1975

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Als Appaz zu Kerschkamp kam, lag noch dicker Nebel über den Feldern. Kerschkamp hatte trotzdem schon die Sonnenbrille auf.

Hinten im Bus hatten sie eine Holzplatte eingebaut, bis zur Lehne der mittleren Sitzbank. Wenn man sich diagonal legte, reichte es gerade so als Schlafplatz. Kerschkamp klopfte sein Kopfkissen zurecht und haute sich hin. Strampelte mit den Beinen und schrie: »Yippiiieh!«

Lepcke stand schon mit seinem ganzen Zeug an der Straße und wartete. Er hatte die Kiste mit dem Campinggeschirr dabei und einen Karton voll Tütensuppen. Das Zelt war immer noch nass. Sie hängten es, so gut es ging, über die Lehne der Rückbank. Lepcke kletterte auf den Beifahrersitz.

Der Ami erzählte ihnen zur Begrüßung, dass er die ganze Nacht geträumt habe, er würde rote Würmer auskotzen.

Ratte pennte noch. Seine Mutter schickte sie hoch in sein Zimmer. Die Rollläden waren heruntergelassen. Es stank, wie es nur bei Ratte stinken konnte. Ratte hatte mal gesagt, das würde an seinem Bruder liegen, der die ganze Nacht über furzte. Was von dem Essen in der Bundeswehrkantine käme.

»Los, Alter, aufstehen!«, brüllte Kerschkamp.

Ratte fuhr schlaftrunken hoch. Rattes Bruder drehte sich auf die Seite und schnarchte weiter. Hinter Ratte konnte Appaz eine nackte Schulter erkennen und lange, blonde Haare. Sabine! Als Ratte ihr den olivgrünen Bundeswehrschlafsack wegzog, rollte sie sich murrend in das zusammengeknüllte Laken. Appaz und die beiden anderen konnten sehen, dass sie goldfarbene Riemchensandalen anhatte. Mit bleistiftdünnen Absätzen.

Lepcke guckte schnell woanders hin.

Ratte streifte sich sein altes T-Shirt über und stieg in die Jeans, die so eng waren, dass sein Hintern aussah wie ein Entenarsch. Sie halfen ihm, die Kiste mit den Konservendosen nach unten zu bringen.

»Nudeln in Tomatensoße«, sagte Ratte, »und Corned Beef und so’n Zeug.«

Auf der Kiste stand in sauberen Blockbuchstaben: NOTRATIONEN. EIGENTUM DER BUNDES-WEHR.

Der Ami hatte es sich inzwischen mit Kerschkamps Kopfkissen bequem gemacht und las ein Buch. Steppenwolf von Hermann Hesse.

Ratte guckte Appaz fragend an.

»Hä, was soll das denn? Wieso ist der denn da …?«

»Hi!«, ließ sich der Ami vernehmen und blätterte die Seite um.

»Scheiße«, sagte Kerschkamp, »habe ich ja ganz vergessen dir zu erzählen. Er kommt für Hansi mit.«

»Ist doch gut«, sagte Lepcke. »Und außerdem hat er einen Führerschein.«

Ratte zuckte nur mit den Schultern.

Auf dem Weg zur Autobahn hielten sie an der Shell-Tankstelle. Der Tankwart konnte sich noch an Appaz erinnern, weil er vorgestern schon mal bei ihm getankt hatte. Für vier Mark, mehr hatte er nicht dabeigehabt. Diesmal tankten sie voll. Lepcke kontrollierte die Luft.

»Große Fahrt, was?«, fragte der Tankwart, während er mit dem Leder über die Windschutzscheibe wischte.

»Heavy Tour«, sagte Kerschkamp.

Dann waren sie auf der Autobahn. Der Bus lief fünfundneunzig. Hundert. Appaz versuchte, das Gaspedal nicht ganz bis zum Anschlag durchzutreten. Zur Hildesheimer Börde hoch sackte die Tachonadel auf siebzig. Appaz schaltete in den dritten Gang zurück.

Lepcke hockte neben ihm, mit einer Europakarte auf den Knien. Im Rückspiegel konnte er Ratte sehen, der gerade versuchte, Kerschkamps Kassettenrecorder in Gang zu setzen. Kerschkamp holte einen Stapel Kassetten aus seinem Seesack. Der Ami las immer noch Hermann Hesse.

