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II

Als Deborah heimkehrte, traf sie ihren Mann am Herd. Unwillig besorgte er das Feuer, den Topf, die hölzernen Löffel. Sein gerader Sinn war auf die einfachen irdischen Dinge gerichtet und ver­trug kein Wunder im Bereich der Augen. Er lä­chelte über den Glauben seiner Frau an den Rabbi. Seine schlichte Frömmigkeit bedurfte keiner ver­mittelnden Gewalt zwischen Gott und den Men­schen. »Menuchim wird gesund werden, aber es wird lange dauern!« – Mit diesen Worten betrat Deborah das Haus. »Es wird lange dauern!« wie­derholte Mendel wie ein böses Echo. Deborah hängte seufzend den Korb wieder an den Plafond. Die älteren drei Kinder kamen vom Spiel. Sie fielen über den Korb her, den sie schon einige Tage vermisst hatten, und ließen ihn heftig pendeln. Mendel Singer ergriff mit beiden Händen seine Söhne, Jonas und Schemarjah. Mirjam, das Mädchen, flüchtete zur Mutter. Mendel kniff seine Söhne in die Ohren. Sie heulten auf. Er schnallte den Hosengurt ab und schwang ihn durch die Luft. Als gehörte das Leder noch zu seinem Körper, als wäre es die natürliche Fort­setzung seiner Hand, fühlte Mendel Singer jeden klatschenden Schlag, der die Rücken seiner Söhne traf. Ein unheimliches Getöse brach los in sei­nem Kopf. Die warnenden Schreie seiner Frau fielen in seinen eigenen Lärm, unbedeutend vergingen sie darin. Es war, als schüttete man Gläser Wasser in ein aufgeregtes Meer. Er fühlte nicht, wo er stand. Er wirbelte mit dem schwin­genden, knallenden Gürtel umher, traf die Wän­de, den Tisch, die Bänke und wusste nicht, ob ihn die verfehlten Schläge mehr freuten oder die gelungenen. Endlich klang es drei von der Wanduhr, die Stunde, in der sich die Schüler am Nachmittag versammelten. Mit leerem Magen – denn er hatte nichts gegessen – die würgende Aufregung noch in der Kehle, begann Mendel, Wort für Wort, Satz auf Satz aus der Bibel vor­zutragen. Der helle Chor der Kinderstimmen wiederholte Wort für Wort, Satz für Satz, es war, als würde die Bibel von vielen Glocken geläutet. Wie Glocken schwangen auch die Oberkörper der Lernenden vorwärts und zurück, indes über den Köpfen der Korb Menuchims fast in gleichem Rhythmus pendelte. Heute nahmen Mendels Söhne am Unterricht teil. Des Vaters Zorn ver­sprühte, erkaltete, erlosch, weil sie im klingenden Vorsagen den andern voran waren. Um sie zu er­proben, verließ er die Stube. Der Chor der Kin­der läutete weiter, angeführt von den Stimmen der Söhne. Er konnte sich auf sie verlassen. Jonas, der ältere, war stark wie ein Bär, Schemarjah, der jüngere, war schlau wie ein Fuchs. Stampfend trottete Jonas einher, mit vorgeneig­tem Kopf, mit hängenden Händen, strotzenden Backen, ewigem Hunger, gekräuseltem Haar, das heftig über die Ränder der Mütze wucherte. Sanft und beinahe schleichend, mit spitzem Profil, im­mer wachen hellen Augen, dünnen Armen, in der Tasche vergrabenen Händen, folgte ihm sein Bruder Schemarjah. Niemals brach ein Streit zwischen ihnen aus, zu ferne waren sie einander, getrennt waren ihre Reiche und Besitztümer, sie hatten ein Bündnis geschlossen. Aus Blechdosen, Zündholzschachteln, Scherben, Hörnern, Wei­denruten verfertigte Schemarjah wunderbare Sa­chen. Jonas hätte sie mit seinem starken Atem umblasen und vernichten können. Aber er be­wunderte die zarte Geschicklichkeit seines Bru­ders. Seine kleinen schwarzen Augen blinkten wie Fünkchen zwischen seinen Wangen, neu­gierig und heiter.

Einige Tage nach ihrer Rückkehr erachtete De­borah die Zeit für gekommen, Menuchims Korb vom Plafond abzuknöpfen. Nicht ohne Feierlich­keit übergab sie den Kleinen den ältern Kindern. »Ihr werdet ihn spazieren führen!« sagte De­borah. »Wenn er müde wird, werdet ihr ihn tragen. Lasst ihn Gott behüte nicht fallen! Der heilige Mann hat gesagt, er wird gesund. Tut ihm kein Weh.« Von nun an begann die Plage der Kinder.

