Ich, Odysseus. Der Zerstörer Trojas.

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Was für ein Mensch muss das wohl sein?

Diese Märchenerzähler kennen mich nicht, sie wissen nichts über diesen mutigen Mann, der einst, getrieben von der Neugierde eines Reisenden und dem Fluch der Götter, seine Insel Ithaka und seine Frau verließ. Was für ein Mensch muss das wohl sein, fragen sie sich. Das frage ich mich ebenfalls, denn ich habe begriffen, dass zum Ruhm der berühmten Helden immer auch etwas von der Blödheit der Bewunderer gehört. Sie nennen mich einen brillanten Redner, aber auch einen talentierten Ränkeschmied und ein Schlitzohr. Warum sprühen Neider immer so viel Gift aus? Ich habe den Eindruck, der Mensch möchte die Wahrheit nicht wirklich erfahren. Er flüchtet sich in eine Schönfärberei, lässt das Grauen des Krieges einfach verschwinden hinter der Mauer der Scheinheiligkeit. Ist das normal, frage ich Dich? Die Chronisten stricken sich ihre Wahrheit einäugig zusammen, sie machen aus dem Grauen eine bewundernswerte Angelegenheit. Ihre Rechtfertigung ist der Versuch, Unrecht zu legalisieren. Brutalität zu beschönigen und Unmenschlichkeit zu vertuschen. Oder ist es nur eine überhebliche Wichtigtuerei, die Menschen veranlasst, Mythen zu verbreiten, um sich selbst in ein strahlendes Licht zu stellen? Ich erlebte eine Zeit, in der ich an mir selbst zweifelte.

Ich träume heute nicht mehr so viel. Es waren wilde Erlebnisse, die mich überfielen. Man sagt, Menschen, die träumen, würden verschlüsselte Wahrheiten über sich selbst und ihre Umwelt erfahren. Einig sind sich die Auguren darin: Träume spiegeln Erfahrungen aus dem Alltag wider, behaupten sie. Die Dinge, die uns wichtig seien, kämen auch im Traum vor. Doch morgens - nach dem Aufwachen - war die Verwirrung bei mir erst einmal groß. Denn die nächtlichen Bilder aus dem Kopf ergaben zunächst nur bedingt Sinn – manchmal erschienen sie mir auch völlig sinnlos. Die Realität in der Erinnerung und die der Träume verwischten sich. Ich wusste nicht mehr, was tatsächlich geschehen war. Ich hatte das Gefühl, meinen Verstand zu verlieren. Mit schien, jemand wollte mich auf den Arm nehmen, foppen und verwirren. Kein Wunder, denn die Verbindung zwischen Träumen und realen Alltagserfahrungen lassen sich nur selten direkt erkennen. Es führte dazu, dass ich meine Erlebnisse bald für Träume hielt und die Träume für die Wahrheit. Man verliert bald die Achtung vor sich selbst, mein Sohn. Die Fragen, die mich quälten: Circe nur ein Traum? Polyphem ebenso, Kalypso auch? Troja nur ein Hirngespinst? Hatte der Große Krieg in Troja überhaupt stattgefunden? Waren die Heldentaten nur in meiner Fantasie entstanden, von einem Gott mir im Traum gesandt, um einen großen, unsterblichen Mythos zu schaffen? Trotzdem wundere ich mich, dass griechische Mythologie ein so großes Thema für Menschen außerhalb Griechenlands ist. Ich hatte vielmehr einen anderen Hintergedanken: Ich wollte reisen, Europa entdecken, Neues erleben.

Meine Einsamkeit wuchs

Telemachos, ich hatte niemand, mit dem ich meine Zweifel hätte besprechen können. So wuchs meine Einsamkeit selbst in Eurer Gegenwart. Kann ein Mensch mehr leiden? Ich verstummte mit der Zeit und spürte Eure Zweifel an meinen spärlichen Erklärungen. Die Träume führten mich an den Rand des Wahnsinns. Ein Traum verfolgte mich regelmäßig: Ich begegnete Deiner Mutter in vielerlei Gestalt: Mal als Zeus, als ein Riese, als Hirte, als Wagenlenker, als Saufbold und Rüpel, als Faun – doch nie als Odysseus. Penelope behandelte mich in den Träumen höflich und respektvoll, doch sie wies mich stets zurück, blieb hartherzig und bestimmt. Mit der Zeit bewunderte ich ihre Standhaftigkeit und Würde. Es entstand das Bild einer stolzen, leidgeprüften, treuen Ehefrau. Während die Inhalte meiner Irrfahrten den Zweifel an mir selbst nährten. Was war Erfindung, was war Realität, was Unsinn und Übertreibung? Auch in der heutigen Zeit versuchen wir, unsere Träume zu deuten. Obwohl wir keine höhere Macht mehr hinter ihnen vermuten, ahnen wir, dass Träume uns etwas erzählen wollen. Etwas, das im Verborgenen schlummert, in unserem Unterbewusstsein verankert ist und sich im Traum seinen Weg in unser Bewusstsein bahnt. Was wir träumen, ist oft etwas, das wir erlebt oder glauben erlebt zu haben und nicht verarbeiten können. Es kann auch etwas sein, das wir verdrängen, uns herbeisehnen oder etwas, vor dem wir uns fürchten. Denn im Traum ist uns Menschen alles möglich.