»Was wollt ihr hören, Leute?«, fragte Kerschkamp.

Sie einigten sich auf Zappa, Overnite Sensation. Camarillo Brillo. She had a snake for a pet, and an amulet…

Kerschkamp sang mit. Ratte fummelte am Spannungswandler, bis die Kassette nicht mehr eierte. Trotzdem blieb der Klang beschissen, blechern und ohne jeden Bass. Aber der Motor dröhnte ohnehin so laut, dass man kaum was hörte.

»She had grey-green skin, a doll with a pin, I told her she was alright, but I couldn’t come i-in«, sang Kerschkamp begeistert, »actually I was very busy then …«

Lepcke war der Erste, der pinkeln musste.

»Vergiss es«, sagte Ratte, »wenn du jetzt pinkelst, dann musst du alle fünf Minuten. Du musst dir das erste Mal verkneifen, das ist es.«

»He, Leute, kennt ihr das?«, brüllte Kerschkamp, »dass man nicht bumsen kann, wenn man pinkeln muss, kennt ihr das?«

Sie hielten auf irgendeinem Parkplatz.

Kerschkamp stellte sich breitbeinig neben Lepcke.

Ratte packte die Brote aus, die ihm seine Mutter geschmiert hatte.

»Leberwurst, vom Bund«, sagte er mit vollem Mund, »geil.«

»Das stinkt!«, erklärte der Ami, klappte den Hesse zu und kletterte über die Rückenlehne, um ebenfalls zu pinkeln.

Ratte pellte sich ungerührt ein hartgekochtes Ei.

Die Sonne wurde langsam wärmer. Appaz klemmte die dunklen Gläser auf seine Brille.

»Hartgekochte Eier, ist ja Wahnsinn«, sagte Kerschkamp und griff zu.

Ratte nahm einen Schluck Cola und rülpste.

Kerschkamp tauschte den Platz mit Lepcke. Die Eierschalen bröckelte er in den Aschenbecher, der genau in der Mitte oben auf dem Armaturenbrett war. Dann zog er den Aschenbecher aus der Halterung und gab ihn nach hinten, weil Ratte rauchen wollte.

An der Steigung hinter der Werratal-Brücke musste Appaz in den zweiten Gang zurückschalten. Mit knapp vierzig quälten sie sich die Kriechspur hoch. Ein Tanklastzug schob sich von hinten heran und zog hupend vorbei.

»Ist leer, der Arsch, deshalb«, erklärte Kerschkamp.

Lepcke streckte den Kopf nach vorne.

»Ist alles okay?«, fragte er und schielte auf die Tachonadel, die sich zitternd der Dreißig näherte.

Appaz war froh, als er endlich wieder in den Dritten gehen konnte.

»Jetzt aber«, sagte Kerschkamp, als sie über die Kuppe waren.

Lepcke lehnte sich zurück. Er nahm Ratte die halb gerauchte Kippe aus der Hand. Ratte hatte den Kopf gegen die feuchte Zeltbahn gelegt und pennte.

Hinten lag der Ami mit angezogenen Beinen und las wieder.

Kerschkamp drehte Appaz eine Zigarette. Eine von denen, die so locker waren, dass man sie nach dem ersten Zug eigentlich schon wieder wegwerfen konnte.

»Sag mal«, sagte Kerschkamp plötzlich, »hast du das gesehen? Heute Morgen, die Schuhe, die Sabine anhatte, glaubst du, dass sie die ganze Nacht über, also, ich meine, auch wenn sie mit Ratte …«

Er machte eine vage Handbewegung.

Appaz zupfte sich ein paar Tabakkrümel von der Lippe.

»Klar«, sagte er, »das sind wahrscheinlich ihre Reitstiefel. Für den langen Weg nach Laramie.«

»Redet ihr über mich?«, fragte Ratte von hinten und drehte die Musik leiser.

»Quatsch«, sagte Kerschkamp.

Sie grinsten sich an.

»O Mann«, sagte Kerschkamp.