Sie schleppten Menuchim wie ein Unglück durch die Stadt, sie ließen ihn liegen, sie ließen ihn fallen. Sie ertrugen den Hohn der Altersgenossen schwer, die hinter ihnen her liefen, wenn sie Menuchim spazieren führten. Der Kleine musste zwischen zweien gehalten werden. Er setzte nicht einen Fuß vor den andern, wie ein Mensch. Er wackelte mit seinen Beinen wie mit zwei zer­brochenen Reifen, er blieb stehen, er knickte ein. Schließlich ließen ihn Jonas und Schemarjah lie­gen. Sie legten ihn in eine Ecke, in einen Sack. Dort spielte er mit Hundekot, Pferdeäpfeln, Kie­selsteinen. Er fraß alles. Er kratzte den Kalk von den Wänden und stopfte sich den Mund voll, hustete dann und wurde blau im Angesicht. Ein Stück Dreck, lagerte er im Winkel. Manchmal fing er an zu weinen. Die Knaben schickten Mir­jam zu ihm, damit sie ihn tröste. Zart, kokett, mit hüpfenden dünnen Beinen, einen hässlichen und hassenden Abscheu im Herzen, näherte sie sich ihrem lächerlichen Bruder. Die Zärtlichkeit, mit der sie sein aschgraues verknittertes Ange­sicht streichelte, hatte etwas Mörderisches. Sie sah sich vorsichtig um, nach rechts und links, dann kniff sie ihren Bruder in den Schenkel. Er heulte auf, Nachbarn sahen aus den Fenstern. Sie verzerrte das Angesicht zur weinerlichen Gri­masse. Alle Menschen hatten Mitleid mit ihr und fragten sie aus.

