1975

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3

In Troyes verfuhren sie sich. Bis sie herausfanden, dass sie immer nur den Schildern »Autres directions« folgen mussten.

Irgendwo zwischen Sens und Orleans fing Kerschkamp an, von Delius zu erzählen, der bei ihnen in der Parallelklasse war und bei einer Therapiegruppe mitmachte.

»Mit Schreien und so«, sagte Kerschkamp. »Und neulich hatten sie einen Guru da, aus Indien. So ein Typ, der nichts gegessen hat, weißt du? Der hat immer nur Wasser getrunken und im Yogasitz auf dem Fußboden gehockt. Aber dann war Wochenende, und sie haben ihn aus Versehen eingeschlossen. Und als sie am Montag wieder hinkamen, war der Guru inzwischen verhungert. Stimmt echt, hat mir Delius selber erzählt…«

»Haha«, machte Ratte von hinten.

Kerschkamp zuckte mit der Schulter.

»War aber so, kannst du mir glauben.«

Ratte schob eine neue Kassette in den Recorder. Genesis. A Nursery Crime. I heard the old man teil his taie, tinker alone within a storm … Aber Lepcke wollte wieder Zappa hören. Roxy and Elsewhere.

»Auch gut«, meinte Ratte.

Aber als er die Play-Taste drückte, gab der Kassettenrecorder keinen Ton mehr von sich.

»Das ist der Scheißspannungswandler, den der Dicke gebaut hat«, fluchte Ratte. »Null Saft. Kannst du vergessen!«

»Wir können die Taschenlampenbatterien nehmen«, schlug Kerschkamp vor und fummelte die Taschenlampe aus dem Kasten unter der Sitzbank hervor.

»Scheiße, sind leer«, sagte er, nachdem er vergeblich versucht hatte, die Lampe anzuknipsen.

»Leg sie hinter die Windschutzscheibe«, schlug Lepcke vor, »wenn sie richtig heiß sind, funktionieren sie wieder …«

Kerschkamp packte die Batterien auf die Heizungsschlitze hinter der Scheibe.

»Das bringt es nicht, ohne Musik zu fahren«, stellte Ratte fest.

Kerschkamp kramte Appaz’ Mundharmonika aus dem Handschuhfach. Er blies ein paar schiefe Töne.

»Du musst ziehen«, sagte Appaz, »quetsch die Lippen mehr zusammen …«

»Das nervt«, rief der Ami von hinten.

»Bin ich John Mayall oder was?«, fragte Kerschkamp beleidigt und legte die Mundharmonika wieder weg.

Links von ihnen war die Loire. Appaz hatte sich den Fluss nicht so breit vorgestellt. An manchen Stellen ragten Sandbänke aus dem grünblauen Wasser. Wie kleine Inseln, mit Büschen und sogar Bäumen darauf, deren Zweige dicht über dem Fluss hingen.

Die Straße war nicht schlecht, aber die Kurven verliefen genau so, dass der Steg der Windschutzscheibe Appaz immer wieder für einen Moment die Sicht nahm. Und der blöde Trockenfisch, den Hansi von seinem Ausflug an die Ostsee mitgebracht und als Glücksbringer an den Rückspiegel gehängt hatte, baumelte nervtötend hin und her, bis Kerschkamp ihn kurzerhand abriss und zwischen die Batterien warf.

Appaz merkte, dass er langsam müde wurde. Kerschkamp ging es genauso. Aber jedes Mal, wenn er gähnen musste, drehte er sich zur Seite, damit Appaz nichts merkte.

Appaz brach sich ein Stück Scho-Ka-Kola ab und hielt Kerschkamp die rotweiße Blechdose hin. Er hatte keine Lust, den Ami fahren zu lassen.

»Leonard Cohen hat mal geschrieben, dass er das Lenkrad lieber selbst in der Hand haben will, wenn er sich schon dem ganzen Chaos aussetzt«, erzählte er Kerschkamp.

Kerschkamp grinste.

»Bei seinen Songs wäre es aber irgendwie schon besser gewesen, wenn er mal jemand anders rangelassen hätte …«

In Saumur war ein Campingplatz ausgeschildert. Eine Wiese mit hohen Bäumen auf einer Insel im Fluss. An der Einfahrt lungerten ein paar Jugendliche rum. Langhaarige. Ein Typ mit einer dicken Hornbrille nickte ihnen zu.

»Französische Freaks, oder was?«, meinte Kerschkamp, als sie vorbeifuhren.

Sie bauten das Zelt auf. Lepcke holte Wasser vom Klo und rührte auf dem Campingkocher eine Tütensuppe an.