Noch einmal: Ist mein Leben, sind meine zwanzig Jahre in Troja und danach in Wirklichkeit nur ein böser Traum gewesen? Odysseus nur ein Spielball der launenhaften Götter? Wenn ich morgens erwachte, überfiel mich eine merkwürdige Panik: War ich auf dem Weg, meinen Verstand zu verlieren? Niemand außer mir kannte doch die unglaublichen Erlebnisse. Keine Überlebenden, also keine Legenden! Was war geschehen mit Odysseus? Ich quälte mich viele Jahre und schwieg. Ich war mir nicht mehr sicher, was mit mir und meinen Männern geschehen war. War alles nur eine traumhafte Fantasie eines müden Helden? Wer wird mir noch glauben? Alles Erlebte nur Schwindel, Lügengeschichten eines verstörten Geistes? Wer könnte meine Erzählungen bestätigen, fragte ich mich oft? Solange ich lebe, kann ich als Zeuge meine Fahrten bestätigen, doch wer bezeugt nach meinem Tod all diese unglaublichen Erlebnisse? Was bleibt übrig von den wundersamen Heldentaten? Ich kam zu dem Schluss: Jemand muss meine Schilderungen niederschreiben! Deine Mutter weiß von meinem Plan. Sie empfahl mir, einem Dichter meine Erlebnisse zu erzählen, einem Mann, dem ich vertrauen könne.

Es sind diese schmerzhaften Zweifel, die mich quälten, die erst seit ein paar Monaten verschwunden sind. Ich glaube, heute alles klar vor mir zu sehen: Troja und meine Reisen. Mein Verstand scheint geordnet, mein Gedächtnis erstarkt zu sein. Der innere Kampf ist beendet, klar stehe ich vor meinem Leben und den Erinnerungen. Ich glaube, es war gut, dass Penelope und Du mich nicht fortwährend ausgefragt und gequält haben. Heute ist der Knoten entflochten. Ich fühle mich wie befreit, denn ich denke, ich habe einen klugen Kopf gefunden. Vielleicht besucht er mich. Ich warte noch auf seine Antwort.

Dieser Dichter bat mich aus eigenem Willen um ein Gespräch. Sein Name lautet Melesigenes, doch er schreibt auch, wie ich erfahren konnte, unter dem Pseudonym Homer erste Gedichte. Niemand kennt ihn, doch in Smyrna hat er bereits einen guten Ruf. Ich hoffe, er ist kein Scharlatan, keiner dieser falschen Chronisten, die die Geschichte verfälschen, um sich selbst wichtig zu nehmen. Die Macht des Wortes wird oft verkannt: Worte können zu einer verbalen Waffe werden, schärfer als ein Schwert. Doch mir wird die Welt glauben! Niemand wird meine Berichte anzweifeln. Warten wir also auf die Antwort dieses Schreibers!

Warum quälen die Götter uns Menschen auf diese brutale Weise? Heute weiß ich, mein Sohn: Es ist viel mehr wert, jederzeit die Achtung der Menschen zu erleben als ihre Bewunderung. Ich bin sehr vorsichtig damit, aus meiner heutigen bequemen Situation, in der ich mich befinde, jemanden zu kritisieren oder zu verurteilen, der sich im großen Krieg so oder so benommen hat. Das liegt mir fern. Schuld darf ich nicht bei anderen, ich muss sie allein bei mir suchen. Es gehört offenbar zu den menschlichen Überlebenskünsten, den widrigen Umständen und Erlebnissen immer auch etwas Positives abzugewinnen. Probleme als schicksalshafte Herausforderungen zu begreifen, das lernte ich sehr früh. Doch ich sage heute auch: Krieg ist etwas Grausames, jeder vernünftige Mensch sollte Kriege ablehnen. Wie kann der Tod etwas Großes sein, etwas zwingend Notwendiges? Ich denke viel darüber nach, weil ich mich schuldig fühle, obwohl ich weiß, dass meine Kameraden das anders sahen: Sie rechtfertigen unsere Brutalität und den Völkermord an den Trojanern. Ich finde, die Welt soll, sie muss erfahren, was tatsächlich geschah! Sie muss wissen, dass wir Unrecht taten, als wir zu den Dardanellen aufbrachen, um Tod und Leid über ein Volk zu bringen, das wir beneideten.