»Kiss my aura, Dora«, sang Zappa, »mmh, it’s real angora, would you like some more-a?«

Bergab lief der Bus fast hundertzehn, brauchte dabei aber auch mühelos beide Fahrspuren, egal, wie stark Appaz das Lenkrad festhielt. Appaz nahm ein bisschen Gas weg. Bei fünfundneunzig wurde es besser, und er konnte wieder mit einer Hand lenken. Die andere hatte er auf dem Schaltknüppel, der bei jeder Teernaht ruckte und zitterte.

Kerschkamp fing an, von der Schule zu erzählen. Wie er in der Achten mal mit Richter in den Alpen war. Appaz kannte die Geschichte schon. Wie Richter jeden Morgen neue Regeln auf gestellt hatte, und wer gegen irgendeine dieser Regeln verstieß, musste sich die Hose runterziehen und kriegte von Richter mit der flachen Hand den Hintern versohlt. Und eines Tages hatte Richter dann absichtlich selber gegen eine dieser Regeln verstoßen und von den Schülern verlangt, dass sie ihn bestraften. Genau so, wie er sie sonst bestraft hatte. Mit Schlägen auf den nackten Hintern. Zu Hause hatte keiner was gesagt, weil sie alle Angst gehabt hatten. Woraufhin Richter im nächsten Jahr wieder in die Alpen fuhr. Mit einer neuen achten Klasse.

»Scheiße, was«, sagte Kerschkamp.

Sie waren sich einig, dass sie es in ihrer Schulzeit bisher eigentlich nur mit einem Haufen von Perversen zu tun gehabt hatten.

»Alle gestört und pervers«, sagte Kerschkamp.

»Oder alte Nazis«, sagte Appaz.

Kerschkamp nickte.

»Kannst du dich noch an Biesinger erinnern?«, fragte er.

Natürlich konnte Appaz sich noch an Biesinger erinnern. Biesinger war der, der sich immer von hinten an einen Schüler angeschlichen und ihm dann mit einem kräftigen Schlag den Kopf auf die Tischplatte gestoßen hatte. »Wenn du gerade gesessen hättest, wäre das nicht passiert«, war sein üblicher Kommentar gewesen, wenn sich wieder einer von ihnen die blutende Nase hielt.

Sie nahmen sich einen nach dem anderen vor. Bei Kunze hatten sie im Unterricht der Reihe nach ans Klavier treten und die Handzeichen für die einzelnen Noten herunterbeten müssen. Wer einen Fehler machte, bekam den Taktstock über die ausgestreckten Hände gezogen. Der Sportlehrer hatte einige Übung darin, unerwartet mit seinem Schlüsselbund quer durch die Turnhalle nach irgendwelchen Störenfrieden zu werfen. Der Geschichtslehrer schlug gerne mit seiner prall gefüllten Aktentasche zu. Und im Religionsunterricht lernten sie, dass der Russe nach dem Krieg, als er in Deutschland einmarschiert war, seine Kartoffeln grundsätzlich in der Kloschüssel wusch und zum Kacken den Keller benutzte. Weil er es nun mal nicht besser wusste. In Gemeinschaftskunde wiederum erfuhren sie, dass es den Negern vor allem an Milchpulver mangelte. Und in Erdkunde durften sie immer wieder den gleichen Super-8-Film sehen, in dem ihr Lehrer mit seinem Mercedes irgendwo mitten in Afrika bunte Bonbons an kleine Negerkinder verteilte.

 

»Meint ihr Gnuschke?«, fragte Lepcke von hinten. »Den hatte ich in Bio, und da musste ich mich auf den Tisch legen, damit er an meinem Knie die Kühnsche Nagelung zeigen konnte …«

»Hat er bei mir auch gemacht«, erklärte Kerschkamp mit einem Nicken.

»Wisst ihr noch, wie er uns mal erzählt hat, dass seine Frau deshalb keine Kinder kriegen kann, weil sie Moos im Bauch hätte?«, fragte Appaz.