»Und danach Ravioli in Tomatensauce«, sagte Ratte und kramte die entsprechende Dose aus dem Karton mit den Vorräten.

Plötzlich waren die Jugendlichen da. Wie selbstverständlich hockten sie sich zu ihnen auf den Rasen.

»Wollt ihr auch was?«, fragte Kerschkamp,

»’aschisch?«, fragte der mit der Hornbrille.

»Nee«, grinste Kerschkamp, »Soupe de jour. Et après du Ravioli…«

»He, warte mal«, mischte sich Ratte ein, »vielleicht wollen die uns was verkaufen, kapierst du? Haschisch?«, wendete er sich an die Hornbrille. »Dope?«

»Oui, oui…«

Der Typ förderte eine Blechdose aus seiner Umhängetasche zutage.

»’aschisch …«

»O nee, Leute«, ließ sich der Ami vernehmen, »was soll das denn jetzt?«

Aber keiner beachtete ihn. Die Franzosen klebten mehrere Rizla-Blättchen zusammen und bauten einen Joint, der sich sehen lassen konnte. Ratte riss einen schmalen Streifen Pappe vom Einband eines zerfledderten Donald-Duck-Taschenbuchs.

»Was Besseres als Mundstück gibt es gar nicht«, klärte er die Franzosen auf, die kein Wort verstanden, aber freundlich nickten.

Ein oder zwei Stunden später kochte die Tütensuppe immer noch vor sich hin. Ratte löffelte die Ravioli kalt aus der Dose. Und sie waren alle so breit, dass sie Mühe hatten, die Hand mit dem Joint überhaupt noch an die Lippen zu kriegen.

Auch der Ami war breit. Er wollte ihnen unbedingt aus dem Steppenwolf vorlesen. Keiner brachte die Energie auf, ihm zu sagen, dass er nervte.

Der mit der Hornbrille spielte Gitarre. Mehr schlecht als recht. Er hieß Didier. Und sein Kumpel hieß Jean-Jacques. Oder Jean-Pierre. Egal, irgendwas mit Jean jedenfalls. Er prügelte wie wild auf die Bongos ein, die Kerschkamp aus dem Bus geholt hatte.

Die Franzosen luden sie für abends ein. Bei Jean war eine Fete. Oder bei Pierre. Egal.

»Avec des Alles«, sagte Didier.

»Geil«, erklärte Ratte. »Wir kommen.«

Didier kritzelte die Adresse auf einen Zettel und beschrieb ihnen, dümmlich vor sich hin kichernd, den Weg. Dann wankten die Franzosen quer über den Platz in Richtung Stadt, um noch Bier zu kaufen.

Lepcke tauchte einen Löffel in die Tütensuppe und verbrannte sich prompt die Lippen. Der Ami lag auf der Seite und pennte. Ein Spuckefaden tropfte auf den Steppenwolf.

Als Appaz zum Klo ging, um sich zu waschen, kam ihm Kerschkamp entgegen.

»Scheißklos«, sagte er und schien für einen Moment vollkommen nüchtern zu sein, »da gehe ich nicht drauf. Alles vollgeschissen.«

Kerschkamp hatte recht. Die Klos waren ziemlich widerlich. Stehklos. Und so verdreckt, dass Appaz mit seinen Turnschuhen lieber gar nicht erst den Versuch machte, sich auf die Trittrasten zu stellen.

Er putzte sich die Zähne an einem Waschbecken, das kaum besser aussah.

Ratte hatte inzwischen eine Dose Leberwurst aufgemacht. Sie schmierten sich jeder ein Stück Baguette.

»Ölsardinen wären geil jetzt«, meinte Ratte mit vollem Mund, »da kannst du hinterher trinken ohne Ende. Wir müssen unbedingt Ölsardinen kaufen, wenn wir in die Stadt gehen. Oder glaubst du, die haben hier gar keine Ölsardinen?«

»Klar haben die Ölsardinen«, sagte Kerschkamp. »Ölsardinen gibt’s überall.«

Als sie über die Brücke kamen, war gleich rechts ein Straßencafe. Sie steuerten einen leeren Tisch an und bestellten Milchkaffee. Bis auf Ratte, der unbedingt Pemod trinken wollte. Sie waren immer noch breit.

Die Straße vor ihnen flimmerte in der Hitze, obwohl die Sonne schon hinter den Häusern verschwunden war.