Eines Tages, im Sommer, es regnete, schleppten die Kinder Menuchim aus dem Haus und steck­ten ihn in den Bottich, in dem sich Regenwasser seit einem halben Jahr gesammelt hatte, Würmer herumschwammen, Obstreste und verschimmelte Brotrinden. Sie hielten ihn an den krummen Beinen und stießen seinen grauen breiten Kopf ein Dutzend Mal ins Wasser. Dann zogen sie ihn heraus, mit klopfenden Herzen, roten Wangen, in der freudigen und grausigen Erwartung, einen Toten zu halten. Aber Menuchim lebte. Er röchelte, spuckte das Wasser aus, die Würmer, das verschimmelte Brot, die Obstreste und lebte. Nichts geschah ihm. Da trugen ihn die Kinder schweigsam und voller Angst ins Haus zurück. Eine große Furcht vor Gottes kleinem Finger, der eben ganz leise gewinkt hatte, ergriff die zwei Knaben und das Mädchen. Den ganzen Tag sprachen sie nicht zueinander. Ihre Zungen lagen gefesselt an den Gaumen, ihre Lippen öffneten sich, ein Wort zu formen, aber kein Ton bildete sich in ihren Kehlen. Es hörte zu regnen auf, die Sonne erschien, die Bächlein flossen munter an den Rändern der Straßen. Es wäre an der Zeit gewesen, die Papierschiffchen loszulassen und zuzusehen, wie sie dem Kanal entgegenschwimmen. Aber gar nichts geschah. Die Kinder kro­chen ins Haus zurück, wie Hunde. Den ganzen Nachmittag noch warteten sie auf den Tod Menu­chims. Menuchim starb nicht. Menuchim starb nicht, er blieb am Leben, ein mächtiger Krüppel. Von nun an war der Schoß Deborahs trocken und fruchtlos. Menuchim war die letzte missratene Frucht ihres Leibes, es war, als weigerte sich ihr Schoß, noch mehr Unglück hervorzubringen. In flüchtigen Sekunden um­armte sie ihren Mann. Sie waren kurz wie Blitze, trockene Blitze am fernen sommerlichen Hori­zont. Lang, grausam und ohne Schlaf waren Deborahs Nächte. Eine Wand aus kaltem Glas trennte sie von ihrem Mann. Ihre Brüste welkten, ihr Leib schwoll an, wie ein Hohn auf ihre Unfruchtbarkeit, ihre Schenkel wurden schwer, und Blei hing an ihren Füßen. Eines Morgens, im Sommer, erwachte sie früher als Mendel. Ein zwitschernder Sperling am Fen­sterbrett hatte sie geweckt. Noch lag ihr sein Pfiff im Ohr, Erinnerung an Geträumtes, Glückliches, wie die Stimme eines Sonnenstrahls. Die frühe warme Dämmerung durchdrang die Poren und Ritzen der hölzernen Fensterläden, und obwohl die Kanten der Möbel noch im Schatten der Nacht verrannen, war Deborahs Auge schon klar, ihr Gedanke hart, ihr Herz kühl. Sie warf einen Blick auf den schlafenden Mann und entdeckte die ersten weißen Haare in seinem schwarzen Bart. Er räusperte sich im Schlaf. Er schnarchte. Schnell sprang sie vor den blinden Spiegel. Sie fuhr mit kalten strählenden Fingerspitzen durch ihren schütteren Scheitel, zog eine Strähne nach der andern vor die Stirn und suchte nach weißen Haaren. Sie glaubte, ein einziges gefunden zu haben, ergriff es mit einer harten Zange aus zwei Fingern und riss es aus. Dann öffnete sie ihr Hemd vor dem Spiegel. Sie sah ihre schlaffen Brüste, hob sie hoch, ließ sie fallen, strich mit der Hand über den hohlen und dennoch ge­wölbten Leib, sah die blauen verzweigten Adern an ihren Schenkeln und beschloss, wieder ins Bett zu gehn. Sie wandte sich um, und ihr Blick stieß erschrocken auf das geöffnete Aug’ ihres Mannes. »Was schaust du?« rief sie. Er ant­wortete nicht. Es war, als gehörte das offene Auge nicht ihm, denn er selbst schlief noch. Un­abhängig von ihm hatte es sich geöffnet. Selb­stständig neugierig war es geworden. Das Weiße des Auges schien weißer als gewöhnlich. Die Pupille war winzig. Das Auge erinnerte Deborah an einen vereisten See mit einem schwarzen Punkt darinnen. Es konnte kaum eine Minute offen gewesen sein, aber Deborah hielt diese Mi­nute für ein Jahrzehnt. Mendels Auge schloss sich wieder. Er atmete ruhig weiter, er schlief, ohne Zweifel. Ein fernes Trillern von Millionen Ler­chen erhob sich draußen, über dem Haus, un­ter den Himmeln. Schon drang die anbrechende Hitze des jungen Tages in den morgendlich ver­dunkelten Raum. Bald musste die Uhr sechs Schläge schlagen, die Stunde, in der Mendel Singer aufzustehen pflegte. Deborah rührte sich nicht. Sie blieb stehen, wo sie gestanden war, als sie sich wieder dem Bett zugewandt hatte, den Spiegel im Rücken. Nie hatte sie so stehend gelauscht, ohne Zweck, ohne Not, ohne Neugier, ohne Lust. Sie wartete auf gar nichts. Aber es schien ihr, dass sie auf etwas Besonders warten müsste. Alle ihre Sinne waren wach wie nie, und noch ein paar unbekannte, neue Sinne waren er­wacht, zur Unterstützung der alten. Sie sah, hörte, fühlte tausendfach. Und gar nichts ge­schah. Nur ein Sommermorgen brach an, nur Lerchen trillerten in unerreichbarer Ferne, nur Sonnenstrahlen zwängten sich mit heißer Gewalt durch die Ritzen der Läden, und die breiten Schatten an den Rändern der Möbelstücke wur­den schmäler und schmäler, und die Uhr tickte und holte zu sechs Schlägen aus, und der Mann atmete. Lautlos lagen die Kinder in der Ecke, neben dem Herd, Deborah sichtbar, aber weit, wie in einem andern Raum. Gar nichts geschah. Dennoch schien Unendliches geschehen zu wol­len. Die Uhr schlug, wie eine Erlösung. Mendel Singer erwachte, setzte sich gerade im Bett auf und starrte verwundert auf seine Frau. »Warum bist du nicht im Bett?« fragte er und rieb sich die Augen. Er hustete und spuckte aus. Gar nichts an seinen Worten und an seinem Gehaben verriet, dass sein linkes Auge offen gewesen war und selbstständig geschaut hatte. Vielleicht wusste er nichts mehr, vielleicht hatte sich Deborah ge­täuscht.

 

Seit diesem Tage hörte die Lust auf zwischen Mendel Singer und seiner Frau. Wie zwei Men­schen gleichen Geschlechts gingen sie schlafen, durchschliefen sie die Nächte, erwachten sie des Morgens. Sie schämten sich voreinander und schwiegen, wie in den ersten Tagen ihrer Ehe.

Die Scham stand am Beginn ihrer Lust und am Ende ihrer Lust stand sie auch. Dann war auch sie überwunden. Sie redeten wie­der, ihre Augen wichen nicht mehr einander aus, im gleichen Rhythmus alterten ihre Gesichter und ihre Leiber, wie Gesichter und Leiber von Zwillingen. Der Sommer war träge und schweren Atems und arm an Regen. Tür und Fenster stan­den offen. Die Kinder waren selten zu Haus. Draußen wuchsen sie schnell, von der Sonne befruchtet.

