzen, um das beurteilen zu können.

Er schaute Frau Thann fragend an.

»Ich weiß, was Sie denken«, sagte seine Wirtin. »Sie denken, Brisbane hat eine Verjüngungskur gemacht. Oder dass er wiedergeboren wurde.«

»Ich vermute eher etwas anderes.«

»So ist es. Brisbane ist leider im letzten Herbst gestorben. Es beruhigt Sie vielleicht, dass er friedlich eingeschlafen ist, soweit man das bei einer Katze beurteilen kann. Er bewegte sich in den letzten Wochen immer langsamer, hören konnte er seit Monaten so gut wie nichts mehr. Zum Schluss verlor er das Interesse an seinen Gegnern in den Gärten um uns herum. Eines Tages hat er einfach aufgehört zu fressen und ist nach einer Woche gestorben. Als ich merkte, dass es soweit war, habe ich ihn an seinen Lieblingsplatz im Garten in die Sonne gelegt, und nach einer Stunde hat er aufgehört zu atmen. Sie können sich vorstellen, wie tief mich das berührt hat.«

 

Marder konnte das gut nachfühlen. Auch er und Iris hatten ihren Kater Tatze innig verehrt, wie es einer Katze zusteht, auf deren Grundstück und in deren Haus man wohnen darf. Sie waren sich einsam vorgekommen, nachdem sie gestorben war.

Iris blickte Frau Thann mitleidsvoll an, als wolle sie ihr Beileid aussprechen, tat es aber nicht. Schließlich war eine Katze eine Katze und kein Mensch, außerdem lag der Todesfall mehr als ein halbes Jahr zurück.

Frau Thann musste die neue Katze erklären.

»Zwei Monate nach dem Tod von Brisbane bin ich trotz |27|schlechten Gewissens wegen der kurzen Trauerzeit zum Tierheim des Tierschutzvereins gegangen, um mir eine neue Katze zu holen. Dieser Kater saß ganz vorne am Gitter, als ich kam, so als warte er bereits auf mich. Er sah aus wie Brisbane, und wie ich bald festgestellt habe, hat er einen ähnlichen Charakter, beziehungsweise die gleiche charmante Charakterlosigkeit. Er hat absolut keine Hemmungen, meine Gutherzigkeit auszunutzen. Manchmal glaube ich fast, dass Brisbane in ihm wiedergeboren ist, aber natürlich nicht ernsthaft.«

»Sie haben ihn hoffentlich nicht auch Brisbane genannt?«

»Nein, dieser Kater heißt Sydney. Das ist nahe genug an Brisbane, um mich zu trösten, aber weit weg genug für eine eigene Persönlichkeit.«

8.

Marder erinnerte Frau Thann daran, dass er am Nachmittag einen Kaffee brauche, um bis zum Abend durchzuhalten. Nur für Marder erkennbar, rümpfte Iris die Nase, sie war der Ansicht, Kaffee putsche unnötig auf, Kräutertee sei gesünder. Sie ließ sich nicht auf seine Beteuerungen ein, neue wissenschaftliche Untersuchungen hätten bewiesen, dass Kaffee keineswegs so schädlich sei, wie oft behauptet wurde. Erstens würde er dem Körper nicht Wasser entziehen, wie früher immer behauptet wurde, und zweitens wirke er sogar als vorbeugende Medizin gegen eine Reihe von Leiden. Um welche es dabei ging, hatte Marder vergessen. Er lese ohnehin nur |28|medizinische Berichte, die seine Ansichten bestätigten, meinte seine Gattin.

Während Frau Thann die Getränke in der Küche aufbrühte, griff Marder nach der lokalen Zeitung auf dem Tisch. Es war ein spontaner Akt, wie immer, wenn sich eine Zeitung in seiner Reichweite befand. Zeitunglesen war eine Leidenschaft, die er nie ablegen würde, egal wie alt er werden sollte. Seine Frau teilte sie bis zu einem gewissen Grad. Beim Lesen der Morgenzeitung lasen sie die Sektionen gern in unterschiedlicher Reihenfolge, das ließ den Tag in Harmonie beginnen. Er informierte sich zuerst über Politik und Wirtschaft, Iris studierte als Erstes die Seiten mit Kultur und Lokalem. Dann tauschten sie. Den Sportteil las ausschließlich Marder, den vernachlässigte Iris, so wie Marder es mit den Horoskopen tat. Die Klischees über die unterschiedlichen Interessen von Frau und Mann trafen auf das Ehepaar Marder beim Zeitunglesen zum Frühstück hundertprozentig zu.