Ein paar französische Männer am Nachbartisch guckten böse zu ihnen rüber. Kerschkamp verschwand aufs Klo. Er blieb eine Ewigkeit weg. Der Ami faselte von irgendwelchen Freimaurern, die in den höchsten Positionen sitzen und eine weltweite Verschwörung aushecken würden. Woraufhin Ratte erzählte, dass er mal nachts mit der Eisenbahn irgendwohin gefahren sei, und da sei eine Baghwan-Frau im Abteil gewesen, mit der er dann gebumst habe. Obwohl noch ein anderer Typ mit im Abteil saß, aber der schlief.

»Das ist ganz normal für die«, sagte Ratte, »freie Liebe und so, voll geil!«

»Glaube ich nicht«, sagte Lepcke. »Echt, einfach so?«

»Klar.« Ratte nickte. »Ist bekannt. Weiß doch jeder.«

Kerschkamp kam vom Klo.

»Mann, hat das gutgetan … Kann ich nur empfehlen, Leute!«

Als Appaz die Kabinentür hinter sich zuschloss, sah er die Kugelschreiberschrift auf der Tapete neben dem Lichtschalter: KERSCHKAMP WAS HERE. HEAVY TOUR ’75.

Die Party war ein paar Straßen weiter. Sie brauchten nicht lange nach der Hausnummer zu suchen, weil die Musik so laut war, dass sie es sogar durch die geschlossenen Fenster hörten. Im Treppenhaus stolperten sie über ein knutschendes Pärchen. Ratte grinste. Der Ami guckte angewidert weg.

Die Wohnungstür war offen. Im Flur drückte sich das nächste Pärchen rum. Das schon deutlich weiter war als das im Treppenhaus.

»O Mann«, stöhnte Ratte glücklich. »Geil.«

Didier kam mit einer Flasche Rotwein auf sie zugetorkelt. Er umarmte einen nach dem anderen, als wären sie uralte Freunde und hätten sich Jahre nicht gesehen. Dann stürzte er plötzlich in die Küche und kotzte in die Spüle.

Ratte zuckte mit den Achseln und zeigte mit dem Kopf auf das Pärchen in der Ecke. Der Typ trug ein grellorangefarbenes Jeanshemd. Appaz konnte nur seinen Rücken sehen und die Beine der Frau, die seinen Hintern umklammerten.

Kerschkamp boxte Appaz in die Seite und hielt grinsend seinen Daumen in die Höhe. Der Ami sah aus, als wollte er Didier gleich beim Kotzen Gesellschaft leisten.

Sie drückten sich in den Raum, aus dem die Musik kam. Ein Sofa stand beiseite gerückt an der Wand. Auf dem Teppich saßen ein paar Leute im Kreis und ließen einen Joint rumgehen. Jean oder Pierre oder wer auch immer legte gerade eine neue Platte auf. Ratte steuerte zielstrebig den Platz neben einem Mädchen mit langen blonden Haaren an und begann augenblicklich damit, sie zuzulabern. Appaz quetschte sich auf ihre andere Seite.

 

»Daytime is not my time«, dröhnte es aus den Lautsprechern, »but my time is the right time …«

»Hä?«, machte Kerschkamp verblüfft. »Das ist doch Jane, Leute!«

Appaz nickte. Verrückt. Sie waren auf einer Party mitten in Frankreich, und die Franzosen hörten Jane.

»Jane ist aus Hannover«, versuchte Kerschkamp Jean oder Pierre zu erklären, »genau wie wir! D’Hanovre, wie wir …«

Jean oder Pierre grinste und hielt Kerschkamp den Joint hin.

Ratte wollte der Blonden klarmachen, dass sie auch eine Band hätten. Pain in the Ass. Mit ihm als Gitarristen. »And also him«, er zeigte auf Lepcke. »He plays guitar, too.«

»You are Jane?«, fragte die Blonde ungläubig.

»Nein … o Mann, erklär du es ihr!«

Ratte stand auf, um sich eine Flasche Bier aus der Küche zu holen. Appaz nutzte die Gelegenheit und machte es sich ein bisschen bequemer. Mit dem Kopf auf dem Oberschenkel der Blonden. Sie schien nichts dagegen zu haben. Sie beugte sich vor, so dass ihm ihre Haare übers Gesicht streiften.

»We play the blues«, erklärte Appaz an ihren Brüsten vorbei, die sich deutlich unter ihrem T-Shirt abzeichneten.

»But we know Jane«, ließ sich Kerschkamp von irgendwoher vernehmen, »and I’m a drummer, too. Like Peter Panka from Jane, you know?«

»I like the blues«, flüsterte die Blonde und beugte sich noch weiter vor.

Appaz hob seinen Kopf ein bisschen und küsste sie.