Sogar Menuchim wuchs. Seine Beine blieben zwar gekrümmt, aber sie wurden ohne Zweifel länger. Auch sein Oberkörper streckte sich. Plötz­lich, eines Morgens, stieß er einen nie gehörten schrillen Schrei aus. Dann blieb er still. Eine Weile später sagte er, klar und vernehmlich: »Mama.«

Deborah stürzte sich auf ihn, und aus ihren Au­gen, die lange schon trocken gewesen waren, flossen die Tränen, heiß, stark, groß, salzig, schmerzlich und süß. »Sag: Mama!« »Mama«, wiederholte der Kleine. Ein Dutzend Mal wie­derholte er das Wort. Hundertmal wiederholte es Deborah. Nicht vergeblich waren ihre Bitten geblieben. Menuchim sprach. Und dieses eine Wort der Missgeburt war erhaben wie eine Offen­barung, mächtig wie ein Donner, warm wie die Liebe, gnädig wie der Himmel, weit wie die Erde, fruchtbar wie ein Acker, süß wie eine süße Frucht. Es war mehr als die Gesundheit der ge­sunden Kinder. Es bedeutete, dass Menuchim stark und groß, weise und gütig werden sollte, wie die Worte des Segens gelautet hatten. Allerdings: Noch andere verständliche Laute ka­men nicht mehr aus Menuchims Kehle. Lange Zeit bedeutete dieses eine Wort, das er nach so schrecklichem Schweigen zustande gebracht hatte, Essen und Trinken, Schlafen und Lieben, Lust und Schmerz, Himmel und Erde. Obwohl er nur dieses Wort bei jeder Gelegenheit sagte, erschien er seiner Mutter Deborah beredt wie ein Prediger und reich an Ausdruck wie ein Dichter. Sie ver­stand jedes Wort, das sich in dem einen verbarg. Sie vernachlässigte die älteren Kinder. Sie wandte sich von ihnen ab. Sie hatte nur einen Sohn, den einzigen Sohn: Menuchim.

III

Vielleicht brauchen Segen eine längere Zeit zu ihrer Erfüllung als Flüche. Zehn Jahre waren ver­gangen, seitdem Menuchim sein erstes und ein­ziges Wort ausgesprochen hatte. Er konnte immer noch kein anderes sagen. Manchmal, wenn Deborah mit ihrem kranken Sohn allein im Hause war, schob sie den Riegel vor, setzte sich neben Menuchim auf den Boden und sah dem Kleinen starr ins Angesicht. Sie er­innerte sich an den fürchterlichen Tag im Som­mer, an dem die Gräfin vor der Kirche vorge­fahren war. Deborah sieht das offene Portal der Kirche. Ein goldener Glanz von tausend Kerzen, von bunten, lichtumkränzten Bildern, von drei Geistlichen im Ornat, die tief und fern am Altar stehn, mit schwarzen Bärten und weißen schwebenden Händen, dringt in den weißbesonnten, staubigen Platz. Deborah ist im dritten Monat, Menuchim regt sich in ihrem Leib, die kleine zarte Mirjam hält sie fest an der Hand. Auf einmal erhebt sich Geschrei. Es übertönt den Gesang der Beter in der Kirche. Man hört das schnalzende Getrappel der Pferde, eine Staub­wolke wirbelt auf, die dunkelblaue Equipage der Gräfin hält vor der Kirche. Die Bauernkinder ju­beln. Die Bettler und Bettlerinnen auf den Stufen humpeln der Kalesche entgegen, um der Gräfin die Hände zu küssen. Auf einmal reißt sich Mir­jam los. Im Nu ist sie verschwunden. Deborah zittert, sie friert, mitten in der Hitze. Wo ist Mirjam? Sie fragt jedes Bauernkind. Die Gräfin ist ausgestiegen. Deborah tritt ganz nah an die Kalesche. Der Kutscher mit den silbernen Knöp­fen in der dunkelblauen Livree sitzt so hoch, dass er alles übersehen kann. »Haben Sie die kleine Schwarze laufen gesehen?« fragt Deborah, den Kopf emporgereckt, die Augen geblendet vom Glanz der Sonne und des Livrierten. Der Kut­scher zeigt mit seiner weißbehandschuhten Lin­ken in die Kirche. Da hinein ist Mirjam gelaufen. Deborah überlegt einen Augenblick, dann stürzt sie sich in die Kirche, hinein in den goldenen Glanz, in den vollen Gesang, in das Brausen der Orgel. Im Eingang steht Mirjam. Deborah er­greift das Kind, schleppt es auf den Platz, rennt die heißen weißglühenden Stufen hinunter, flüchtet wie vor einem Brand. Sie will das Kind schlagen, aber sie hat Angst. Sie rennt, das Kind hinter sich herziehend, in eine Gasse. Nun ist sie ruhiger. »Du darfst dem Vater nichts davon erzählen«, keucht sie. »Hörst du, Mirjam?«

Seit diesem Tage weiß Deborah, dass ein Un­glück im Anzug ist. Ein Unglück trägt sie im Schoß. Sie weiß es und schweigt. Sie schiebt den Riegel wieder zurück, es klopft an der Tür, Mendel ist da.