Ich wäre gerne ein Greif

Heute Morgen, als ich nach einer ruhigen Nacht auf unsere große Terrasse trat, um einige Körperübungen zu absolvieren - ich trainiere jetzt sehr gerne mit einem großen Kieselstein, den ich abwechselnd in die linke und rechte Hand nehme - beobachtete ich ein Rotmilan-Paar, wie es über unserem Palast seine Kreise zog. Es kommt inzwischen an jedem regenfreien Tag zu uns, so, als wollten mich die beiden begrüßen. Manchmal landen sie mit ihren großen Schwingen auf einer der dicken Mauern, die meinen Palast umgeben. Ich mag diese stolzen Greifvögel. Irgendwie fühle ich mich mit ihnen verwandt. Wenn ich ein Vogel sein müsste, ich würde mich für einen Milan oder einen Steinadler entscheiden. Ihre Majestät, ihre Eleganz und ihre Unabhängigkeit beeindruckten mich schon als Kind, als ich mit meinem Vater Laertes im Gebirge wanderte und die stolzen Flieger beobachtete. Mein Vater sagte damals: „Falkner sehen in ihren Vögeln das Spiegelbild der eigenen Seele.“ Wir setzten damals auch Falken zur Beizjagd ein, doch leider ist diese edle Form der Jagd aus der Mode gekommen. Im Gegensatz zu uns Menschen tötet ein Greif nur dann, wenn er Hunger hat . . . Es dauerte sicher eine halbe Stunde, bis die beiden Vögel landeinwärts flogen. Ob sie meine Handbewegungen wohl erkannt haben? Wir sollten eine große Schale mit frischem Fleisch aufstellen, um sie zu locken, wie es die Trojaner praktizierten, die diese Vögel sehr verehrten. Manchmal, wenn ich die beiden Jäger beobachte, träume ich davon, wie ich mit Penelope davonfliege, denn auch Milane und Adler bleiben ein Leben lang als Paar zusammen.

Wie unscheinbar ein Mensch ist, erlebte ich eindrucksvoll auf der großen Insel Trinacria. Mein Sohn, wer einmal vom zerklüfteten Rand des großen Kraters in das Auge des Ätna geblickt hat, der spürt die Macht der Götter, der fühlt diese eruptive Kraft, die aus dem Inneren der Erde an das Tageslicht strömt. Glühende Erde, ich nannte sie damals überheblich „Schleim des Hades“, und der Gestank der Hölle vereint - das Erlebnis vergisst keiner, der dies je erlebt hat. Wenn der Boden schwankt und die Menschen ihre Häuser fluchtartig verlassen, wenn sie dankbar auf die Knie fallen, den Göttern danken, da der mächtige Feuerberg sie diesmal verschont hat. Du musst die dreieckige Insel des Hephaistos besuchen, um zu erleben, wie klein, wie machtlos der Mensch gegenüber dieser göttlichen Naturgewalt ist. Hier sind uns Menschen Grenzen gesetzt, so sehr wir uns auch bemühen, mehr zu sein, als wir sind. Es war der für mich imposanteste Eindruck, der mich in den zehn Jahren meiner Irrfahrt bewegte. Der Glutberg Ätna: Götterwerk und menschenverachtend zugleich. Wie unbedeutend der Mensch wird, wenn er im Angesicht der Götter versucht, es den Unsterblichen gleichzutun. Die Insel des Feuers und der Zyklopen wird ewig ihren Schrecken behalten. Und doch ist Syrakusai im Osten eine wunderbare Polis, mit gebildeten Menschen - der angenehme Gegenpol zu den wilden Riesen an der Nordküste. Du merkst, wie schwer es mir fällt, meine Erinnerungen zu sortieren. Die Natur, der Götter allmächtige Welt, mein Sohn, ist nicht zu erobern und zu besiegen, denn wir Menschen sind ein Teil davon, der schwächere Teil. Ich habe meine Lektion gelernt, sich nicht gegen die Natur - also gegen die Götter - zu stellen. Auch wenn ich meine Zweifel habe. . .