»Pervers«, sagte Kerschkamp. »Aber voll. Und jetzt müssen wir nochmal für ein Jahr dahin, Mann, Scheiße!«

»Hättest ja mehr machen können«, sagte Lepcke, »dann wärst du vielleicht nicht durchgefallen …«

»Ach ja, ganz bestimmt!«, regte sich Kerschkamp auf. »Als ob das damit was zu tun gehabt hätte! Die wollten uns fertigmachen, kapierst du das nicht? Das finden die klasse, so was, die sind alle echt pervers, Mann, so Typen wie Böhmer, weißt du, was der zu mir gesagt hat? >Wer mit einem Individuum wie Appaz befreundet ist, der hat bei mir keine Chance!< Hat er echt gesagt, letztes Jahr erst, habe ich dir das überhaupt erzählt?«

Er drehte sich zu Appaz.

Appaz nickte. Kerschkamp hatte es ihm erzählt. Er zuckte mit der Schulter und versuchte ein müdes Grinsen. Obwohl ihm nicht nach Grinsen zumute war.

»Du hättest trotzdem mehr machen können«, beharrte Lepcke.

»Ach nee, und was ist mit dir?«, fragte Kerschkamp.

»Hört doch mal auf mit dem Scheiß, Leute!«, bölkte Ratte, »wir haben Ferien, Mann, wir fahren nach Frankreich! Kennt ihr den: Les jeunes Alles ä douze ans aiment le chocolat, les jeunes Alles ä seize ans aiment le choque au lit?! Gut, was?!«

»Haha«, machte Kerschkamp.

Irgendwann gegen Mittag kamen sie an Frankfurt vorbei. Als sie zum Tanken auf eine Raststätte einbogen, fragte Appaz den Ami, ob er weiterfahren wolle.

»Klar«, sagte der Ami und kletterte hinters Lenkrad.

»Sag ich doch«, sagte Lepcke, »ist doch besser so, wenigstens noch einer mit Führerschein …«

Appaz verzog sich nach hinten auf die Schlafsäcke.

Der Ami fuhr nicht schlecht. Appaz lag noch eine Weile einfach nur so da und starrte an die Decke. Der Motor dröhnte leise vor sich hin.

Ratte hatte sich den Kassettenrecorder halb unter den Kopf geschoben und hörte Ton Steine Scherben. Ich will nicht werden, was mein Alter ist …

Rattes Vater war vor ein paar Jahren gestorben.

Aber das spielte keine Rolle, es ging nicht um Rattes Vater. Du musst arbeiten, du musst schuften, so wie ich, sang Rio Reiser. Darum ging es. Dass ihnen keiner sagte, was sie zu tun hätten.

Als Appaz wach wurde, waren sie schon irgendwo hinter Saarbrücken. Kurz vor der Grenze nach Frankreich tankten sie wieder. Appaz tauschte den Platz mit dem Ami.

Als er das Seitenfenster zurückschob, um dem Zöllner ihre Pässe hinzuhalten, wusste er schon, dass es Ärger geben würde.

Ratte hatte den Kassettenrecorder auf volle Lautstärke gestellt. Immer noch Ton Steine Scherben. Macht kaputt, was euch kaputt macht. Der Zöllner verschwand mit ihren Pässen in seiner Bude. Es dauerte. Kerschkamp rauchte.

»He, Mann, was wird das denn?«, fragte Lepcke von hinten. Er trommelte mit den Fingern nervös auf der Rückenlehne. Sein Kopf war knallrot, und auf seiner Stirn glänzten dicke Schweißperlen.

»Komm runter, Alter«, sagte Kerschkamp und zog in Sekundenabständen an seiner Kippe.

Ein anderer Zöllner kam aus der Bude und winkte sie auf einen Parkplatz neben der Fahrbahn. Sie sollten aussteigen. Appaz stellte den Motor ab.

Der Ami tat so, als hätte er nichts mitgekriegt. Im nächsten Moment waren die Bullen da. Junge Typen, kaum älter als sie selbst. Zwei von ihnen hatten eine Maschinenpistole. Sie rissen die Heckklappe auf und zerrten den Ami vom Bett. Der Steppenwolf klatschte mit aufgeschlagenen Seiten zu Boden.

Sie mussten sich breitbeinig an der Seite des Busses aufstellen, die Arme ausgestreckt, die Hände gegen die Scheiben gedrückt.