Früh ergraut ist sein Bart. Früh verwelkt waren auch Angesicht, Körper und Hände Deborahs. Stark und langsam wie ein Bär war der älteste Sohn Jonas, schlau und hurtig wie ein Fuchs der jüngere Schemarjah, kokett und gedanken­los wie eine Gazelle die Schwester Mirjam. So wie sie durch die Gassen huschte, Botengänge zu besorgen, schlank und schmal, ein schimmern­der Schatten, ein braunes Gesicht, ein großer roter Mund, ein goldgelber Schal, unter dem Kinn in zwei wehende Flügel geknotet, und die zwei alten Augen mitten in der braunen Jugend des Angesichts, so fiel sie in die Blickfelder der Offiziere von der Garnison und blieb haften in ihren sorglosen, lustsüchtigen Köpfen. Mancher stellte ihr manchmal nach. Nichts anderes nahm sie von ihren Jägern zur Kenntnis, als was sie durch die äußeren Tore der Sinne gerade nach­schicken konnte: ein silbernes Klirren und Ras­seln von Sporen und Wehr, einen verwehenden Duft von Pomade und Rasierseife, einen knalligen Schimmer von goldenen Knöpfen, silbernen Bor­ten und blutroten Riemen aus Juchten. Es war wenig, es war genug. Gleich hinter den äußeren Toren ihrer Sinne lauerte die Neugier in Mirjam, die Schwester der Jugend, die Künderin der Lust. In einer süßen und heißen Furcht floh das Mädchen vor seinen Verfolgern. Nur, um den schmerzlichen erregenden Genuss der Furcht auszukosten, floh es durch mehr Gassen, viele Minuten länger. Es flüchtete auf Umwegen. Nur um wieder fliehen zu können, ging Mirjam häu­figer, als nötig war, aus dem Haus. An den Straßenecken hielt sie ein und warf Blicke zurück, Lockspeise den Jägern. Es waren Mirjams einzige Genüsse. Selbst wenn jemand vorhanden gewesen wäre, der sie verstanden hätte, ihr Mund wäre verschlossen geblieben. Denn die Genüsse sind stärker, solange sie geheim bleiben. Noch wusste Mirjam nicht, in welch drohende Beziehung sie zu der fremden und schrecklichen Welt des Militärs treten sollte und wie schwer die Schicksale waren, die sich bereits zu sammeln begannen über den Häuptern Mendel Singers, seiner Frau und seiner Kinder. Denn Jonas und Schemarjah waren schon in dem Alter, in dem sie nach dem Gesetz zu den Soldaten sollten und nach der Tradition ihrer Väter sich vor dem Dienst retten müssten. Andern Jünglingen hatte ein gnädiger und vorsorglicher Gott ein körper­liches Gebrechen mitgegeben, das sie wenig be­hinderte und vor dem Bösen beschützte. Manche waren einäugig, manche hinkten, der hatte einen Leistenbruch, jener zuckte ohne Grund mit den Armen und Beinen, einige hatten schwache Lun­gen, andere schwache Herzen, einer hörte schlecht und ein anderer stotterte und ein dritter hatte ganz einfach eine allgemeine Körperschwäche. In der Familie Mendel Singers aber schien es, als hätte der kleine Menuchim die ganze Anzahl menschlicher Qualen auf sich genommen, die sonst vielleicht eine gütige Natur sachte auf alle Mitglieder verteilt hätte. Mendels ältere Söhne waren gesund, kein Fehler konnte an ihrem Kör­per entdeckt werden, und sie müssten anfangen, sich zu plagen, zu fasten und schwarzen Kaffee zu trinken um wenigstens auf eine vorüber­gehende Herzschwäche zu hoffen, obwohl der Krieg gegen Japan schon beendet war. Und also begannen ihre Plagen. Sie aßen nicht, sie schliefen nicht, sie torkelten schwach und zitternd durch Tage und Nächte. Ihre Augen waren gerötet und geschwollen, ihre Hälse mager und ihre Köpfe schwer. Deborah liebte sie wieder. Für die älteren Söhne zu beten, pilgerte sie noch einmal zum Friedhof. Diesmal betete sie um eine Krankheit für Jonas und Schemarjah, wie sie früher um die Gesundheit Menuchims gefleht hatte. Das Militär erhob sich vor ihrem beküm­merten Aug’ wie ein schwerer Berg aus glattem Eisen und klirrender Marter. Leichen sah sie, lauter Leichen. Hoch und schimmernd, die ge­spornten Füße im roten Blut, saß der Zar und wartete auf das Opfer ihrer Söhne. Sie gingen ins Manöver, schon dies allein war ihr der größte Schrecken, an einen neuen Krieg dachte sie nicht einmal. Sie zürnte ihrem Mann. Mendel Singer, was war er? Ein Lehrer, ein dummer Lehrer dummer Kinder. Sie hatte anderes im Sinn ge­habt, als sie noch ein Mädchen gewesen war. Mendel Singer indessen trug nicht leichter am Kummer als seine Frau. Am Sabbat in der Synagoge, wenn das gesetzlich vorgeschriebene Gebet für den Zaren abgehalten wurde, dachte Mendel an die nächste Zukunft seiner Söhne. Schon sah er sie in der verhassten Drillichuniform frischer Rekruten. Sie aßen Schweinefleisch und wurden von Offizieren mit der Reitpeitsche ge­schlagen. Sie trugen Gewehre und Bajonette. Er seufzte oft ohne erdenklichen Grund, mitten im Beten, mitten im Unterricht, mitten im Schwei­gen. Sogar Fremde sahen ihn bekümmert an. Nach seinem kranken Sohn hatte ihn niemals jemand gefragt, aber nach seinen gesunden Söhnen erkundigten sich alle. Am sechsundzwanzigsten März, endlich, fuhren die beiden Brüder nach Targi. Sie zogen beide das Los. Beide waren tadellos und gesund. Beide wurden genommen.