 

Warum tue ich mir das an, frage ich Dich allen Ernstes! Meine Beichte ist nicht für jedermanns Ohren bestimmt. Wenn ich hier in der Königshalle sitze, esse, trinke und mit Dir diskutiere, dem betörenden Flötenspiel unserer Hirten lausche, dann rieche ich immer noch das warme Blut, das ich hier vergoss, dann höre ich die Schreie und die Flüche der Sterbenden. Ich sehe sie dann wieder vor mir, die arroganten Freier, über vierzig lüsterne, angetrunkene und überhebliche Männer, die meinen Thron mir rauben und meine Frau in ihre Betten zerren wollten. Ich sehe sie dann alle vor mir: Brutal und feist und fröhlich. Und ich sehe Euer Entsetzen und die Ohnmacht, sich gegen diese Bande zu erwehren. Wieder und wieder erinnere ich mich an diese Heimkehr. Die Erinnerungen verschönen das Leben, behaupten unsere Dichter. Aber das Vergessen allein macht es erträglich. Ich ringe oft mit dem Vergessen, doch die Erinnerung besiegt das Vergangene. Sie holt mich immer ein.

Als ich mich Dir zu erkennen gab, weinten wir lange und hielten uns in den Armen. Deine Suche nach mir war zu Ende: Dein verloren geglaubter Vater lebte und musste sich erneut seinen Thron zurückerobern. Was für eine unwürdige Heimkehr, doch alle Dinge geschehen aus Notwendigkeit! Auch dies gehört zu meinem unruhigen Leben, zu meinen Erinnerungen, die ich Dir jetzt zu erzählen versuche.

Ich bin etwas verwirrt, das gebe ich zu, denn was ich zu berichten habe, ist so ungeheuerlich, dass es wie ein Märchen klingt. Wirst Du mir glauben können? Der Sohn dem Vater, dessen Namen jeder kennt? Weißt Du, lieber Telemachos, Ruhm ist für jeden Menschen etwas anderes. Manche glauben, dass Ruhm der Beweis dafür ist, wie berüchtigt einer in Wirklichkeit gewesen ist. Berühmte Helden werden heute als folgsame Botschafter zwischen den Menschen und den Göttern bezeichnet. Ich sehe das nicht so: Ruhm ist Glücksache, Können und Talent und Fleiß auch, aber oft nur den Launen eines Gottes geschuldet. Für mich gehört zum Ruhm auch der Charakter eines Menschen. Wer ein Berserker ist, der führt kein ruhmreiches Leben. Ein Mörder kann kein wahrer Held sein, ebenso wenig ein Vieltöter und ein Massenschlächter. Ich frage Dich: Gehören nicht auch Ehre und Gnade, Anstand und Wohlwollen, sicher aber auch Ritterlichkeit zu einem ruhmreichen Leben? Viele behaupten ja, Held sein ist griechisch. Kritiker nennen den Ruhm die höchste Stufe der Freiheit und der Eitelkeit! Die Freiheit besteht darin, dass man alles tun kann, was einem anderen nicht schadet. Dabei nannte mich Athene, so wird von Deiner Mutter behauptet, „beherzt, listenreich und erfinderisch“. Sie lobte meine „Zungenfertigkeit, meinen Mut und das Wölfische“. Odysseus, der „Wolf mit Seefahrerblut in den Adern“. Sie meinte wohl: Es muss verschiedene Rangstufen geben, da alle Menschen herrschen wollen und nicht alle es wirklich können . . .