»Tanken und Heizen wird bald noch teurer«, sagte Marder. »Die OPEC-Länder haben beschlossen, die Fördermengen von Rohöl zu senken und zum Ausgleich die Preise zu erhöhen. Das finde ich völlig logisch.«

»Dann sollten wir öfter mit dem Fahrrad fahren und nicht für jede kleine Besorgung im Ort das Auto nehmen«, antwortete Iris. »Und das Thermostat im Haus um ein paar Grad heruntersetzen.«

»Das mit dem Fahrrad sagen wir schon seit Jahren, tun es aber nur selten, eigentlich nie, und das mit den Temperaturen halte ich für eine schreckliche Idee. Ich will nicht im Alter in einer frostigen Wohnung sitzen.«

|29|Marder schüttelte sich, der Gedanke an ein kaltes Wohnzimmer jagte ihm einen eisigen Schauer über den Rücken.

»Vielleicht sollten wir uns an der Börse an den Spekulationen ums Erdöl beteiligen – mit unserer Rente könnten wir da jederzeit einsteigen. Wir würden dann jedes Mal ein bisschen Geld verdienen, wenn wir Auto fahren oder die Heizung anmachen. Und je höher wir die Temperatur stellen, umso mehr sahnen wir ab.«

»Schatz, lass das lieber, damit bringst du nur den Weltmarkt durcheinander.«

Die Erörterung der Neuigkeiten aus der großen Welt war damit abgeschlossen. Das Aroma frischen Kaffees wehte aus der Küche und Marders gute Laune bekam einen Schub.

»Guck mal«, meinte Iris, als sie die Überschriften auf der ersten Seite des Regionalteils las. »Das Böse in Barsinghausen schläft nicht. Hier steht, dass ein Mann vorgestern ein blutiges Messer im Wald gefunden hat. Es lag bei einem Parkplatz auf der Erde.«

Marder war sofort bei der Sache. Das hörte sich nach einem Verbrechen an. Kriminalität und deren Aufklärung waren früher der Sinn seines Lebens gewesen. Seit seinem Ruhestand war er nicht länger als Jäger des Bösen unterwegs, den wesentlichen Verbrechen und den damit verbundenen Ermittlungen folgte er in den Medien jedoch mit dem Interesse eines Experten. Gelegentlich behauptete er seiner Frau gegenüber, dass er einen Fall schneller gelöst hätte als die aktive Generation der Kriminalbeamten. Iris lächelte dann nachsichtig und meinte, er könne nur nicht akzeptieren, dass er zum älteren Eisen gehöre, das bei der Bekämpfung der modernen Kriminalität nicht mehr zu gebrauchen sei.

|30|»Gib doch bitte mal her«, sagte er und nahm seiner Frau die Zeitung aus der Hand, bevor sie die Chance hatte, sie ihm freiwillig zu geben.

Die Polizei in Barsinghausen hatte gestern die Presse informiert, dass am Nachmittag zuvor, um circa 16 Uhr, ein Jogger ein blutiges Messer im Wald am Rande eines Parkplatzes bei der Freilichtbühne entdeckt hatte. Der Mann rührte das Messer klugerweise nicht an, sondern hatte die Polizei über sein Handy zu dem Parkplatz gerufen. Er erklärte den Beamten, er habe das Messer gesehen, als er sein Auto ganz am hintersten Ende des Platzes abgestellt hatte und ausgestiegen war. Dabei habe er sofort bemerkt, dass es mit Blut beschmiert war. Der Bericht fuhr fort, dass auch an dem Baumstamm, neben dem das Messer gelegen habe, Spuren von Blut gefunden worden seien. Eine erste vorläufige Untersuchung habe ergeben, dass es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um menschliches Blut handele, was man nach dem Abschluss der Tests noch einmal endgültig bestätigen würde. Oder notfalls dementieren, das sei jedoch eher unwahrscheinlich. Die Polizei habe nach den ersten Überprüfungen in der Nähe des Fundortes keine weiteren Spuren finden können, und man hoffe, dass sich die Frage, woher das Messer stamme und wie es in den Wald gelangt war, schnell und undramatisch aufklären würde. Ein Verbrechen lasse sich jedoch nicht ausschließen, und deswegen wende sich die Polizei zu diesem frühen Zeitpunkt der Ermittlungen an die Öffentlichkeit. Wenn jemand eine sachdienliche Mitteilung in dieser Angelegenheit machen könne, solle er sich umgehend bei der Polizei melden.