Noch einen Sommer durften sie zu Hause ver­bringen. Im Herbst sollten sie einrücken. An einem Mittwoch waren sie Soldaten geworden. Am Sonntag kehrten sie heim.

Am Sonntag kehrten sie heim, mit Freikarten des Staates ausgerüstet. Schon reisten sie auf Kosten des Zaren. Viele Ihresgleichen fuhren mit ihnen. Es war ein langsamer Zug. Sie saßen auf hölzernen Bänken unter Bauern. Die Bauern sangen und waren betrunken. Alle rauchten den schwarzen Ta­bak, in dessen Rauch noch eine ferne Erinnerung an Schweiß mitduftete. Alle erzählten einander Geschichten. Jonas und Schemarjah trennten sich nicht für einen Augenblick. Es war ihre erste Reise mit der Eisenbahn. Oft tauschten sie die Plätze. Jeder von ihnen wollte ein wenig am Fenster sitzen und in die Landschaft sehn. Ungeheuer weit erschien Schemarjah die Welt. Flach war sie in Jonas’ Augen, sie langweilte ihn. Der Zug fuhr glatt durch das flache Land, wie ein Schlitten über Schnee. Die Felder lagen in den Fenstern. Die bunten Bäuerinnen wink­ten. Wo sie in Gruppen auftauchten, antwortete ihnen im Waggon ein dröhnendes Geheul der Bauern. Schwarz, schüchtern und bekümmert saßen die zwei Juden unter ihnen, in die Ecke gedrängt vom Übermut der Trunkenen. »Ich möchte ein Bauer sein«, sagte plötzlich Jonas.

»Ich nicht«, erwiderte Schemarjah. »Ich möchte ein Bauer sein«, wiederholte Jo­nas, »ich möchte betrunken sein und mit den Mädchen da schlafen.« »Ich will sein, was ich bin«, sagte Schemarjah, »ein Jude wie mein Vater Mendel Singer, kein Soldat und nüchtern.«

»Ich freue mich ein bisschen, dass ich Soldat werde«, sagte Jonas.

»Du wirst schon deine Freuden erleben! Ich möchte lieber ein reicher Mann sein und das Leben sehn.« »Was ist das Leben?«

»Das Leben«, erklärte Schemarjah, »ist in großen Städten zu sehn. Die Bahnen fahren mit­ten durch die Straßen, alle Läden sind so groß wie bei uns die Gendarmerie-Kaserne, und die Schaufenster sind noch größer. Ich habe An­sichtskarten gesehen. Man braucht keine Tür, um in ein Geschäft zu treten, die Fenster reichen bis zu den Füßen.« »He, warum seid ihr so betrübt?« rief plötzlich ein Bauer aus der gegenüberliegenden Ecke. Jonas und Schemarjah taten, als hörten sie ihn nicht, oder als gelte nicht ihnen seine Frage. Sich taub stellen, wenn ein Bauer sie anredete, das hatten sie im Blut. Seit tausend Jahren ging es niemals gut aus, wenn ein Bauer fragte und ein Jude antwortete.