Als die Bullen sie abtasteten, fing der Ami an zu kichern.

»Scharfe Nummer«, meinte Ratte halblaut, »muss ich mir für Sabine merken …« Aber seine Stimme klang anders als sonst, irgendwie dünner und höher.

Der Ami hatte ein Messer in einer Lederscheide am Gürtel hängen.

Was das sei, wollte einer der Bullen wissen.

Der Ami kicherte.

Appaz fragte, ob Messer seit neuestem verboten seien.

»Nein«, sagte der Bulle, »nicht, wenn man sie nur zum Brotschneiden benutzt.«

Der Ami kicherte schon wieder.

Appaz wusste nicht, was er antworten sollte.

Der Bulle beugte sich zwischen Appaz und Ratte hindurch und zog Rattes funkelnagelneue Reisetasche unter der Sitzbank hervor. Machte den Reißverschluss auf und wühlte mit einer Hand eher halbherzig zwischen Rattes Unterhosen. Bis er eine eingeschweißte Packung Leberkäse in die Finger bekam. Die Packung war von innen beschlagen, der Leberkäse schimmerte grünlich-grau durch das Schwitzwasser.

»Herta«, ließ sich Ratte vernehmen, »billig und gut.«

Angewidert zog der Bulle die Hand zurück. Aus den Augenwinkeln sah Appaz, wie der Zöllner mit ihren Pässen zurückkam. Er zuckte mit der Schulter und nickte. Die Bullen nahmen ihre Maschinenpistolen runter. Sie durften sich wieder normal hinstellen und bekamen die Pässe ausgehändigt.

»Und was sollte das Ganze jetzt?«, fragte Ratte. »Ich meine, das ist doch echt Scheiße, Mann …«

»Halt’s Maul«, zischte Kerschkamp.

»Routinekontrolle«, sagte der Bulle. Im Umdrehen trat er mit dem Stiefel wie aus Versehen gegen den hinteren Reifen. Die Stoßstange schepperte. Der Bulle bückte sich, um einen Blick auf das Reifenprofil zu werfen. Der Reifen war fast neu.

Ohne ein weiteres Wort zog der Bulle ab. Die Maschinenpistolen-Knechte hinter ihm her.

Der Zöllner wünschte ihnen eine gute Weiterfahrt.

Sie kletterten zurück in den Bus. Als Appaz die Kupplung trat, merkte er, dass ihm die Knie zitterten.

»Dein Leberkäse hat es voll gebracht«, sagte Kerschkamp grinsend nach hinten zu Ratte. »Guter Trick! Wenn du Dope schmuggeln willst, packst du einfach jede Menge gammligen Leberkäse oben drauf.«

»Ist nicht gammlig«, sagte Ratte, »ist bei meiner Mutter aus dem Kühlschrank.«

»Genau das meine ich«, sagte Kerschkamp.

»Hä?«, machte Ratte.

»Was glaubt ihr, was haben die gesucht?«, mischte sich Lepcke ein.

»Irgendwen von der RAF, Terroristenfahndung«, sagte Appaz.

»Klar«, meinte Kerschkamp, »ist doch bekannt, dass die mit alten VW-Bussen rumfahren, deshalb. Echt«, setzte er hinzu, »die Bullen sind so doof, ist doch klar, dass die keinen kriegen. Die müssen Opel und Ford kontrollieren und so, da sitzen die Terroristen drin.«

»VW-Passat«, sagte Lepcke. »Audi 80 und so.«

»Genau«, nickte Kerschkamp. »Die Biedermannautos. Aber immer mit der größten Maschine, die es gibt. Von wegen Fluchtauto und so, damit sie schnell wegkommen.«

»Alles Faschisten, die Bullen«, erklärte Ratte und drehte den Kassettenrecorder wieder auf volle Lautstärke: Wir müssen hier raus, das ist die Hölle. Wir leben im Zuchthaus. Wir sind geboren, um frei zu sein, wir sind zwei von Millionen, wir sind nicht allein …

Für einen Moment grölten sie alle mit. Bis auf den Ami. Appaz konnte im Rückspiegel beobachten, wie er mit den Fingern an der alten Hängematte zupfte, die sie hinten quer als Gepäcknetz gespannt hatten.