Mir waren immer Menschen sehr unsympathisch, die blindlings in die Tempel strömten und eine Gottgläubigkeit an den Tag legten, deren Oberflächlichkeit sofort erkennbar wurde. Ein kluger Grieche dagegen konnte kaum an die Sagen- und Märchenwelt der Götterfiguren auf dem Olymp glauben. Und doch spürte auch ich in den vergangenen beiden Jahrzehnten Mächte, die in mein Leben traten. Eine Kraft umgab mich, die mir zu denken gab, die mein Handeln beeinflusste. Oft hatte ich das Gefühl, wie unter einem Zwang handeln zu müssen, obwohl es mir widerstrebte. Das muss etwas von dieser Göttlichkeit gewesen sein. Der gebildete Mensch lehnt die unsterblichen Götter ab, weil er glaubt, durch seine Bildung die Dinge besser sortieren zu können als der einfache Mensch, der weder Schreiben noch Lesen kann. Die Göttergeschichten seien etwas für die Ungebildeten, die Analphabeten und Unwissenden. Wir denken, die Menschen sind dem Schicksal und den allmächtigen Göttern willenlos ausgeliefert. So denke das dumme Volk, glauben wir überheblich. Das stimmt einfach nicht, ich selbst habe Momente erlebt, in denen ich verzweifelt um den Beistand der Götter flehte. Manchmal erhöhten sie mein Flehen, oft leider nicht. Oft pries ich sie, dann wiederum verfluchte ich sie. Mit jedem Mal begriff ich das Kräftespiel, das uns Menschen auferlegt wurde, um zu überleben, um überhaupt ein geordnetes Leben führen zu können. Ich begriff die Ordnung, die hinter allem steht. Die Gesetzmäßigkeit, die unser Zusammenleben erst ermöglicht. Deshalb braucht der Mensch Götter. Hätte er sie nicht, er müsste verzweifeln sein Leben lang. Also schuf er sich eine Götterwelt, in der er sich wiederfand und die sich doch dem Begreifen entzog. Ich trage heute die Bilder in mir, sie sind ein Teil von mir geworden. Aber sie sind kein Teil von mir, auf das ich stolz sein kann. Späte Reue entschuldigt frühe Fehler nicht. Ich kann nur hoffen, dass mir Absolution widerfährt.

Als ich auf meiner Rückkehr im großen Poseidon-Tempel am Kap Sounion weilte, spürte ich etwas in mir und um mich herum, für das ich keine Erklärung fand. Gerade der gigantische Sonnenuntergang hatte etwas Göttliches, ohne Zweifel. Beeindruckt von den unglaublichen Farben, den kräftigen Wellen, dem Geruch des Meeres und dem klagenden Geschrei der Möwen, betete ich dankbar zu dem grimmigen Meeresgott - trotz der zahlreichen Entbehrungen und Ärgernisse - für eine möglichst baldige und gesunde Heimkehr nach Ithaka. Ich fühlte mit einem Mal die Nähe Poseidons. Er schien mir vergeben zu haben. Vielleicht war es auch nur der heilige Ort, der meine Sinne beeinflusste.

Telemachos, es ist immer noch schwer für mich, mein bisheriges Leben zu verarbeiten. Die Gedanken rasen mir durch den Schädel. Es war einfach zu viel. Ich hatte es mir mit den Göttern verscherzt, sodass sie mich mit lebensbedrohenden Prüfungen bestraften. Sie schickten mich zu menschenfressenden Ungeheuern, sogar ins Totenreich und zu Zauberinnen, trieben mich fast in den Wahnsinn und raubten mir mein Gedächtnis. Sie ließen mich Orkane überleben und Erdbeben, ließen mich ständig vom Heimatkurs abkommen und machten mich zum Zwangsgeliebten einer Göttin. Mein Sohn: Mit über 500 Mann stach ich in See und als einzig Überlebender kehrte ich zwanzig Jahre später nach Ithaka zurück. Ist dieses Resultat des Lobes wert? Wer wird mir meine Erlebnisse glauben? Ich spüre selbst, dass mein Leben ungewöhnlich verlaufen ist, sagenhaft und voll fabelhafter Inhalte, die nie ein Mensch vorher erlebte. Soll ich nicht besser schweigen? Wäre ich nicht glücklicher geworden, wäre ich zu Hause geblieben?

Ich stelle mir heute immer noch die Frage: Wie kann ein Mensch sieben Jahre auf der Insel Ogygia, die von den Einheimischen Meli genannt wird, verbringen, im Kopf offenbar verwirrt, in den Armen der wunderschönen Nymphe Kalypso? Eine Antwort können nur die allwissenden Götter geben. Du hast die Frage nach Kalypso nicht gestellt, dafür danke ich Dir, lieber Telemachos. Doch ich werde Dir davon berichten, denn es waren sieben Jahre, in denen ich auf ihrer Insel festgehalten wurde, nachdem mein Schiff gesunken und meine Gefährten ertrunken waren. Sieben Jahre, von denen ich kaum etwas erinnere - nur das wohlfeile Leben eines Tagträumers, eines Taugenichts, der sich von einer Göttin verwöhnen und aushalten ließ. Ich kam mir vor wie ein Vögelknecht und schäme mich heute dafür!