 

»He!« sagte der Bauer und erhob sich. Jonas und Schemarjah standen gleichzeitig auf. »Ja, zu euch, Juden, hab’ ich gesprochen«, sagte der Bauer. »Habt ihr noch nichts getrunken?« »Haben schon getrunken«, sagte Schemarjah. »Ich nicht«, sagte Jonas. Der Bauer holte eine Flasche hervor, die er unter der Joppe, an der Brust, getragen hatte. Sie war warm und schlüpfrig und roch nach dem Bauern stärker als nach ihrem Inhalt. Jonas setzte sie an den Mund. Er entblößte die blutroten vollen Lip­pen, man sah zu beiden Seiten der braunen Flasche die weißen starken Zähne. Jonas trank und trank. Er spürte nicht die leichte Hand des Bruders, die ihn mahnend am Ärmel berührte. Mit beiden Händen, einem riesigen Säugling ähnlich, hielt er die Flasche. An seinen emporgereckten Ellenbogen schimmerte weißlich das Hemd durch den zerriebenen dünnen Stoff. Regelmäßig, wie ein Kolben an einer Maschine, stieg und sank sein Adamsapfel unter der Haut des Halses. Ein leises ersticktes Gurgeln grollte aus seiner Kehle. Alle sahen zu, wie der Jude trank. Jonas war fertig. Die leere Flasche fiel ihm aus den Händen und seinem Bruder Schemarjah in den Schoß. Er selbst sank ihr nach, als müsste er den gleichen Weg nehmen wie sie. Der Bauer streckte die Hand aus und erbat sich stumm die Flasche von Schemarjah wieder. Dann liebkoste er mit dem Stiefel ein wenig die breiten Schultern des schlafenden Jonas.

Sie erreichten Podworsk, hier müssten sie aus­steigen. Bis nach Jurki waren es sieben Werst, zu Fuß sollten die Brüder wandern, wer weiß, ob sie unterwegs jemand auf den Wagen nehmen würde. Alle Reisenden halfen den schweren Jonas auf­richten. Als er draußen stand, wurde er wieder nüchtern.

Sie wanderten. Es war Nacht. Den Mond ahnten sie hinter milchigem Gewölk. Auf den Schnee­feldern dunkelten einzelne unregelmäßig konturierte Erdflecken wie Kratermünder. Der Frühling schien aus dem Wald einherzuwehn. Jonas und Schemarjah gingen schnell auf einem schma­len Weg. Sie hörten das zarte Knistern der dünnen spröden Eishülle unter ihren Stiefeln. Ihre wei­ßen rundlichen Bündel trugen sie geschultert an Stöcken. Einige Male versuchte Schemarjah, ein Gespräch mit seinem Bruder anzufangen. Jonas antwortete nicht. Er schämte sich, weil er ge­trunken hatte und hingefallen war wie ein Bauer. An den Stellen, an denen der Pfad so schmal war, dass beide Brüder nicht nebeneinander gehen konnten, ließ Jonas dem Jüngern den Vortritt. Am liebsten hätte er Schemarjah vor sich hergehen lassen. Wo der Weg wieder breiter wurde, ver­langsamte er den Schritt, in der Hoffnung, Sche­marjah würde weitergehen, ohne auf den Bruder zu warten. Aber es war, als fürchtete der Jüngere, den Ältern zu verlieren. Seitdem er gesehen hatte, dass Jonas betrunken sein konnte, traute er ihm nicht mehr, zweifelte er an des Ältern Ver­nunft, fühlte er sich für den Ältern verantwort­lich. Jonas erriet, was sein Bruder empfand. Ein großer törichter Zorn kochte in seinem Herzen. »Lächerlich ist Schemarjah«, dachte Jonas. »Wie ein Gespenst ist er dünn, den Stock kann er nicht einmal halten, jedes Mal schultert er ihn wieder, das Bündel wird noch in den Dreck fallen.« Bei der Vorstellung, dass Schermarjahs weißes Bündel vom glatten Stock in den schwarzen Dreck der Straße fallen könnte, lachte Jonas laut auf. »Was lachst du?«, fragte Schemarjah. »Über dich!« ant­wortete Jonas. »Ich hätte mehr Recht, über dich zu lachen«, sagte Schemarjah. Wieder schwiegen sie. Schwarz wuchs ihnen der Tannenwald ent­gegen. Aus ihm, nicht aus ihnen selbst, schien die Schweigsamkeit zu kommen. Von Zeit zu Zeit erhob sich ein Wind aus willkürlicher Himmels­richtung, ein heimatloser Windstoß. Ein Weiden­busch regte sich im Schlaf, Zweige knackten dürr, die Wolken liefen hell über den Himmel. »Jetzt sind wir doch Soldaten!« sagte auf einmal Sche­marjah. »Ganz richtig«, sagte Jonas, »was waren wir denn sonst? Wir haben keinen Beruf. Sollen wir Lehrer werden wie unser Vater?« »Besser als Soldat sein!« sagte Schemarjah. »Ich könnte ein Kaufmann werden und in die Welt gehen!« »Die Soldaten sind auch Welt und ich kann kein Kaufmann sein«, meinte Jonas. »Du bist betrunken!« »Ich bin nüchtern, wie Du. Ich kann trinken und nüchtern sein. Ich kann trinken und nüchtern sein. Ich kann ein Soldat sein und die Welt sehn. Ich möchte ein Bauer sein. Das sag’ ich dir – und ich bin nicht betrunken ...«