»Irgendwo in Hessen haben sie neulich einen erschossen«, brüllte Kerschkamp gegen die Musik an, »einfach so. Genauso Typen wie bei uns eben, mit Maschinenpistolen. Bei einer Verkehrskontrolle. Der Typ fasst ins Handschuhfach, weil er da seine Papiere drin hat, aber die denken, er will eine Waffe rausholen oder so, und zack!, halten sie voll drauf, und das war’s.«

»Faschisten, sag ich doch«, brüllte Ratte zurück.

»Voll der Polizeistaat«, meinte Kerschkamp. Um gleich darauf hinzuzusetzen: »Dabei fällt mir übrigens gerade Tietemann wieder ein, wisst ihr eigentlich, dass der irgendwelche Informationen weitergibt, über Schüler, meine ich, und zwar an den Verfassungsschutz!«

Tietemann war Lehrer an ihrer Schule. Er zeichnete sich vor allem dadurch aus, dass er die Namen seiner Schüler kurzerhand durch »Rindvieh« oder »Hornochse« und ähnliche Begriffe ersetzte, an denen er dann unbeirrbar für die nächsten Jahre festhielt. Dass er als Spitzel für den Verfassungsschutz arbeiten würde, war ein Gerücht, das schon seit längerer Zeit die Runde machte.

»Ist nur ein Gerücht«, sagte Appaz. »Muss nichts dran sein.«

»Wird schon stimmen«, meinte Kerschkamp, »wetten?«

Sie wollten quer durch die Berge. Auf kleinen Landstraßen in Richtung Troyes. Und dann an der Loire entlang in die Bretagne.

Erst mal. Und dann weitersehen.

Der Bus quälte sich knatternd die Steigung hoch. Eine halbe Ewigkeit hingen sie hinter einem Laster mit Anhänger, der sie mit schwarzem Dieselqualm einnebelte. Aber kaum ging es ein Stück bergab, so dass sie überholen konnten, wurde auch der Laster schneller.

Als Appaz hupte, damit er sie vorbei ließ, zog er mit einem Schlenker auf die Gegenfahrbahn.

»Der findet das witzig, der Arsch«, erklärte Kerschkamp. »Echt, jetzt wäre natürlich eine Karre mit richtig PS schon Wahnsinn, und dann einfach rechts vorbei…«

Das nächste Kaff hieß St. Mihiel. Appaz hatte keine Lust mehr weiterzufahren. Und Kerschkamp und Ratte wollten unbedingt was essen.

»Aber richtig«, erklärte Ratte. »Restaurant oder so.«

Es war inzwischen nach acht. Und jeder Laden war verrammelt. Das einzige Restaurant gehörte zum Hotel Central. Auf dem Parkplatz stand ein einsamer R4.

»He, ich weiß was, Leute«, sagte Kerschkamp. »Wir spachteln erst mal richtig und kaufen uns ein paar Pullen Wein und dann nehmen wir uns ein Zimmer oder so, wär doch spitze, oder?«

Er blickte nach hinten.

»Ich dachte, wir wollten Camping machen …«, sagte Lepcke.

»Siehst du hier irgendwo einen Campingplatz?«, fragte Kerschkamp. »Oder willst du das Zelt auf dem Parkplatz aufstellen oder was?«

»Vergiss es«, sagte Ratte. »Die Idee ist geil. Wir gehen voll ins Hotel.«

»Und der Bus?«, fragte Appaz.

»Ich bleibe hier«, ließ sich der Ami vernehmen. »Ich hab sowieso keine Lust, was zu essen.«

Appaz guckte Kerschkamp an.

Kerschkamp zuckte mit der Schulter.

»Los, Leute«, sagte Ratte und stiefelte mit seiner Reisetasche zum Hoteleingang rüber.

Appaz gab dem Ami die Autoschlüssel.

»Wenn du pinkeln musst, kannst du ja zu uns ins Zimmer kommen«, sagte Lepcke.

»Oder zum Frühstück«, sagte Appaz.

Der Ami wühlte wortlos seinen Schlafsack aus dem Gepäck. Irgendwie war es Appaz ganz lieb, dass er nicht mitkam. Ohne dass er genau sagen konnte, weshalb eigentlich.