Frau Thann erschien mit einem Tablett, auf dem sie eine |31|Kaffeekanne und eine Teekanne balancierte. Beide Gefäße sowie die dazugehörenden Tassen sahen wie wertvolle Museumsstücke aus. Als Iris darauf hinwies, erklärte Frau Thann, sie hätte das Geschirr auf dem Flohmarkt an der Leine in Hannover gekauft, wohin sie, wenn sie keine Gäste habe, am Sonnabendmorgen manchmal gehe, um überflüssige, aber schöne Dinge zu suchen und meistens auch zu finden.

Marders Gedanken blieben bei dem blutigen Messer hängen. Durch die Erwähnung eines möglichen Verbrechens kehrten seine Erinnerungen zu den Ereignissen um die Familie Matuschek zurück. Der tote Körper seines ehemaligen Kollegen Alfred Matuschek in einem Teich am Rande der Innenstadt hatte ihn vor vier Jahren zum ersten Mal nach Barsinghausen gebracht, das Verschwinden von dessen Ehefrau zwei Jahre später noch einmal. Das Schicksal der Kinder hatte ihn damals bewegt, obwohl sie schon erwachsen waren und seine Hilfe oder seinen Zuspruch offensichtlich nicht wollten. Darüber hatte er sich zuerst gewundert, später verstanden.

Frau Thann begann, über ihre Sehnsucht nach ihren Kindern und Enkeln zu sprechen. Sie plane, das Haus im nächsten Frühjahr zu verkaufen, um nach Süddeutschland zu ziehen, wo ihre Familie inzwischen zum größten Teil lebe. Außerdem liebe sie die Alpen, wo sie früher oft mit ihrem Mann gewandert sei. Marder unterbrach sie, trotz eines tadelnden Blicks seiner Frau. Seine Gedanken kreisten noch um die Familie Matuschek. Er fragte Frau Thann, was sie über das jetzige Leben von Bertram und Anja, den Kindern der Matuscheks, wisse. Die gleiche Frage hatte er Frau Thann schon einmal vor zwei Jahren gestellt. Damals war er von |32|Erich Falkenberg beauftragt worden, herauszufinden, warum Vera Matuschek plötzlich aus Barsinghausen verschwunden war. Frau Thann ließ eine weitere Mitteilung über ihre eigene Familie unausgesprochen. Sie schaute ihren Gast irritiert an, verzieh ihm jedoch die Unhöflichkeit, da sie sich daran erinnerte, dass Marder in die Geschehen um die Matuscheks und deren Aufklärung dienstlich verwickelt war.

»Eigentlich weiß ich kaum etwas über die Matuscheks. Beide Kinder leben wohl noch in Barsinghausen. Bei Bertram bin ich mir ganz sicher, den habe ich erst in der letzten Woche bei einem Spaziergang getroffen. Er wohnt ja am Ende dieser Straße, ganz oben beim Wald. Wir haben uns aber nicht unterhalten, weil wir uns nicht persönlich kennen. Mir fiel trotzdem auf, dass seine Haare sehr schütter geworden sind und er ein unglückliches Gesicht machte. Aber das ist wohl der Normalzustand bei ihm, wenn ich mich korrekt daran erinnere, was Sie mir einmal erzählt haben.«

Sydney hatte sich an seine Herrin herangeschmust, war auf ihren Schoß gesprungen und hatte sich schnurrend eingerichtet. Frau Thann streichelte ihn geistesabwesend.

»Und was ist mit Anja?«, fasste Marder nach.