Kalypso war eine kluge Frau, die sich von den weiblichen Bewohnern der Insel schon optisch unterschied, denn sie hatte nicht diesen auf Meli üblichen Fettsteiß, den die Frauen zu einem Schönheitsideal erklärt hatten und den Männern offenbar gefiel. Die Nymphe war eine sehr frauliche Erscheinung mit einem wohlgeformten Leib, rötlichen Lockenhaaren und einer wohlklingenden Stimme. Was mir sofort auffiel, waren die feinen Züge, der braune Teint und leuchtende, honigfarbene Augen. Es war merkwürdig, obwohl ich mich von ihr hingezogen fühlte, wurde ich mit ihr nicht warm, nicht wirklich glücklich. Auf der anderen Seite begehrte ich sie und ihre weiblichen Vorzüge. Bei ihr hatte ich - wie bei Deiner Mutter ebenfalls - den Eindruck, dass künftig Frauen mehr zu sagen bekommen. Das typisch männliche Gehabe bei den Griechen weicht einer femininen gleichbedeutenden Macht, wie wir sie ja schon bei den Amazonen kennen und beim orientalischen Matriarchat. Merke Dir, mein Sohn: Wenn eine Frau schweigt, soll man sie auf keinen Fall unterbrechen. . . denn Kalypso erzählte sehr viel, was meist unterhaltsam war. Mit der Zeit verstand ich mehr vom Spiel der Götter mit uns Menschen.

Kalypso überschüttete mich mit allen nur erdenklichen Genüssen, sie beherrschte den Witz und die Sprachgewandtheit einer intelligenten Frau. Sie wollte mich sogar zu ihrem Ehemann auswählen, zum gleichberechtigten Mitregenten - und sie verhieß mir ewige Jugend, also Unsterblichkeit! Welcher Mann wird da nicht schwach?

Sieben Jahre lang gewährte sie dem Schiffbrüchigen auf ihrem Eiland Unterschlupf, sie umgarnte und verführte mich nach allen Regeln der Kunst - jedoch ohne nennenswerten Erfolg. Und doch geschah ihr Wille. Dieses Vollblutweib lockte mich mit ihren Reizen, das gebe ich zu. Aber irgendetwas warnte mich. Ich lehnte ab, weil mich Zweifel quälten, vielleicht die untrügliche Ahnung von Langeweile, wie sie die Götter heimsucht. Sie sollen sich ja wie Menschen benehmen, weil sie Langeweile haben. Ein trauriges Lied ist mir in Erinnerung geblieben, welches ich in diesen Tagen, von einem jungen Fischer gesungen, oft in der Abenddämmerung hörte: „Ich welke in Deinen immer jungen Armen dahin an dieser stillen Grenze zur normalen Welt. . .“

Vielleicht war es auch eine dunkle Ahnung an Ithaka. Da ich keine Erinnerung an mein Königreich und meine Familie hatte, nicht einmal mehr meinen Namen wusste, verging die Zeit auf Meli ohne nennenswerte Ereignisse. Ich vermisste nichts. Meine Männer und meine Schiffe hatte ich im Laufe der drei Jahre zuvor verloren: Auch in gewaltigen Stürmen, die Poseidon mir sandte. Ich war allein, irgendwie traurig, obwohl ich alles hatte, was das Herz eines Mannes glücklich machen kann. Ich lebte in einer gemütlichen Höhle, die mit einem luxuriösen Aufwand möbliert worden war. Rings um die Grotte wuchs ein Hain aus immergrünen Bäumen, aus Pappelweiden, Zypressen, Pinien und Erlen, in denen verschiedene Vogelarten, auch Raubvögel, lebten, deren Gezwitscher herrliche Musik bedeutete. Vor dem Eingang der gemütlichen Grotte wuchs ein riesiger Weinstock mit herrlich süßen, purpurnen Früchten. Er bedeckte fast die komplette Außenwand der Grotte. Vier Quellen versorgten mich mit labendem Nass. Aus der Ferne hörte ich jeden Tag das rauschende, rastlos lockende Meer, das mich an meine Zeit davor erinnerte, an meine Herkunftsinsel, deren Namen ich vergessen hatte.