Der Gastraum war genauso leer wie der Parkplatz. Und wer immer zu dem R4 gehörte, saß jedenfalls auch nicht an der Theke.

»Vielleicht der Koch«, meinte Kerschkamp. »Könnte doch sein …«

Eine Frau kam aus der Küche geschlurft. Mit einer Kittelschürze, die nur halb zugeknöpft war. Die Frau war zu fett. Die Träger ihres Büstenhalters schnitten tief ins Fleisch.

»Du redest«, sagte Kerschkamp und verpasste Lepcke einen Rippenstoß.

»Wollen wir nicht lieber …«, setzte Lepcke an.

»Quatsch«, unterbrach ihn Kerschkamp sofort, »frag erst mal, was ein Zimmer kostet.«

»Und ob wir überhaupt noch was zu essen kriegen in dem Schuppen hier«, sagte Ratte.

Lepcke stotterte ein paar Sätze vor sich hin. Appaz verstand so gut wie gar nichts. Aber er war auch der Einzige von ihnen, der Latein hatte statt Französisch. Die drei Jahre Wahlunterricht in der nullten Stunde bei Kosarchew zählten eher nicht. Zumal Korsarchew ihn grundsätzlich mit einer Fünf bedacht hatte. Was vielleicht auch nicht ganz ungerechtfertigt gewesen war.

Die Frau schien ebenfalls kaum etwas von Lepckes Stotterei zu verstehen. Allerdings hatte Lepcke auch die Angewohnheit, die Zähne beim Reden nicht auseinanderzukriegen. Zumindest wenn er aufgeregt war.

»Une chambre«, erklärte Ratte und hielt einen Finger hoch.

»Pour une nuit«, sagte Kerschkamp und hielt ebenfalls einen Finger in die Höhe.

Die Frau fragte irgendwas.

»Klar für uns, für wen sonst?«, erwiderte Kerschkamp und nickte.

 

»Pour quatre personnes …« Er zeigte erst vier Finger und dann noch mal auf jeden von ihnen.

Die Frau musterte sie.

»Jetzt überlegt sie, ob wir schwul sind«, stellte Ratte fest.

»Combien?«, fragte Kerschkamp und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander, um klarzumachen, dass er wissen wollte, wie viel das Zimmer kostete.

»Dreißig«, sagte die Frau und langte hinter sich zum Schlüsselbrett. Knallte einen Schlüssel auf den Tresen und sagte: »Wenn Sie noch was essen wollen, kann ich Ihnen Steak frites anbieten. Avec d’haricots verts.«

»Die … die redet ja deutsch …«, stotterte Ratte verblüfft.

»Ist ja irre«, sagte Kerschkamp.

»Selbstverständlich«, sagte die Frau.

Appaz bestellte viermal Steak frites.

»Und irgendwas zum Nachtisch«, sagte Ratte.

Das Zimmer war riesig und roch nach ungelüfteten Betten. Kerschkamp stieß die Fensterläden auf.

Unter einem Ölbild mit irgendeiner Blumenwiese stand ein Doppelbett. Und an der Wand eine Klappliege.

»Das sind aber nur drei Betten«, stellte Lepcke fest.

»Mann, bist du blöd?«, regte sich Ratte auf. »Für dreißig Franc, Alter, überleg mal! Ist doch geil!«

Er warf sich quer über das Doppelbett.

»Und außerdem kann einer auf dem Fußboden schlafen, sind ja genug Decken da …«

»Ich nicht«, sagte Lepcke, »ich nehme die Liege.«

Kerschkamp verschwand auf dem Flur. Als er zurückkam, sagte er: »Das Klo ist okay.«

»Hä?«, machte Ratte. »Und was ist das da?«

Er zeigte auf das Bidet, das neben dem Waschbecken stand.

»Zum Arsch abspülen«, sagte Kerschkamp. »Das ist in Frankreich so.«

»Echt?«, fragte Ratte und drehte den Wasserhahn auf. »Ist ja irre …«

Ratte zog den Reißverschluss seiner Jeans auf. Er grinste und pinkelte in das Bidet.

»Du bist eine Sau«, sagte Lepcke.