Schemarjah zuckte mit den Schultern. Sie gingen weiter. Gegen Morgen hörten sie die Hähne krähn aus entfernten Gehöften. »Das wird Jurki sein«, sagte Schemarjah. »Nein, es ist Bytók!« sagte Jonas.

»Meinetwegen Bytók«, sagte Schemarjah. Eine Fuhre klapperte und rasselte hinter der nächsten Biegung des Weges. Der Morgen war fahl, wie die Nacht gewesen war. Kein Unter­schied zwischen Mond und Sonne. Schnee fing an zu fallen, weicher warmer Schnee. Raben flo­gen auf und krächzten.

»Sieh, die Vögel«, sagte Schemarjah; nur als Vorwand, um den Bruder zu versöhnen. »Raben sind das!« sagte Jonas. »Vögel!« ahmte er höhnisch nach. »Meinetwegen!« sagte Schemarjah: »Raben!« Es war wirklich Bytók. Noch eine Stunde, sie kamen nach Jurki. Noch drei Stunden, und sie waren zu Haus.

Es schneite dichter und weicher, je weiter der Tag fortschritt, als käme der Schnee von der ansteigenden Sonne. Nach einigen Minuten war das ganze Land weiß. Auch die einzelnen Weiden am Weg und die verstreuten Birkengruppen zwi­schen den Feldern weiß, weiß, weiß. Nur die zwei jungen schreitenden Juden waren schwarz. Auch sie überschüttete der Schnee, aber auf ihren Rücken schien er schneller zu schmelzen. Ihre langen schwarzen Röcke flatterten. Die Schöße pochten mit hartem regelmäßigem Schlag gegen die Schäfte der hohen Lederstiefel. Je dichter es schneite, desto schneller gingen sie. Bauern, die ihnen entgegenkamen, gingen ganz langsam, mit eingeknickten Knien, sie wurden weiß, auf ihren breiten Schultern lag der Schnee, wie auf dicken Ästen, schwer und leicht zugleich, vertraut mit dem Schnee, gingen sie in ihm einher, wie in einer Heimat. Manchmal blieben sie stehn und sahen sich nach den zwei schwarzen Männern um, wie nach ungewohnten Erscheinungen, obwohl ihnen der Anblick von Juden nicht fremd war. Atemlos langten die Brüder zu Hause an, schon fing es an zu dämmern. Sie hörten von Weitem den Singsang der lernenden Kinder. Er kam ihnen entgegen, ein Mutterlaut, ein Vaterwort, ihre ganze Kindheit trug er ihnen entgegen, alles bedeutete und enthielt er, was sie seit der Stunde der Geburt geschaut, vernommen, gerochen und gefühlt hatten: der Singsang der lernenden Kin­der. Er enthielt den Geruch der heißen und wür­zigen Speisen, den schwarzweißen Schimmer, der von Bart und Angesicht des Vaters ausging, den Widerhall der mütterlichen Seufzer und der Wim­mertöne Menuchims, des betenden Geflüsters Mendel Singers am Abend, Millionen unnenn­barer regelmäßiger und besonderer Ereignisse. Beide Brüder nahmen also mit den gleichen Re­gungen die Melodie auf, die ihnen durch den Schnee entgegenwehte, während sie sich dem väterlichen Hause näherten. In gleichem Rhyth­mus schlugen ihre Herzen. Die Tür flog vor ihnen auf, durchs Fenster hatte sie ihre Mutter Deborah schon lange kommen sehn. »Wir sind genommen!« sagte Jonas ohne Gruß.

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