Die Göttin und ich hatten alles für ein unbeschwertes Leben: Wein, zartes Wildbret, köstliche Fische, edle Gewänder, Sklaven, die uns jeden Wunsch von den Lippen ablasen. Und doch spürte ich in meinem Inneren, dass etwas nicht stimmte in dieser Welt, die mir mit den Jahren zunehmend unwirklicher erschien. Ich war wie ein Wanderer zwischen zwei Welten, meiner und ihrer. Ich versuchte daher, mir mein eintöniges Leben so abwechslungsreich wie möglich zu gestalten. Ich trainierte meinen Leib, übte mich in den verschiedenen Waffengängen und begeisterte mich an den Spielen, die Kalypso für mich veranstaltete, und ging regelmäßig zur Jagd. Oft besuchten uns berühmte Sänger und Schauspieler, auch Tänzer und Zauberkünstler. In manchen Theaterstücken traten Kalypso und ich sogar als Mitwirkende auf, was wir beide sehr genossen. Ich hatte dennoch das Gefühl, meine Freiheit gegen einen goldenen Käfig eingetauscht zu haben – mit der Zeit wurde mir dieser Müßiggang zu viel, ich sehnte mich nach dem Meer zurück. Meine Neugierde nach dem echten Leben war noch nicht vorbei. Denn eines Tages erinnerte ich mich wieder an den Krieg, an die Zerstörung Trojas, auch wenn ich meinen Namen immer noch nicht wusste.

 

Die Göttin nannte mich von Anfang an bei meinem richtigen Namen, den ich mit der Zeit dann ebenfalls benutzte: Odysseus, der Vielgereiste. Wenn ich an die Zeit auf Meli zurückblicke, dann frage ich mich heute, wie das geschehen konnte: Wie kann ein Mann sieben Jahre auf einer Insel leben, ohne dass er seine Identität kennt, seinen Namen nicht mehr weiß und seine Heimat ein für ihn unbekannter Ort ist. Das muss erklärt werden, sonst werden sie mich als Lügner beschimpfen. Meine Antwort lautet jedoch: Ich weiß es nicht! Die schöne Nymphe hatte mich erwartet, als ich nach dem Orkan ermattet den Strand erreichte und ohnmächtig wurde. Ich weiß heute nicht, wie lange ich dort gelegen habe, bis mich ein Fischer entdeckte, der die Wachen Kalypsos informierte. Kurze Zeit später trug man mich in einer Sänfte zur Herrin der Insel: Kalypso hieß mich willkommen, indem sie mich mit folgenden Worten begrüßte: „Willkommen auf Meli, Odysseus. Ich habe Dich erwartet, denn Dein Erscheinen wurde mir angekündigt. Hermes, der Götterbote, erklärte mir Dein Problem und Deine Rettung nach dem wütenden Sturm. Ich nenne Dich Odysseus, denn ich weiß, dass Du Dein Gedächtnis auf Wunsch Poseidons verloren hast. Das ist der Pakt für Deine Rettung: Entweder Dein Tod oder Dein Leben an meiner Seite!“ Mehr erfuhr ich nicht von der Nymphe. Kein Wort über Troja, unseren Sieg, meine Irrfahrten. Kalypso behielt das Geheimnis meiner Herkunft für sich.

Sie verwöhnte mich täglich mit immer neuen Einfällen und doch willigte sie eines Tages schweren Herzens ein, als Hermes, vom Olymp gesandt, ihr gebot, mich ziehen zu lassen. Zeus hatte so entschieden. Zehn Jahre seien genug, ich hätte, so erklärte der Götterbote mir, genug gebüßt. Kalypso sagte daraufhin zu Hermes: „Grausam seid ihr und neidischen Herzens, ihr Götter. Jeglicher Göttin verargt ihr die öffentliche Vermählung mit dem sterblichen Manne, den sie zum Gatten erkoren!“

Zu mir sprach sie, als wir allein waren: „Der Abschied von Dir, mein Freund, bricht mir das Herz. Mein Traum geht zu Ende, ein Leben voll von Freude und Liebe. Einen außergewöhnlicheren Mann werde ich wohl nie mehr erobern können. Sieben Jahre Glück sind für mich mehr als ein göttlicher Moment – es waren Jahre der Freude, der Leidenschaft und der Freundschaft. Aber die Götter haben entschieden, dass wir uns trennen. Ich habe seit längerem gespürt, dass das Leben an meiner Seite nicht Dein wahrer Lebenswunsch ist. Du willst zurück in Deine Heimat, obwohl Du nicht einmal ihren Namen kennst. Ich aber sehe Deine Heimkehr bereits vor mir: Sie beginnt mit einem gewaltigen Blutbad, um dann wieder in Frieden und Harmonie zu enden. So wollen es die Götter.“