Kerschkamp drehte sich zu Appaz.

»Willst du im Bett schlafen?«, fragte er. »Dann geh ich auf den Fußboden …«

»Vergesst es«, sagte Ratte, während er die letzten Tropfen abschüttelte und seinen Schwanz wieder in der Hose verstaute, »ich penne auf dem Fußboden. Ich leg mich doch nicht mit einem von euch ins Bett und lass mich angrabbeln, nee, Leute, nicht mit mir!«

»Haha«, machte Kerschkamp.

Als sie in den Gastraum zurückkamen, wartete die fette Frau schon auf sie. Aus der Küche drang der Geruch nach gebratenem Fleisch und altem Öl. Dennoch waren die Pommes dann das einzig Genießbare, die Steaks waren zäh wie Leder, und die Bohnen faserig und kaum weniger hart.

Sie tranken Rotwein aus der verschmierten Karaffe, die die Frau ihnen auf den Tisch gestellt hatte, zusammen mit einer angestoßenen Platte, auf der ein Camembert zerlief und ein paar einsame Salamischeiben vor sich hin schwitzten.

Ratte verlangte mehr »pain«. Als die Karaffe leer war, brachte ihnen die Frau wortlos eine neue.

Appaz merkte, wie ihm der Wein in den Kopf stieg.

Ratte rülpste und lehnte sich zurück. Aus dem Radio hinter der Theke dröhnte Gilbert Becaud. Monsieur hunderttausend Volt.

»Scheißmusik«, meinte Kerschkamp und angelte sich die Reste von Lepckes Steak. »Scheißfraß.«

»Sollen wir dem Ami vielleicht was raus bringen?«, fragte Lepcke.

»Quatsch«, meinte Kerschkamp mit vollem Mund, während er sich die letzten Pommes auf den Teller schaufelte.

»Eine Tüte wäre geil jetzt«, stellte Ratte fest. »Morgen müssen wir echt sehen, wo wir was kriegen …«

Auf dem Weg ins Zimmer hatte Lepcke deutlich Mühe, die Treppenstufen nicht zu verfehlen. Ratte haute sich auf den Boden, schob sich seinen Parka unter den Kopf und furzte.

Draußen wurde ein Auto angelassen. Wahrscheinlich der R4. Appaz starrte ins Dunkel, bis das Licht der Scheinwerfer über die Tapete huschte. Irgendwo betätigte jemand die Klospülung. Dann war alles still.

»Nacht«, sagte Kerschkamp.

»Nacht«, sagte Appaz.

Ratte schnarchte. Und Lepcke knirschte im Schlaf mit den Zähnen. Die Bettdecke roch nach Mottenpulver.

Nach einer Weile fing Kerschkamp an zu wichsen. Erst nur ganz vorsichtig, aber dann immer schneller.

Appaz drehte sich zur Seite.

Kerschkamp wartete einen Moment, dann erledigte er den Rest. Als er kam, knackte er mit den Zehen. Appaz wurde wach, weil ihm die Sonne ins Gesicht schien. Unten auf dem Platz dröhnte ein Mülllaster. Eine Männerstimme rief etwas auf Französisch.

Ratte hockte auf dem Bidet. Als er sah, dass Appaz wach war, grinste er.

»Geil, so’n Bidet.«

Er drehte den Hahn auf und wischte sich mit der Hand den Hintern ab. Stand auf und zog seine Jeans hoch.

»Du bist eine solche Sau«, ließ sich Lepcke von seiner Liege vernehmen.

»Gut geschlafen?«, fragte Appaz.

»Geht so«, sagte Lepcke.

Ratte putzte sich die Zähne, wobei er den Schaum spuckend und prustend zu gleichen Teilen auf den halbblinden Spiegel und sein T-Shirt verteilte.

Schlaftrunken streckte Kerschkamp den Kopf unter der Decke hervor. Auf seiner Nase glänzte ein Eiterpickel.

Sie beschlossen, auf das Hotelfrühstück zu verzichten und lieber irgendwo unterwegs ein paar frische Baguettes zu kaufen.

Der Ami hatte die Heckklappe aufgemacht. Er las schon wieder im Steppenwolf.