»Keine Ahnung. Soweit ich mich entsinne, war sie Krankenschwester in Gehrden, das wird sie wohl noch sein, aber garantieren kann ich das nicht. Sie wohnt wahrscheinlich nach wie vor in Barsinghausen. Vor ungefähr einem halben Jahr habe ich ihr Bild in der Zeitung gesehen. Da war ein Open House bei der Polizei und die Presse hat davon Fotos gemacht. Auf einem dieser Bilder war Anja. War sie nicht mit einem der Beamten von der Kripo befreundet?«

»Ja, ja, das war Kommissar Brenner. Ich glaube, sein Vorname |33|ist Burt, aber ich kann mich auch täuschen. Jedenfalls war er früher Assistent von Matuschek und wurde später sein Nachfolger. Aber das sind alte Geschichten. Wo, sagten Sie, möchten Sie gern hinziehen, wenn Sie die Pension geschlossen haben?«

Frau Thann nutzte die Gelegenheit, ausführlich über ihre Pläne für die Zeit nach der Schließung von Marianne zu berichten. Nachdem sie mehr darüber erzählt hatte, als Marder sich merken konnte, sagte sie, dass sie nun zum Einkaufen in die Stadt müsse, selbstverständlich seien die Marders heute ihre Gäste beim Abendessen.

»Inzwischen können Sie ein bisschen im Ort oder im Wald spazieren gehen. Schauen Sie sich einmal die Verwüstungen an, die der große Orkan angerichtet hat. Den werde ich nie vergessen, ich habe an dem Abend und in der Nacht voller Angst im Wohnzimmer gesessen, während draußen ein Höllenlärm tobte. Wie durch ein Wunder war am Haus und im Garten alles heil geblieben, aber nur wenige Meter dahinter im Wald hat der Orkan alles flachgelegt. Sie brauchen nicht weit zu gehen, die größten Schäden gab es direkt am Ortsrand.«

Marder überlegte.

»Ach ja, das war doch dieser riesige Sturm mit dem russischen Namen, irgendwas mit B… Bertil, oder so.«

»Nicht mit B, sondern mit K. K wie Kyrill«, korrigierte Frau Thann nachsichtig.

»Wenn sich dieser Sturm vor 20 Jahren ereignet hätte, wüsstest du heute noch genau, wie er geheißen hat«, meinte Iris, als sie die Pension verließen. »Komm, wir machen mal Katastrophentourismus.«

|34|Viele Wege führen in Barsinghausen in den Wald, jedenfalls alle, die aufwärts gehen. Marder und seine Frau kamen wieder am Ziegenteich vorbei. Jedes Mal, wenn er hier vorbeischaute, hatte Marder das Gefühl, dass er seinem toten Kollegen Referenz erwies. Sie setzten sich auf eine Bank und blickten schweigend auf das dunkle Wasser. In der Mitte des kleinen Sees war eine winzige Insel mit einem Holzverschlag, in dem Enten und ein einsamer Schwan ihr Zuhause hatten. Ein Hund, halb Schäferhund, halb Collie, stand mit seinen Vorderpfoten im Wasser und bellte die Enten an, die sich dadurch nicht bei ihrer Suche nach Grünzeug stören ließen. Die Sträucher an den Ufern spiegelten sich auf der Wasserfläche, sie zeigten die ersten Knospen des Frühlings, trugen aber noch keine Blätter. Der kleine See lag offen, vom Rathaus auf der anderen Seite der Straße hatten der Bürgermeister und seine Mitarbeiter einen freien Blick auf die Idylle.

 

»Weißt du«, sagte Marder nach einer Weile zu seiner Frau »wenn ich hier bin, muss ich immer wieder über den tragischen Tod von Alfred Matuschek nachgrübeln. Ich frage mich, ob seine Kinder gelegentlich an diesen Teich kommen, um an ihn zu denken. Ich bin mir fast sicher, dass sie das nicht tun.«

»Das vermute ich auch«, sagte Iris leise. Auch sie wurde offensichtlich von diesem Ort bewegt. Sie fuhr fort:

»Trotzdem bin ich überzeugt, dass sein Tod die Kinder nicht unberührt gelassen hat, wenn man dann noch bedenkt, dass sich ihre Mutter zwei Jahre danach ebenfalls das Leben genommen hat, nur weil sie sich mit dem falschen Mann eingelassen hatte. Das muss Bertram und Anja tief getroffen haben. Vor allem Anja. Sie wird für den Rest ihres Lebens schwer daran zu tragen haben. Die Beziehungen zwischen Müttern |35|und Töchtern sind eine höchst komplizierte Sache. Ich bin überzeugt, dass Mütter einen größeren Einfluss auf das Leben ihrer Töchter haben als die es jemals zugeben. Ich würde mich nicht wundern, wenn Anja eines Tages daran zerbricht.«