Hermes nahm Kalypso das Versprechen ab, mir bei meiner Rückkehr zu helfen. Ich baute mir mit ihrer Hilfe ein seetüchtiges Boot, eher ein großes Floß mit Segel und Ruder und Unterschlupf. 30 Bäume fällte ich dafür. Zum Abschied, nachdem sie mich noch einmal eindringlich gebeten hatte, doch bei ihr zu bleiben, übergab sie mir Körbe mit Lebensmittel, Wein und Frischwasser. Außerdem Kleider und einen Beutel mit Goldmünzen. Wir umarmten uns lange: Es rasten die Bilder meines Aufenthaltes durch meinen Kopf - das Liebespaar, die Feste, die Gesänge und die jährlichen feierlichen, religiösen Spiele. Die Göttin weinte und auch mir war zum Weinen zumute, denn ich hatte keinen Grund, ihr böse zu sein. Dann überkam mich ein Gefühl von Freiheit, ich spürte, dass sich mein Leben von diesem Moment an verändern würde, dass meine Zeit der Bestrafung durch den Olymp endlich zu Ende ging. Ich sollte heimkehren nach Ithaka! Erst als ich noch auf der Insel der Phäaken Schiffbruch erlitt und vom dortigen König mit einem Schiff nach Ithaka gebracht wurde, wusste ich, dass mein Irrweg beendet war. Viele Frauen beeinflussten meinen Weg nach Ithaka: Helena, Circe, Kalypso, Nausikaa, schließlich Penelope. Ich war wieder daheim, doch ich kam noch nicht zur Ruhe, ich musste meinen Thron zurückerobern und mich der Liebe Deiner Mutter vergewissern. Sie vergab mir und meine Vergangenheit.

Verzicht auf Unsterblichkeit

Ich frage Dich, mein Sohn: Hat je zuvor ein Mensch zehn Jahre durch den Beschluss der Götter solche Abenteuer erlebt? Ja, überlebt? Mit einem Mal war ich zurück in der Sterblichkeit, konnte mich wieder so bewegen wie ein normaler Mensch. Ich glaube, wir müssen solche Abenteuer erleben, um herauszufinden, wer wir wirklich sind. Ich habe lernen müssen, dass Abenteuer dort beginnen, wo Pläne enden. Ich kann Dir nur raten, mein Sohn: Der, der das Abenteuer sucht, wird neue Welten entdecken können, denn jeder neue Tag ist der Beginn eines neuen Abenteuers. Ich habe es lernen müssen, dass die kleinen Momente die schönsten des Lebens sind, in denen Du begreifst, dass Du im richtigen Moment am richtigen Ort bist und das Richtige tust. Dazu gehört auch der Verzicht auf die Unsterblichkeit, die mir Calypso versprochen hatte.

Ich genieße heute mein Dasein, die Ruhe und den häuslichen Frieden. Ich bin in der Realität angekommen und habe keine Wünsche mehr. Das nenne ich Zufriedenheit. Meine Neugierde, meine Sehnsüchte und mein Entdeckerdrang haben ein Normalmaß erreicht, das mich traurig stimmen sollte. Wenn mir das vor Jahren jemand erzählt hätte, ich hätte ihn ausgelacht. Odysseus im Ruhestand? Wer ein Jahr im Palast der Circe gelebt hat, wer Zeuge war, wie seine Gefährten in Schweine verwandelt wurden, wer das Lager mit der schönen Göttin je geteilt hat, der weiß, was es heißt, mit allen Annehmlichkeiten versorgt zu sein, die menschliche Fantasie entwickeln kann. Es war so: Ich wurde mit allen Freuden, die ein Mann sich wünscht, verwöhnt. Und meine Männer ebenso, nachdem sie wieder in Menschen zurückverwandelt worden waren. Circe kannte unsere schicksalshafte Geschichte über den trojanischen Krieg, unsere Entbehrungen und Sorgen. Sie und ihre Dienerinnen versüßten über ein Jahr lang unsere Zeit auf dem Eiland. Ein Mann kann sich an dieses Leben gewöhnen und vergisst schnell, woher er kam und wohin er wollte. Ich spürte, wie unser Wille langsam in den weichen Armen der Göttin und ihrer Frauen verkümmerte. Es musste etwas geschehen. Dass Circe ein Kind erwartete, verheimlichte sie mir bei meiner Abreise. Ich gebe zu, es hätte mich auch nichts mehr auf ihrer Insel gehalten. Als der Felsen der Circe am Horizont verschwand, verblassten auch unsere Erinnerungen an dieses Lotterjahr. Wir wollten endlich nach Hause! Doch die Götter erhörten uns nicht: Sie trieben uns an die Säulen des Herakles, der Meerenge zwischen Europa und Afrika, wo man bei guter Sicht die beiden Erdteile sehen kann: der Durchgang zwischen den Säulen des Melkart in Afrika und des Kalpe-Berges an der Iberischen Halbinsel. Ja, auch dort waren wir, getrieben von Mut und Übermut!