»He, warte mal, was soll das denn?«

Ratte war zurück. Appaz hörte, wie er sein Bier aufmachte.

Die Blonde schob ihm ihre Zunge zwischen die Lippen. Sie strich ihm über den Arm und über die Schulter. Dann blieb ihre Hand auf seiner Brust liegen.

»I love the blues«, flüsterte Appaz an ihrem Mund.

Sie kicherte. Richtete sich auf und warf ihre Haare zurück. Appaz war schwindlig.

»Kameradenschwein«, stellte Ratte fest. »Aber hier, hast du schon gesehen, wie das Bier bei denen hier heißt?«

Er hielt Appaz die Flasche hin und lachte blöde.

»La Meuse«, las Appaz.

»Ist ja irre«, sagte Kerschkamp.

Der Typ mit dem orangefarbenen Hemd kam ins Zimmer, und die Blonde nahm ihre Hand von Appaz’ Brust. Der Typ sagte etwas zu ihr. Sie warf wieder ihre Haare zurück und stand auf. Er zog sie hinter sich her aus dem Zimmer.

»Hä?«, machte Ratte und rülpste. »Kapier ich nicht.«

Jean oder Pierre beugte sich zu Kerschkamp und redete hektisch auf ihn ein.

»Was ist denn los plötzlich?«, wollte Ratte wissen.

»Irgendwas, dass wir besser gehen sollen«, sagte Kerschkamp, »wegen Kurt eben und der Blonden …«

»Wieso? Ist das die Freundin von dem Typen oder was?« Rattes Stimme klang aggressiv. »Das ist doch der Hühnerficker vom Flur eben, was will der überhaupt?«

Er stand leicht schwankend auf.

»Lass uns abhauen«, sagte Appaz.

»Genau«, sagte Kerschkamp.

Jean oder Pierre war voll damit beschäftigt, den nächsten Joint zu rollen. Die anderen taten so, als wären Appaz und seine Freunde schon nicht mehr da.

»Das ist doch Scheiße«, schimpfte Ratte laut, »was soll das überhaupt? Ich denke, das ist eine Party hier …«

Aber er folgte Kerschkamp und Appaz auf den Flur. Von dem Typen mit dem orangefarbenem Hemd war nichts zu sehen. Von der Blonden auch nicht. Didier saß in der Küche und hatte offensichtlich nochmal gekotzt. Diesmal auf den Fußboden. Aber er hob die Hand, als er sie sah.

Lepcke stand an der Tür zum Klo und rüttelte an der Klinke.

»Scheiße«, sagte er, »der Ami hat sich eingeschlossen … Los, Mann, jetzt mach schon auf!«

Lepcke haute mit der Faust gegen die Tür.

»Mach auf, Mann!«

Appaz guckte erst Kerschkamp an und dann Ratte. Sie hatten keine Ahnung, was sie machen sollten.

Die Klotür ging auf. Der Ami kam kichernd raus.

»Habt ihr Schiss gekriegt, was?«

Er kicherte immer weiter.

»Sehr witzig«, sagte Lepcke beleidigt.

»Los, wir gehen«, erklärte Kerschkamp und schob den Ami vor sich her ins Treppenhaus.

Als sie auf die Straße kamen, stand auf der anderen Seite die Blonde. Mit einem Mädchen im Minirock. Sie drehten sich schnell weg. Jetzt sah Appaz auch den Typen mit dem orangefarbenen Hemd. Er lehnte ein Stück entfernt an der Hausmauer und rauchte. Und er war nicht alleine. Appaz konnte drei oder vier andere Typen hinter ihm im Halbdunkel erkennen.

»Scheiße«, sagte Ratte und bückte sich zum Bordstein, um den Boden der Bierflasche abzuschlagen, die er mitgenommen hatte.

»Hör auf«, sagte Kerschkamp.

Ratte guckte hoch.

»Ich mach’s«, sagte er.

Appaz schüttelte den Kopf und zog ihn mit sich.

»Sie kommen«, sagte Kerschkamp.

Lepcke war der Erste von ihnen, der anfing zu rennen.

»Habt ihr Schiss oder was?«, fragte der Ami keuchend.

Appaz blaffte ihn an, dass er endlich die Schnauze halten sollte. Der Ami hatte keine Ahnung, worum es überhaupt ging.

Als sie auf die Hauptstraße einbogen, wurden sie ein bisschen langsamer. Appaz war froh, dass noch so viele Leute unterwegs waren. Der Typ mit dem orangefarbenen Hemd und seine Freunde waren verschwunden.

An der Brücke fing Lepcke wieder an zu rennen.