»Wir wissen das nicht, und ich hoffe, wir werden es nie erfahren«, antwortete Marder und stand abrupt auf. »Komm, lass uns in den Wald gehen. Vielleicht kommen wir dort auf schönere Gedanken.«

Ein Irrtum. Große Bereiche des Waldes befanden sich im Zustand absurder Verwüstung. Kyrill hatte breite Schneisen der Zerstörung in den Wald gerissen. Es gab kaum Übergänge zwischen den Flächen, wo der Wald gnadenlos abrasiert worden war und denen, wo er beinahe unberührt stehen geblieben war. Vor allem Nadelbäume mit ihren flachen Wurzeln hatten der Gewalt des Windes nichts entgegenzusetzen gehabt. Die Bäume waren aus der Erde gerissen und lagen ineinander verkeilt auf dem Boden. Andere waren abgebrochen, entweder auf halber Höhe oder unterhalb ihrer Krone, ihre bizarren Stümpfe zeigten in den Himmel wie verhöhnend erhobene Finger. Marder musste an die Stahlträger des World Trade Centers in New York denken, die aus den Ruinen der beiden in sich gesunkenen Türme empor ragten. Aus den Wunden der Bäume floss der Saft, der sie am Leben gehalten hatte. Marder musste unwillkürlich an die toten Menschen denken, die er zu oft in seinen Berufsjahren als Kriminalist betrachten musste. Auch aus ihren Wunden war oft der Saft des Lebens geflossen, nur war es nicht Harz, sondern Blut gewesen.

Den wenigen Laubbäumen, die in diesem Bereich des Waldes gestanden hatten, war es nur wenig besser ergangen. Einige |36|von ihnen waren ebenfalls unter der ungeheuren Wucht des Windes umgestürzt. Die noch standen, hatten zerrissene Kronen, ihre Äste hingen wie Fetzen an den Stämmen herunter. Über allem lag die Stille eines Friedhofs, Geräusche, die das Leben im Wald bezeugten, fehlten. Vögel, die hier gebrütet hatten, mussten woanders neu anfangen, ebenso die Tiere, die auf dem Boden lebten. Seit dem Sturm waren mehrere Wochen vergangen, aber die Forstverwaltung hatte es noch nicht geschafft, die Waldwege freizuräumen, nur der Hauptweg war notdürftig freigemacht. Man hatte die Baumstämme, die darübergefallen waren, durchgesägt, an den Seiten notdürftig gestapelt und dadurch einen Pfad durch das Chaos geschnitten.

Ein leichter Wind wehte über den Hang. Er brachte den Geruch von frischem Holz mit sich. Der Wald war hier zwar gestorben, aber er hatte noch nicht angefangen zu vermodern. In der Luft schwebte ein Raubvogel, der den Wirrwarr unter sich beobachtete, vielleicht hoffte er auf eine mühelose Mahlzeit – ein verendetes Kleintier, das ein Opfer der umstürzenden Bäume geworden war.

Während Manfred und Iris Marder dieses Chaos betrachteten, erfüllte ein leises Geräusch die Luft, ein Knistern, als ob sich Elektrizität entlud. Der Ton wurde eindringlicher, aggressiver, ging in ein Krachen über. Er kam vom Rand des zerstörten Gebietes, dort wo der Wald begann, der überlebt hatte. Die Krone einer Fichte neigte sich zur Seite, brach ab und fiel auf den Waldboden. Kyrill hatte den Baum offensichtlich beschädigt, das Werk der Zerstörung aber nicht vollenden können. Das hatte die Natur nun nachgeholt. Marder erschauderte, es hätte ebenso der Baum sein können, in dessen |37|Nähe sie gerade standen. Sie gingen wenige hundert Meter bergauf, dort war die Welt wieder in Ordnung, der Wald friedlich und voller Hoffnung, wie es zu Beginn des Frühlings in jedem Jahr war – so als hätte es den Orkan nie gegeben. Kyrill hatte trotz seiner Wut nur Schneisen von mehreren hundert Metern Breite durch den Deister geschlagen, dort seinen Zorn und Furor ausgetobt und den Rest der Hügel weitgehend verschont.

Auf dem Weg in die Stadt zurück kam ihnen eine riesige Holzerntemaschine vom Typ »Harvester« entgegen. Die Menschen waren dabei, wieder Ordnung in den deutschen Wald zu bringen.