»Glaubst du, dass sie auf den Campingplatz kommen?«, keuchte Kerschkamp neben Appaz.

»Quatsch«, sagte er. Aber ganz sicher war er sich nicht.

»Ihr habt Schiss, das sehe ich doch!«, kicherte der Ami.

Ratte hielt immer noch die leere Bierflasche in der Hand. Und nahm sie auch mit, als er in den Bus kletterte. Sie hatten entschieden, dass immer einer im Bus schlafen durfte. Der Reihe nach. Heute war Ratte dran. Die anderen quetschten sich ins Zelt.

Appaz lag noch eine ganze Weile wach. Der Ami stöhnte im Schlaf und schmatzte laut. Appaz hörte, wie Lepcke direkt hinter das Zelt pinkelte, weil er Angst hatte, nach vorne zum Klo zu gehen. Später schreckte er aus irgendeinem bescheuerten Traum hoch und war überzeugt, dass jemand sich am Reißverschluss des Zeltes zu schaffen machte. Aber es war nur Kerschkamp, der seinen Schlaf sack auf gezogen hatte, weil ihm zu warm geworden war.

Das Zelt stand so, dass sie ab neun in der prallen Sonne lagen. Aber im Bus schien es nicht viel besser zu sein. Rattes T-Shirt war bereits klatschnass geschwitzt, als er den Kopf ins Zelt steckte und fragte, ob einer von ihnen mit zum Baden käme.

»In diesem Fluss hier«, sagte Ratte, »muss doch geil sein.«

»Loire«, sagte Lepcke, »der Fluss heißt Loire.«

»Du mich auch«, sagte Ratte.

Am Ufer waren ein paar flache Tümpel. Das Wasser reichte ihnen kaum bis zu den Knien und war ziemlich warm.

»Wie Pisse«, stellte Kerschkamp fest.

»La Meuse«, sagte Ratte und stürzte sich kopfüber in den Fluss.

Sie schwammen ein paar Runden. Lepcke war der einzige von ihnen, der mit dem Kopf nicht untertauchte. Appaz war überrascht, wie gut der Ami schwimmen konnte. Hatte er ihm irgendwie nicht zugetraut.

Als sie zum Campingplatz zurückkamen, saßen Didier und Jean oder Pierre und die Blonde bei ihnen vorm Zelt.

»Hi«, sagte die Blonde und lächelte Appaz zu. Didier hatte immer noch das T-Shirt von der Party an. Auf dem Bauch war ein festgetrockneter Kotzfleck. Aber es schien ihm deutlich besser zu gehen als am Abend zuvor.

Sie hatten frisches Baguette mitgebracht. Kerschkamp kochte einen großen Topf Instantkaffee.

Appaz hockte sich neben die Blonde. Jedes Mal, wenn sich einer von ihnen bewegte, berührten sich ihre Arme.

»Und was sollte die Scheiße gestern Abend?«, fragte Ratte, während er sich den weißen Teig aus seinem Stück Baguette in den Mund stopfte.

Der Ami kicherte.

»Sorry«, sagte Didier. Er zog eine Tüte mit Gras aus seiner Umhängetasche. Grinste sie an und kurbelte einen Joint so dick wie sein Mittelfinger.

»Habt ihr noch mehr?«, fragte Ratte. »Ich meine, für uns, für die Fahrt… we want to buy it!«

Der Joint wechselte von Didier zu Jean oder Pierre. Und zurück.

»Acheter«, sagte Lepcke.

»Genau«, sagte Kerschkamp. »Ordentlichen Stoff für unterwegs. - Combien?«, fragte er Jean oder Pierre und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander.

Didier griff sich unters Hemd. Er nestelte einen schmierigen Brustbeutel hervor. Mit einem schönen, großen Piece. Schön sorgfältig in Stanniolpapier eingewickelt.

Ratte pfiff durch die Zähne.

»One hundred«, sagte Didier.

»Hundert Francs?«, fragte Kerschkamp. »Ist das jetzt gut oder was?«

»Special off er«, nickte Didier und gab den Joint an die Blonde weiter.

»Ist gebongt«, sagte Ratte und fummelte eine Rolle Francs-Scheine aus seiner Jeanstasche.

Die Blonde zog, bis die Jointspitze knisternd aufflammte. Plötzlich drückte sie sich an Appaz und presste ihren Mund auf seine Lippen. Als er sie küssen wollte, blies sie ihm den Rauch in den Mund. Er musste husten.

»Don’t forget me«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

Sie schienen es plötzlich eilig zu haben. Didier streckte jedem die Hand hin. Jean oder Pierre grinste benommen in die Runde. Dann waren sie auch schon weg. Den Joint nahmen sie mit. Didier hatte seinen Arm um die Hüfte der Blonden gelegt.

»He, die haben uns nicht mal ziehen lassen«, stellte Kerschkamp empört fest.

Der Ami kicherte.

Ratte überlegte, wo er das Piece am besten verstecken konnte.

»Im Aschenbecher vom Bus«, schlug Lepcke vor.

Sie bauten das Zelt ab. Der Ami beanspruchte wieder seinen Platz auf dem Bett. Und holte den Steppenwolf raus.

»Los, Leute, auf geht’s. Ans Meer!«, brüllte Kerschkamp, bevor er den Kassettenrecorder auf volle Lautstärke drehte. Gong. Flying Teapot. I am, you are, we are … crazy!

Dass der Kasettenrecorder plötzlich wieder problemlos funktionierte, irritierte keinen von ihnen.

Ratte saß vorne. Als sie auf die Landstraße einbogen, sagte er: »Das war bescheuert von dir. Du hättest sie mit ins Zelt nehmen und bumsen sollen. Genau deshalb ist sie gekommen, glaub mir!«

Appaz schaltete vom zweiten in den dritten Gang. Vierzig, fünfzig, sechzig. Bei zweiundsechzig im vierten war ein leises Summen über dem Motorgeräusch zu hören. »Der Motor singt«, hatte Appaz’ Vater früher immer gesagt, wenn sie mit dem alten, grauen Käfer in die Ferien gefahren waren. Appaz griff nach der Dose mit der Autofahrerschokolade. I am, you are, we are … crazy!

4

Acht Stunden später liefen sie über den Strand von Quiberon. Den Bus hatten sie auf einer Wiese neben der Jugendherberge geparkt. Der Ami war im Zelt geblieben.

In der Jugendherberge hatten sie Andi und Corner getroffen, die schon seit zwei Tagen da waren. Sie waren von Hannover in einem Stück bis Paris getrampt. Und dann mit irgendwelchen Hippies mit einem Mercedes-Laster weiter in die Bretagne.

Andi hatte von einer Fete am Abend zuvor erzählt. Mit ein paar guten Leuten aus Schleswig-Holstein, Peter und noch zwei anderen, die auch jede Menge Dope dabei hatten. Und zwei französische Mädchen seien da gewesen, die mit ihren Eltern in Quiberon Urlaub machten. Stephanie und Caroline.

»Voll irre«, hatte Andi erzählt, »und echt total anders als bei uns. Wir haben am Feuer gesessen, und sie hat sich vor mich gesetzt, und dann hat sie nach hinten gefasst und mir die Hose aufgemacht. Echt, und um uns rum saßen die anderen und so, aber das hat sie überhaupt nicht gestört…«

Und dass Stephanie einen Rock anhatte, der so kurz war, das man alles sehen konnte, hatte Andi noch erzählt. Und der von Caroline war kein Stück länger gewesen. Andi und Corner hatten sich um halb neun mit ihnen am Strand verabredet.

Ratte erzählte von der Fete bei Didier. Allerdings schmückte er die Geschichte mit dem Typen in dem orangefarbenen Hemd reichlich aus.

»Das passiert dir bei denen hier nicht«, sagte Andi. »Die sind richtig gut drauf hier.«

»Voll willig, was?«, meinte Kerschkamp.

»Aber Stephanie gehört mir«, erklärte Andi, »ihr müsst sehen, was mit Caroline ist…«

 

Er guckte erst Ratte und dann Appaz an.

»Ist doch Scheiße«, sagt Kerschkamp. »Wie macht ihr das überhaupt immer? Ich meine, wieso immer ihr …«

Andi grinste nur. Andis Mund war eigentlich viel zu groß. Und viel gewachsen war Andi in den letzten Jahren auch nicht gerade. Er reichte Appaz kaum bis zum Kinn. Aber Andi konnte so viel Scheiße bauen, wie er wollte, wenn er einen hinterher anlächelte, war alles vergessen. Und er schleppte so viele Mädchen ab, dass selbst Ratte nicht mitkam.

Appaz mochte Andi irgendwie. Er hätte sich gut vorstellen können, ihn zum Bruder zu haben. Als sie gerade erst aufs Gymnasium gekommen waren, war er mit Andi immer im Kanal schwimmen gewesen. Andi war sogar von der Brücke gesprungen, was sich Appaz nie getraut hatte. Und einmal war er auf einen Kohlenkahn geklettert und ein Stück mitgefahren. Hatte sich ganz vorne aufs Deck gelegt und so getan, als würde er sich sonnen, wie irgendein Scheiß-Millionär auf seiner Luxusjacht, irgendwo im Mittelmeer. Bis der Schiffer ihn entdeckt und mit einer Eisenstange vom Schiff geprügelt hatte. Aber da waren sie schon älter, und kurz danach war Andi auch von der Schule geflogen, weil er das Klassenbuch verbrannt hatte, in der vagen Vorstellung, dass der Lehrer sich die Zensuren nicht kopiert hatte. Was allerdings eine vergebliche Hoffnung gewesen war.

Jetzt machte Andi eine Lehre als Drucker. Er war gerade in die SDAJ eingetreten, und am 1. Mai hatte er versucht, ein paar von seinen alten Freunden mit zur Kundgebung zu schleppen.

»Ihr müsst euch auch organisieren, Leute. Ihr wisst doch, allein machen sie dich ein«, hatte er am Abend vorher im Maulwurf verkündet, während aus der Musikbox Child in Time dröhnte. Appaz und Kerschkamp waren auch tatsächlich hingefahren, auf Kerschkamps Kreidler, aber irgendwie konnten sie mit Andis Gewerkschaftsfreunden nichts anfangen.

Andi wohnte immer noch bei seinen Großeltern in der Gartenkolonie am Kanal. Eine seiner besten Geschichten war, wie er mal versucht hatte, Hanfblätter in der Pfanne zu rösten. Weil er unbedingt was rauchen wollte und die Blätter noch zu frisch waren. Aber natürlich musste ausgerechnet seine Großmutter dazu kommen und fragen, was er da machte. Andi hatte ihr schnell irgendwas von einem neuen Gewürz erzählt. Wie Nudeln mit Salbei oder so was. Und dann hatte er mit seiner Großmutter Spaghetti mit gerösteten Hanfblättern gegessen, und am nächsten Tag kam sie an und wollte noch mehr von dem neuen Gewürz haben, für den Linseneintopf für Andis Großvater!

Von Corner wusste Appaz nicht viel, nur dass Corners Vater Polizist war. Was Corner allerdings nie davon abgehalten hatte, die Wasserpfeife anzuschmeißen, kaum dass der Alte zur Tür hinaus war. Weshalb Appaz ihn eigentlich auch nur breit kannte.

Aber Corner wohnte inzwischen nicht mehr zu Hause, sondern in einer Wohngemeinschaft, wofür ihn Appaz ein bisschen bewunderte. Corner redete nicht viel. Um den Hals trug er immer ein Lederband mit einem handgeschnitzten Peace-Zeichen. Ungefähr so groß wie ein kleiner Fußball. Allerdings spielte er nicht schlecht Gitarre. Nur mit Mädchen hatte er nicht viel am Hut.

Stephanie und Caroline hatten tatsächlich Miniröcke an, die kaum etwas verbargen. Lepcke guckte schnell woanders hin und stotterte dann mit knallrotem Kopf, dass sie noch zum Supermarkt müssten, um Wein zu kaufen. Aber Stephanie hatte eine Flasche in ihrer Umhängetasche.

Andi schlug vor, zurück zu laufen bis zu den Klippen. Er ging mit Stephanie vorneweg, eng umschlungen. Alle paar Meter blieben sie stehen, um zu knutschen. Und einmal sah Appaz ganz deutlich, wie sie ihm mit der Hand über die Hose strich.

Ratte quatschte Caroline zu. Und Kerschkamp fing plötzlich an, von irgendeinem Buch zu erzählen, über Leute, die in einem Hippiedorf im Zentralmassiv lebten. Ohne Strom, und das Wasser müssten sie aus dem Fluss holen, »Longo Mai«, sagte Kerschkamp, »so heißt das da, die Kommune von denen. Müsste man eigentlich mal hin und sich das angucken!«

Er schob sich zwischen Ratte und Caroline: »Le massif central, c’est très bien!«

Caroline kicherte und zeigte ihm einen Vogel.

Sie kletterten immer weiter in die Klippen hinaus. Die Felsen fühlten sich glatt und heiß an unter ihren nackten Füßen. Es machte Appaz Spaß, mit gekrümmten Zehen nach irgendeiner Spalte zu suchen, in der er sich festklammern konnte. Ein bisschen kam er sich wieder vor wie als kleiner Junge. Obwohl er mit seinen Eltern nie irgendwo gewesen war, wo es glatt geschliffene Felsen gab. Sie waren immer nur an die Nordsee gefahren. Im Herbst. Im Sommer konnten sie keinen Urlaub machen, weil sein Vater in einer Hagelversicherung arbeitete. Und da es im Sommer häufig hagelte, war jede Art von Urlaub in dieser Zeit verboten. So stand es in seinem Arbeits vertrag.

Ratte hatte zunehmend Schwierigkeiten, irgendeinen Halt auf den glatt geschliffenen Felsen zu finden. Aber er dachte gar nicht daran, seine Clogs auszuziehen. Als sie auf der Felsspitze ankamen, war die Haut über seinen Zehen blutig gescheuert.

Caroline sagte irgendwas und kicherte wieder. Appaz grinste zu ihr rüber. Sie guckte ihn lange an, ohne die Augen niederzuschlagen.

»J’ai soif«, sagte Kerschkamp.

Andi drückte den Korken mit dem Daumen in den Flaschenhals. Die Sonne färbte sich langsam rot. Appaz merkte, wie ihm der Wein in den Kopf stieg.

»Coucher du soleil«, erklärte Kerschkamp.

Andi und Stephanie knutschten.

Ratte rieb Spucke auf seine aufgeschürften Zehen.

Appaz merkte, dass ihn Caroline wieder ansah.

»I’m cold«, sagte er.

»I can warm you«, sagte Caroline, »come here …«

»Hä?«, machte Ratte, als Appaz sich neben Caroline setzte. Sie legte ihm den Arm um die Hüfte und drückte ihn an sich.

»Scheiße, Leute«, sagte Lepcke plötzlich. Er lag auf der Felskante und starrte nach unten. »Ich glaube, die Flut kommt oder so was!«

Lepcke hatte recht. Das Wasser stieg ganz eindeutig. Und wo sie vorhin von Felsen zu Felsen gesprungen waren, schwappten jetzt kleine Wellen.

Sie machten sich auf den Rückweg. Lepcke zeterte die ganze Zeit, dass sie sich beeilen sollten.

Die Mädchen kicherten, als Ratte mit seinen Clogs abrutschte und sich prompt ins Wasser setzte.

»Wir sehen uns«, sagte Ratte und bog auf den Trampelpfad ab, der zur Jugendherberge führte. Er hatte eindeutig schlechte Laune.

Lepcke und Corner folgten ihm wie selbstverständlich. Und genauso selbstverständlich liefen Caroline und Appaz hinter Andi und Stephanie her. Kerschkamp kam noch ein paar Meter mit und laberte wieder irgendwelches Zeug, bis er endlich merkte, dass er überflüssig war.

Es wurde schnell dunkel. Weiter oben sahen sie die Straßenlaternen von der Strandpromenade und die Lichter der Restaurants.

Die Strandkörbe lagen für die Nacht umgekippt auf dem Sand. Aus dem einen oder anderen Korb drang heftiges Stöhnen.

Andi und Stephanie suchten sich einen Strandkorb, der noch nicht besetzt war, und verschwanden.

»Quick«, sagte Caroline und zog Appaz einen Korb weiter. Sie krochen unter das Segeltuch. Es war immer noch warm unter der Plane und es roch ein bisschen muffig, nur der Sand war kalt.

Caroline schob ihren Rock hoch und presste sich an ihn.

»But not fucking«, flüsterte sie. Wobei sie »fücking« sagte statt »fucking«.

Appaz hatte Mühe, ihren BH aufzukriegen. Er hatte lange keine Freundin mehr mit BH gehabt. Carolines Brüste waren viel weicher, als er gedacht hatte.

Caroline stöhnte und zog seinen Reißverschluss auf. Sie legte ihre Hand flach auf seinen steifen Schwanz und fing an zu reiben. Dann schob sie sich über ihn.

Er hatte beide Hände auf ihrem Hintern.

»But not fücking«, flüsterte sie wieder dicht an seinem Mund. Sie kam, als er seinen Finger gerade in die feuchte Spalte zwischen ihren Beinen schob. Sie klammerte sich an ihn und stöhnte mit dem Mund an seinem Schlüsselbein.

Er versuchte schnell, an irgendetwas anderes zu denken. An die Fischkutter, die er vorhin im Hafen gesehen hatte. Und die weit unterhalb der Kaimauer auf dem Schlick gelegen hatten. Aber dann spritzte er doch.

Und dann klopfte jemand an die Segeltuchwand.

»Caroline …«

Stephanie! Sie sagte irgendetwas auf französisch.

»We have to go«, übersetzte Caroline für ihn, »our parents wait.«

Sie zog ihre Hand aus seiner Unterhose. »Do you have a …«

»Nein«, sagte er, »nimm meine Jeans …«

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